Was ist der „Ruf“? oder Wie findet man seine Berufung?

Jeder Mensch hat die Wahl sich zu fragen, was er mit seinem Leben anfangen will – welchen Sinn die eigene Existenz haben soll. Wir haben die Wahl, uns Ziele von anderen vorgeben zu lassen und scheinbaren „Notwendigkeiten“ nachzujagen oder uns selbst zu fragen, was wir wirklich wollen.

Dieses "In-Frage-stellen" der eigenen Ziele und Werte bedarf Mut, denn es gibt keine Garantie dafür, dass wir eine befriedigende Antwort finden. Nietzsche würde vielleicht sagen, dass wir in dieser Situation vor einem Abgrund stehen und dort in die schrecklich, ehrfurchtgebietende Tiefe unserer Seele blicken.

Da es weder eine bekannte Methode noch einen ausgetretenen Pfad gibt, der uns von dort aus den Weg weist, müssen wir selbst entscheiden, wie es weitergehen soll. Aber welcher Stimme sollen wir folgen – nach welchen Kriterien entscheiden – welchen Weg einschlagen?

Wie findet man seine Berufung

In diesem Kontext will ich ein Phänomen beschreiben, das ich selbst den "Ruf" nenne. Eine Stimme von uns selbst an uns selbst, die gehört werden will. Was das ist und wie man es von "gewöhnlichen" Gedanken unterscheidet, soll im Folgenden im Fokus der Betrachtung liegen.

Was bedeutet "Ruf"?

Wenn wir uns fragen, was normalerweise die Triebkraft unserer Handlungen und Entscheidungen ist, kommen wir nicht selten auf "fremdbestimmte" Motive. Die Welt ist ein ständiger Lieferant an Sinneseindrücken, Notwendigkeiten, Sachzwängen, Ungerechtigkeiten usw., die sich uns als Handlungsbedarf aufdrängen. Ebenso andere Menschen, die Erwartungen und Verbindlichkeiten an uns herantragen, die erfüllt werden sollen.

Allein aufgrund der Fülle der Erwartungen und Ansprüche, ist es schwer, sich nicht im Kreislauf der Notwendigkeiten und Besorgungen zu verlieren. Heidegger beschreibt diese Art der "Entfremdung von sich selbst" wie folgt:

"Das Dasein verläßt sich im alltäglichen Besorgen auf die durch das "Man" ausgewiesenen Wege. Es "hört" auf die durch das Man angebotenen Möglichkeiten. Damit überhört es sich jedoch selbst. Erst der Ruf durchbricht das Hinhören auf das Man."

Der Ruf ist also nicht das Gerede, die Vorstellungen oder Werte des "Man", sondern die eigene, innere Stimme des Daseins, der es um ihr eigenes Sein geht. In diesem Sinne ist der Begriff "Ruf" nicht im allgemeinen Wortsinne gemeint (z. B. als Reputation / Ansehen), sondern als eine Möglichkeit einer Zwiesprache mit sich selbst.

Der Ruf ist nicht immer sogleich als konkrete Stimme oder Botschaft vernehmbar. Nicht selten sind die Vorboten der Zweifel, das Innehalten oder eine innere Leere – d. h. eine Stille, die als Drang aufsteigt, aus dem Kreislauf des "Man" herauszutreten. Ein Schritt weg von dem "Ich muss", hin zur Möglichkeit eines "Ich will".

Die Quelle des "Rufes" entspringt dem natürlichen Drang des Menschen, das eigene Sein in den Mittelpunkt zu stellen, denn wir nehmen die Welt nur in einem Bewusstsein wahr – einer Perspektive, die uns unsere Welt erschließt. Heidegger beschreibt diese innere Triebkraft als Dasein, dem es in seinem Sein, um sein Sein geht.

Es ist eine gesunde Form des Egoismus, der nicht gegen Andere, sondern auf das eigene Wohl hin gerichtet ist. Ähnlich der Erkenntnis, dass man sich zuerst selbst lieben muss, bevor man fähig ist, andere zu lieben. Eine Sehnsucht selbst "ganz zu werden", einen inneren Frieden zu finden, der nicht nur die eigene Seele heilt, sondern der auch der Welt und Anderen – also allen – zugutekommt.

Dieses ureigenste Bedürfniss unseres Selbst können wir weder vergessen, noch ihm entfliehen. Wir können den Ruf des Selbst nur übertönen, indem wir dem allgegenwärtigen Gebrabbel des Man beständig unsere Aufmerksamkeit schenken. Denn die eigenen Intentionen, Wünsche, Bedürfnisse usw. sind grundsätzlich immer gegenwärtig. Um sie wahrzunehmen, wir müssen nur lernen, auf uns selbst zu hören.

Die Stille ist nur der Anfang, da sie überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, etwas zu hören. Sie entsteht, wenn wir das ständige Gebrabbel des Man in den eigenen Gedanken zur Ruhe bringen. In dieser Stille kann sich der Ruf als Stimme, Bild, Gefühl, Traum oder Vision usw. formen und uns so ins Bewusstsein dringen. Nicht selten wird das konkrete Vernehmen des Rufes oft mit starken Emotionen begleitet, die anzeigen, wie sehr uns dieses Thema unter die Haut geht.

Was ist der Ruf

Aus meiner Erfahrung heraus kann ich sagen, dass sich meine innere Stimme zu konkreten Problemen oder Situationen äußert – z. B. der Beziehung zu einer Person / Gruppe – einer bestimmte Verhaltensweise von mir etc. Damit erhalte ich im Einzelfall zwar nur Puzzlestücke zu meiner "Gesamtsituation", aber mit der Zeit kommen immer mehr Einzelteile zusammen, die später eine Art "Big Picture" skizzieren / sichtbar werden lassen.

Daher finde ich es wichtig, diese Erkenntnisse und Erlebnisse festzuhalten und kontinuierlich am Thema zu bleiben. Denn der größte Feind der Selbsterkenntnis ist das Vergessen, weshalb ich ein Tagebuch empfehle, indem man seine wichtigsten Erfahrungen und Erkenntnisse archiviert.

Weiterhin betrachte ich die menschliche Entwicklung als Prozess, d. h. da sich unsere Verhaltensweisen und Lebensumstände beständig ändern, wird – wenn man den Ruf als eine Art Kommunikation mit sich selbst betrachtet – das Gespräch ebenfalls niemals enden / abgeschlossen sein. Was sich jedoch ändert, ist die Qualität der Kommunikation bzw. der aus unserer Entwicklung und Erkenntnis basierenden Lebensqualität, wenn wir lernen das zu tun, was wir wirklich wollen.

Das Ziel der durch den "Ruf" angeregten Zwiesprache mit uns selbst, ist eine Harmonisierung aller Persönlichkeitsanteile zu einer ganzheitlichen, gesunden Einheit. Oder in Pestalozzis Worten: Einer Harmonisierung von Kopf, Herz, Hand und Geist in einer Person.

Verschiedene Formen des Rufes / der Berufung

Da die obige Beschreibung vielleicht noch etwas abstrakt wirken mag, habe ich nach konkreten Beispielen gesucht, die die Idee des Rufes – oder einer daraus folgenden Berufung – in unterschiedlichen Bereichen zeigt.

In Religionen taucht die Idee des Rufes als Prophezeiung, Gebet, Orakel, Hellseherei oder Meditationsphänomen auf, wobei man meist davon ausgeht, nicht mit sich selbst, sondern einer (äußeren) höheren Autorität (wie Gott oder einem Engel) zu kommunizieren. Ob so etwas tatsächlich möglich ist und die so gewonnen "Erkenntnisse" relevant sind, ist eine Frage des Glaubens. Da als Quelle der Botschaft häufig ein höheres Wesen postuliert wird, besteht die Gefahr, dass man damit jegliche Kritik, Zweifel oder sogar den gesunden Menschenverstand als Prüfinstanz ausschließt.

Verschiedene Formen des Rufes

Bei passionierten Wissenschaftlern zeigt sich die Idee des Rufes als Wissensdrang, Neugier oder Faszination an der Welt mit dem Ziel, die Welt erklärbar zu machen. Sympathisch an der Vorgehensweise ist, dass alle Fragen erlaubt sind bzw. selbst Zweifel und Kritik, Beweisen und Widerlegen, ein konstruktiver Bestandteil des Systems ist, dem es im besten Falle darum geht, die Qualität unserer Erkenntnis stetig zu steigern.

Der Ruf als Berufung kann sich auch in der Form einer Mission zeigen. So formulierte beispielsweise Bill Gates sinngemäß seine Mission "Auf jedem Schreibtisch ein PC" oder Walt Disney "Make people happy". Die Mission wird in solchen Fällen als Lebensaufgabe gesehen, die die Welt in irgend einer Weise verbessern soll. Auch diese Form der Berufung kann die Welt ändern. Fraglich ist, ob die jeweilige Mission mit der Entwicklung als Mensch kompatibel ist. Denn leider ist die Geschichte voll mit Beispielen, in denen große Denker, Erfinder etc. sich beim Realisieren ihrer Mission zwar der Menschheit geholfen, aber sich selbst ruiniert haben.

In der Psychologie taucht die Idee des Rufes als Interaktion / Kommunikation des Bewusstseins mit dem Unterbewussten auf. Man geht heute davon aus, dass der Großteil unserer Handlungen und Entscheidungen nicht bewusst getroffen werden, d. h. es eine ständige Interaktion zwischen bewussten und unterbewussten Denken gibt. Was hinter dem Begriff "Unterbewusst" wirklich steht, kann bis heute niemand sicher sagen. Aber man kennt heute schon viele Beispiele, wie man unterbewusste Kommunikation erkennen kann – z. B. Träume, somatische Marker, Körpersprache (z. B. Mikroexpressionen der Gesichtsmuskeln), Gefühle, Stimmung und vieles mehr.

Interessant ist hier die Frage, ob eine gesunde Psyche fähig sein muss, bewusste und unterbewusste Intentionen zu harmonisieren, um sich nicht "an sich selbst zu scheitern", d. h. Selbstreflexion (bzw. eine Zwiesprache mit sich selbst) Grundbedingungen sind, um sich psychisch ganzheitlich als Mensch entwickeln zu können.

Wie findet man seinen Ruf

In der Philosophie war man lange Zeit bestrebt, dass "Wesen des Menschen" zu erkennen, es zu definieren und somit alle wichtigen Fragen des Lebens beantworten zu können. Denn, wenn man weiß, was der "wahren Natur des Menschen entspricht" – "den innersten Kern ausmacht" – könnte man damit auch ableiten, wie der Mensch zu sich selbst findet, was er machen und hoffen kann – was er tun soll. Der Ruf könnte hier dem Motto folgen "Mensch erkenne dich selbst" als eine Art Vision, Antworten auf die wichtigsten Fragen unserer Existenz zu finden.

Sicher könnte man diese Liste noch mit vielen weiteren Beispielen ergänzen. An dieser Stelle ist mir nur wichtig zu zeigen, dass die oben skizzierte Idee des Rufes viele Kleider tragen kann.

Wozu ist eine "Zwiesprache mit uns selbst" wichtig?

Der Wunsch mit sich selbst und der Welt im Einklang zu stehen, gehört für mich zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Dem Phänomen, das ich hier als "Ruf" bezeichne, könnte man noch viele andere Namen geben z. B.: Selbstreflexion – innere Stimme / Dialog – Kommunikation mit dem Unterbewussten – Stimme des Herzens – Ruf des Gewissens (nach Heidegger) usw. Wie wir es nennen ist im Grunde egal, solange man das Prinzip dahinter beachtet.

Es geht darum, dass wir uns selbst fragen, was wir wollen, damit ein selbstbestimmtes Leben überhaupt möglich wird. Dieses regelmäßige Hinterfragen und Bewusstmachen der eigenen Situation und Motive, soll der Entfremdung von uns selbst entgegenwirken. Es ist nicht nötig solange zu warten, bis unsere Lebensituation aus den Fugen gerät, unseren Bedürfnissen und Werte soweit widerspricht, dass wir sie als Krise erleben.

Zwiesprache mit uns selbst

Wir haben in jeder Sekunde des Lebens die Wahl, proaktiv zu Werke zu gehen und uns im positiven Sinne zu fragen, wie und was wir verbessern wollen. Denn oftmals sind es die kleinen Dinge – unreflektierte Gewohnheiten, unbedachte Entscheidungen, liebloser Umgang miteinander usw., die man direkt angehen und so verändern kann. Der erste Schritt ist jedoch immer, sich selbst klarzumachen, um was es geht und wo man hin will.

Methoden der Zwiesprache mit sich selbst

Zum Abschluss will ich noch einige Anregungen geben, wie man praktisch mit dem Thema umgehen kann. Eine Möglichkeit sich seinem Ruf zu nähern, können Fragen sein, die man in einer ruhigen Minuten an sich selbst stellt, in dem Versuch, eine wahrhaftige Antwort zu finden:

  • Welche Tätigkeit hat dich als Kind / Jugendlicher begeistert – viel Spaß gemacht?
  • Was müsste passieren, dass du morgens begeistert aus dem Bett springst?
  • Was würdest du tun, wenn du nur noch eine Woche zu leben hast?
  • Auf was willst du in deinem Leben stolz sein?
  • Welche Umgebung regt deine Aktivität / Kreativität an?
  • Bist du zufrieden / glücklich mit dem Menschen, den du im Spiegel siehst?

Eine andere Methode wäre, sich über die Meditation in eine Stimmung zu bringen, in der wichtige Fragen hochkommen. Eine Auswahl an Techniken und Anleitungen finden Sie hier: Meditieren lernen.

Methoden der Zwiesprache mit sich selbst

Wer einen Draht zu seinen Träumen hat, kann sich mit Träumen und Traumdeutung beschäftigen. Aber auch über unseren Körper kommuniziert das Unterbewusste (über Somatische Marker) ständig mit unserem Bewusstsein.

All dies sind natürlich nur Anregungen, um sich praktisch mit dem Thema zu beschäftigen. Aber vielleicht hat Sie der Artikel ja dazu angeregt, sich (wieder einmal?) mit sich selbst zu beschäftigen, den "Ruf" zu vernehmen und so die eigene "Berufung" zu finden.

Viel Erfolg!

Tony Kühn