Wer bin ich? Wie man seine Identität erlangt / Individuum wird

Die Frage nach der eigenen Identität ist eine moderne Frage. In früheren Zeiten glaubte man, die „Identität“ eines Menschen durch seine Herkunft, seinen Beruf oder durch seine Religionszugehörigkeit bestimmen zu können. Hier finden Sie eine Reflexion darüber, was man unter Identität und Individuum verstehen könnte.

Wer bin ich?

Wenn man heute einen Menschen danach fragt „wer er ist“, bekommt man häufig den Namen, den Beruf und vielleicht noch bestimmte Hobbys zur Antwort. Der wesentliche Unterschied von damals zu heute ist lediglich, dass die Wahlmöglichkeiten – bezogen auf die Berufswahl – drastisch gestiegen sind.

Wer bin ich Identität Individuum Selbstfindung

Heute kann man sagen, dass sich fast jeder seinen Beruf – unabhängig von seinem sozialen Stand – selbst wählen kann. Es reicht meist, dass man sich für eine spezielle Tätigkeit qualifiziert.

Ist damit die Frage „wer man ist“ wirklich beantwortet? Reichen ein Name, ein Beruf und ein paar Vorlieben aus, um die Identität eines Menschen zu bestimmen?

Wer bin ich? Auf der Suche mit R. B. Brandom und Hegel

Um Antworten auf diese Fragestellungen finden zu können, habe ich mich von einem Artikel von Robert B. Brandom über Hegel (Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution) inspirieren lassen. Doch bevor ich auf Antworten eingehe, müssen zunächst noch einige grundlegende Zusammenhänge geklärt werden.

Beginnen wir mit der Frage, welche Voraussetzungen für ein Wesen gegeben sein müssen, damit es überhaupt eine Identität entwickeln kann.

Die erste Voraussetzung, die Brandom nennt, ist, dass nur „wesentlich selbstbewusste Wesen“ überhaupt eine Identität entwickeln können. Man nennt ein Wesen dann „wesentlich selbstbewusst“, wenn das, was es für sich ist, ein wesentlicher Bestandteil dessen ist, was es an sich ist.

Was sind wesentlich selbstbewusste Wesen?

Zum einen behauptet Brandom, dass nur „wesentlich selbstbewusste Wesen“ eine Identität entwickeln können, womit grob gesprochen (mindestens) ein Unterschied zwischen Menschen und Tieren eingeführt ist.

Denn „wesentlich selbstbewusst“ bedeutet, dass dieses Wesen fähig sein muss, eine Vorstellung von sich selbst – also ein Selbstbild – zu entwickeln. Zum Anderen wird die Selbst-Konzeption eines Wesens zusätzlich von dem bestimmt, was es „an sich“ – also „für andere“ oder „wirklich“ ist.

Wie kann man sich das vorstellen?

Ich kann mich selbst z. B. für einen „kreativen Webdesigner“ halten. Dieses Selbstbild wäre in Hegels Worten das, was ich „für mich bin“. Neben meinem eigenen Selbstbild gibt es jedoch noch die Perspektive der anderen: Wie erleben mich andere? – das Fremdbild, also das, was ich „an sich“ oder „wirklich“ bin.

Wozu ist dieser Unterschied relevant?

Die praktische Relevanz wird besonders in jenen Fällen deutlich, in denen sich das Fremdbild vom Selbstbild einer Person drastisch unterscheidet. So kann ich mich selbst für einen „gewissenhaften Geschäftsführer“ halten, während mich meine Mitmenschen als „waghalsigen Spekulant“ erleben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass immer beide Faktoren (Selbstbild und Fremdbild) einen starken Einfluss auf meine „Identität“ haben.

Wer bin ich Identität Ich-Bewusstsein

Selbst wenn mein Selbstbild völliger Unsinn wäre, wird das, für was ich mich halte, immer auch mein wirkliches Sein und Verhalten beeinflussen.

Mit dieser Interdependenz werden auch völlige irrwitzige Konstruktionen, wie „der verarmte Sozialhilfeempfänger, der sich für den genialen Geschäftsmann hält“ möglich.

Interessant an solch widersprüchlichen Fällen ist, dass man hier nach Brandom nicht mehr von einem „wesentlich selbstbewussten Wesen“ sprechen kann, da dieser Person ihr wirkliches Verhalten (d. h. ihr „an sich“) offensichtlich nicht bewusst ist bzw. es in der eigenen Selbstbeschreibung nicht berücksichtigt wird.

Ein Freund von mir sprach in diesem Zusammenhang einmal von Menschen, die „kritikresistent“ sind, also keine Bereitschaft zeigen, sich mit dem Feedback anderer Menschen auseinanderzusetzen bzw. es in irgendeiner Form zu berücksichtigen. In Extremfällen kann so eine Abwehrhaltung gegenüber der Meinung anderer fast autistische Züge annehmen. Die Kritik wird überhaupt nicht mehr wahrgenommen, sondern per se als „Fehler“ oder „Unsinn“ an den Kritiker zurückgegeben.

Identität: Wesentliche und austauschbare Merkmale …

Ein weiteres wichtiges Element von Identität ist, dass eine Person zwischen wesentlichen und kontingenten Merkmalen unterscheiden kann. Wesentliche Merkmale einer Selbstbeschreibung sind Merkmale, die nicht austauschbar sind – Merkmale, mit denen ich mich identifiziere – Merkmale, die ich meiner Persönlichkeit oder meinem Charakter zuordne.

Kontingente Merkmale können sich hingegen situativ verändern, spielen nur temporär bei meinen Entscheidungen eine Rolle oder sind einfach beliebig austauschbar. Was ich hier ganz allgemein mit dem Etikett „Merkmale“ belege, sind gewöhnlich persönliche Wertvorstellungen, beispielsweise ethische oder ästhetische Wertvorstellungen.

Merkmale, an denen ich meine Persönlichkeit festmache, werde ich nicht aufgeben können, ohne mich dabei gleichzeitig selbst aufzugeben. Anders formuliert handelt es sich um Überzeugungen, die mich zum Handeln motivieren. Es geht also nicht darum, was jemand sagt, sondern darum, was jemand tut. Überzeugungen, für die ich nicht bereit bin, irgendetwas zu tun, sind keine Überzeugungen.

Wer bin ich? Überzeugungen zeigen sich im faktischen Handeln

C. S. Peirce sagte einmal zu diesem Thema sinngemäß – „Überzeugungen erkennt man primär an den Handlungen eines Menschen.“ Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass mein „Wort“ und meine „Tat“ Eins sein können. Im Gegenteil – bei einem wesentlich selbstbewussten Wesen, ist es sogar notwendig, dass beides in wesentlichen Bestandteilen übereinstimmt.

Brandom formuliert diesen Sachverhalt noch etwas deutlicher. Nur wenn man bereit ist, ein Risiko oder ein Opfer auf sich zu nehmen, identifiziert man sich mit seiner Überzeugung. In letzter Konsequenz bedeutet das, die Bereitschaft sein biologisches Leben um einer Selbstverpflichtung willen zu riskieren oder zu opfern.

Ein extremes Beispiel für solch eine konsequente Selbstverpflichtung sind die Samurai in der japanischen Geschichte. Sich für den Weg des Samurai zu entscheiden, hieß immer, sich auf Umstände einzulassen, die den eigenen Tod erfordern können.

Ein Samurai war sich dessen bewusst, dass jederzeit missliche Umstände eintreten können, die einen Seppuku (rituellen Selbstmord) nötig machen. Würde er den Seppuku verweigern, wäre dies gleichbedeutend mit einem „Selbstmord an seiner Identität als Samurai“.

Nach dem damaligen Selbstverständnis würde er damit zum Ausdruck bringen, dass er niemals ein Samurai war, er sich niemals mit den Regeln des Bushido identifizierte und niemals den Weg der Samurai gegangen ist.

Solch ein Versagen zeigt ihm selbst, dass er nie die Fähigkeit hatte, seine Überzeugungen (Bushido) über seine biologischen Bedürfnisse zu stellen. Mit dieser Unfähigkeit, seinen Geist über seinen Körper zu stellen, degradiert er sich selbst zum Tier.

Denn was bleibt vom Menschen übrig, der sich wesenhaft als Samurai versteht, wenn er erkennt, dass er doch keiner ist und war? Nichts. Und dieses Nichts ist zwar noch biologisch ein federloser Zweibeiner, aber kein Mensch mehr. Friedrich Nietzsche brachte diesen dramatischen Verlust auf den Punkt: „Wenn der Mensch fällt, dann immer unter das Tier.“

Daher ist die Entscheidung, ob man sein wirkliches Leben riskiert oder eher seine Selbst-Konzeption aufgibt, eine Entscheidung darüber, wer man ist.

Identität als Fähigkeit für eigene Werte einzustehen …

Es lassen sich auch in der jüngeren Geschichte Beispiele über Menschen finden, die Risiken in Kauf genommen haben, um ihre eigene Identität zu wahren. So sind aus der Geschichte des Dritten Reiches Fälle von Ärzten bekannt, die sich weigerten, ihre jüdischen Patienten ins KZ einliefern zu lassen. Ein solches Handeln war mit ihrer Identität – Arzt zu sein – unvereinbar.

Auch hier kommt eine Risikobereitschaft – für seine Überzeugung einzustehen – deutlich zum Tragen. Diese Beispiele mögen vielleicht extrem anmuten – ich habe sie dennoch gewählt, da besonders in Extremen die Idee, die dahinter steht, klarer zum Vorschein kommt.

Sicherlich wird man heute kaum noch gezwungen sein für seine Werte sein Leben aufs Spiel zu setzen. Es ist eher realistisch, dass man aufgrund seiner moralischen oder politischen Prinzipien seine Reputation oder Arbeitsstelle riskieren muss.

Diesen Beispielen ist gemein, dass die Betreffenden aufgrund ihrer Identifikation mit ihrer Überzeugung bereit sind, negative Konsequenzen auf sich zu nehmen, um die eigene Identität nicht zu verlieren.

Ist ein Leben ohne Identität möglich?

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Umkehrschluss. Jemand, der keine Überzeugung hat, für die es sich zu kämpfen lohnt, hat nichts, mit dem er sich als Person identifizieren kann und damit auch keine Identität. Menschen haben also nicht per se eine Identität, denn eine Identität hat man nicht, man entscheidet sich für sie.

Damit sehen wir uns auch mit der Möglichkeit konfrontiert, dass wir ein Leben „ohne Identität“ führen können. Immerhin wird einem ein Wert, für den es sich zu kämpfen lohnt, nicht in die Wiege gelegt. Man muss ihn selbst suchen bzw. sich für ihn entscheiden.

Es ist sogar viel wahrscheinlicher, dass wir uns aufgrund von Bequemlichkeit, Faulheit oder Opportunismus weigern, eine Identität zuzulegen. Positiv gesehen, haben wir als Menschen die freie Wahl, der zu werden, der wir werden wollen.

Betrachtet man die Identität eines Menschen als Resultat eines Entwicklungsprozesses, lässt sich weiterhin behaupten, dass wir Menschen keine festgelegte „Natur“ haben können, die es zu ergründen gilt.

„Natur“ ist hier im Sinne eines festen ontologischen Kerns einer Person gebraucht, der wie ein „Osterei“ in unserer Psyche versteckt ist bzw. den man mit philosophischen oder magisch-mystischen Mitteln aufstöbern kann.

Wäre dem so, gäbe es keine freie Wahl der Identität – es bliebe nur die Frage, wie man das bereits vorhandene Osterei am effektivsten finden kann. Betrachte ich Identität jedoch als Resultat meines eigenen Entwicklungsprozesses, so bedeutet dies, dass ich meine Psyche selbst gestalte – d. h., es gibt nichts zu finden, sondern höchstens etwas zu „tun“.

Wenn wir uns nicht mehr an „unserer Natur“ orientieren können, was bleibt uns dann?

Wir schreiben unsere Geschichte selbst …

Uns bleibt unsere eigene Geschichte und als „geschichtliche Wesen“ sind wir nicht völlig der Kontingenz überantwortet. Analog zu einem Baum stellt unsere Geschichte unsere Wurzeln dar. Sie speist sich aus dem Nährboden, aus dem wir unsere Persönlichkeit formen können.

Wer bin ich Identität Selbstbewusstsein Selbstausdruck

Eine Geschichte zu haben, bedeutet mehr als sich lediglich an eine Vergangenheit erinnern zu können. Unsere Persönlichkeit zeigt sich nicht an irgendwelchen „abstrakten Fakten“, die in der Vergangenheit passiert sind, sondern an dem, welche Geschichte wir daraus machen.

Unsere Geschichte hat daher nichts „Objektives“ an sich, sondern ist vielmehr nur eine von vielen Möglichkeiten unser Leben zu interpretieren. Unsere Interpretation wiederum prägt unser Selbstbild wesentlich.

Damit kommen wir schon einer möglichen Antwort auf die Schliche, wie wir selbst lernen können unsere Identität zu gestalten. Denn der einfachste Weg das zu verändern, was man „an sich ist“, ist das eigene Selbstbild zu verändern, also was man „für sich ist“.

Im einfachsten Fall kann dies bedeuten, dass man bereit ist, die Kritik von anderen Menschen anzunehmen. Positiv betrachtet ist die Fähigkeit sich zu verändern auch die Fähigkeit sich als Mensch gestalten zu können. Denn nur Menschen, die sich noch entwickeln können, haben eine offene Zukunft – ihre Geschichte ist nicht zu Ende.

Ich habe mir lange überlegt, mit welchen Worten ich diesen Artikel schließen soll. So kam mir der Gedanke, dass eines der schönsten Geschenke, die man einem Autor machen kann, darin bestehen, dessen Worte an sich heranzulassen, sich von ihnen betreffen zu lassen, sie zu überdenken und ernst zu nehmen. Daher habe ich mich entschlossen diesen Artikel mit einer persönlichen Frage an Sie zu schließen:

Wofür sind Sie bereit in Ihrem Leben zu kämpfen?

Wenn Ihnen diese Frage nun etwas Wichtiges zu sagen hat, dann habe ich diesen Artikel nicht umsonst geschrieben.

Viel Spaß beim Kampf um Ihre Identität!

Anhang – Kurzbiografien der beiden Philosophen

Hier noch eine Kurzbiografie der beiden Philosophen, die namentlich im Artikel erwähnt wurden.

Robert B. Brandom (* 13. März 1950), amerikanischer Professor für Philosophie. Brandom begann Medizin, Philosophie und Kunstwissenschaften zu studieren. 1972 erhielt er den Doktortitel in Philosophie. Er zählt zu den Überfliegern unter den Gegenwartsphilosophen. Brandom war Schüler von Richard Rorty und David Lewis. 1994 wurde er mit seinem Buch „Making it Explicit“ bekannt, das bei Suhrkamp unter dem Titel „Expressive Vernunft“ erschienen ist.

Dank Brandom bog die angelsächsische Philosophie des 20. Jahrhunderts in das „Fahrwasser eines objektiven Idealismus“ ein. Als „idealistisch“ wurden bestimmte Tendenzen schon früher gekennzeichnet, doch objektiven Idealismus konnte man ihnen schwerlich nachsagen: Aus Wittgensteins sozialer Theorie des Geistes schien zu folgen, dass die Welt ein Kulturprodukt ist.

Dieser relativistischen Deutung sind diejenigen gerne gefolgt, die das Ideal objektiver Erkenntnis für einen Fetisch der Wissenschaft halten. „Wer aber an der intersubjektiven Natur des Geistes festhalten und dennoch die Objektivität der Welt nicht preisgeben will, was könnte er tun? Er könnte ein Bündnis mit Hegel schließen, indem er zu zeigen versucht, dass die Strukturen des Geistes und der Welt aus einem Stück sind.“ (M. Seel in DIE ZEIT) – Und so ist es gekommen und was Brandom damit gelang, beansprucht nicht weniger als eine philosophische „theory of everything“ zu sein.

Charles Sanders Peirce (* 10. September 1839 in Cambridge/ MA, † 19. April 1914 in Milford) war ein amerikanischer Philosoph, Mathematiker und Logiker. Er gehört neben William James und John Dewey zu den maßgeblichen Denkern des Pragmatismus. Außerdem ist er der Begründer der Semiotik (Zeichenlehre). Bertrand Russell bezeichnete ihn als den „größten amerikanischen Denker“.

Peirce’s Vater war Professor für Astronomie und Mathematik an der Harvard-Universität und der erste ernsthaft forschende Mathematiker in Amerika. Zuvor bestand Mathematik meist darin, Rechenregeln anzuwenden. Schon mit 13 Jahren begann der junge Charles die „Kritik der reinen Vernunft“ zu lesen. Er benötigte für das tägliche Studium des Werkes drei Jahre, nach denen er das Buch fast auswendig konnte.

Von 1859 bis 1891 war er mit Unterbrechungen bei der United States Coast Survey tätig. In Harvard hielt Peirce zwischen 1864 und 1870 Vorlesungen über Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie. Wichtig für Peirce war ein Zirkel junger Wissenschaftler Anfang der 1870er Jahre, der als „metaphysischer Club“ bezeichnet wurde: Hier trug er seine Grundgedanken zum Pragmatismus vor und stellte sie zur Diskussion. Das war die Grundlage für seine Aufsatzreihe zum Pragmatismus, der übrigens nichts mit dem heute verbreiteten Verständnis des „Just do it!“ gemein hat.

Tony Sperber