II. Wie wir denken | Dimensionen des Denkens

„Dimensionen des Denkens“ skizziert die Geschichte der Logik über Aristoteles bis hin zu Gotthard Günthers mehrwertiger Logik. I. Wozu Logik? II. Wie wir denken III. Die Seinsorte der Welt

Wie wir denken

Wer nicht von 3000 Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben!
Goethe

Die Schule von Athen / Wie wir denken
Die Schule von Athen, Raphael Santi (Platonische Akademie)

Aristoteles (384-322 v. Chr.) studierte an Platons Akademie und entwickelte im Laufe der Jahre eigene philosophische Auffassungen. Seine erste Philosophie handelt vom selbständig Existierenden, das zugleich unveränderlich ist. In der Topik, seiner ersten Schrift zur Logik, betrachtet Aristoteles die Logik als einen Teil der Rhetorik. Später ist für ihn die Logik nicht mehr ein Mittel, mit dem der Redner auf sein Publikum einwirken kann, sondern ein Mittel zur Erlangung von Wahrheit.

Aristoteles arbeitete als erster ein System einer formalen Logik aus. Er entdeckte Formen der Verknüpfung von Gedanken zu einem Schluss. Diese nannte er Syllogismen, Typen von Schlussfolgerungen. Sein Ausgangsprinzip ist die Widerspruchsfreiheit des Denkens: keine Aussage ist gleichzeitig wahr und falsch.

Zweiwertigkeit

Zweiwertig denken heißt in sich gegenseitig ausschließenden Gegenüberstellungen zu denken: wahr/falsch, schön/hässlich, Subjekt/Objekt, Geist/Materie, Sein/Nichts, Gott/Teufel, Mann/Frau.

tabelle zweiwertigkeit / schwarz-weiß-Denken

Wir wenden diese sich ausschließenden Gegenüberstellung in allen Bereichen unseres Lebens an. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Gröpfchen! Je nach Lebensbereich wenden wir unterschiedliche Gegenüberstellungen an und wir sind uns im Allgemeinen darüber einig, welche passend ist. Fragen wir: „Hat dir das Essen heute geschmeckt?“ und bekommen die Antwort „Es hat Spaß gemacht.“ ist diese „irgendwie unpassend“.

Normalerweise werden wir in einem Kleiderladen nach ästhetischen Kriterien beraten und fragen nicht, ob das Hemd gut oder böse ist. Im Gerichtssaal wird verhandelt, ob wir schuldig oder unschuldig sind, eine böse Tat begangen haben. Keiner fragt, ob die Tat schön oder hässlich war oder ob der Richter eine glückliche Kindheit hatte. Wie irritierend es ist, wenn der Täter die Kindheit des Kriminalbeamten analysiert oder ästhetische Kriterien für seine Tat anführt, wurde im „Schweigen der Lämmer“ verfilmt.

Die Hölle ist ein Gedanke Gottes.
Schiller

Diese Gegenüberstellungen bedingen sich gegenseitig: Ohne Gesetze ist nichts illegal, ohne Wahrheit ist kein Irrtum möglich und ohne Geist gibt es keine Materie.

Doch:
schwarz – weiß – wo bleiben die Farben?
Mann – Frau – wo bleiben die Kinder?
Zukunft – Vergangenheit – wo bleibt die Gegenwart?

Designation, Negation und Relation

Designation

Die genannten Gegenüberstellungen sind logisch betrachtet nicht ganz korrekt. Streng genommen müssten sie exakte Gegenteile darstellen: weiß und nicht-weiß. Nicht-weiß umfasst nicht nur schwarz, sondern auch alle Farben. In der zweiwertigen Logik kann nur ein Wert bezeichnet (designiert) werden. Der zweite Wert wird als nicht-bezeichneter (nicht-designierter) benötigt. Deshalb kann sich die zweiwertige Logik nur eines Themas annehmen, sie ist monothematisch.

A designiert / alles nicht-A ist bunt

Bezeichnen wir „A“, ist alles, was nicht „A“ ist „¬ A“ ( ¬ sprich: nicht) und damit nicht bezeichnet. Wäre dem nicht so, bräuchten wir einen dritten Wert, beispielsweise für die Farben. Aber die zweiwertige Logik hat, wie ihr Name schon sagt, nur zwei Werte zur Verfügung. Diese Werte sind zugleich die ontologischen Orte: Subjekt und Objekt.

Negation und Relation

Für Gegenüberstellungen oder das Gegenteil gibt es in der Logik den Begriff der Negation. Die Negation ist eine Operation, die den Übergang von einem Seinsort zum anderen beschreibt, also von A zu ¬ A. Sie ist durch die Negationstafel definiert:

nicht nicht-A ist wieder A

Durch die Negation wird aus der 1 eine 2. Die Negation des Subjekts ist das Objekt, die Negation von Ich ist ¬ Ich und die von wahr ist falsch. Die doppelte Negation führt wieder zum Ausgangspunkt zurück: Ich wird zu ¬ Ich und bei einer erneuten Negation wieder zu Ich (¬ ¬ Ich ist Ich).

A und ¬ A ist ein Umtauschverhältnis, denn durch die doppelte Negation kommt man wieder zum Ausgangspunkt zurück. „Ein Negationsverhältnis ist ein einfaches Umtauschverhältnis zweier Werte, d. h. es ist eine Relation, die den gegenseitigen Austausch zweier Werte nach bestimmten Regeln erlaubt“ (Gotthard Günther).

Subjekt Objekt Negation

Eine Relation ist eine Verbindung oder Beziehung zwischen Dingen oder zwischen einem Ding und einer Eigenschaft oder zwischen zwei Eigenschaften. A = A ist eine einfache Relation. Sie hat zwei Relationsglieder A und A und das Zeichen = ist der Relator, der die beiden Relationsglieder miteinander verbindet.

Ändert sich beim Vertauschen von Vorderglied und Hinterglied nichts, ist die Relation symmetrisch und wird als Umtauschverhältnis bezeichnet. 1 + 2 = 3 genauso wie 2 + 1 = 3 ist.

Ändert sich etwas, ist die Relation nicht-symmetrisch und wird als Ordnungsverhältnis bezeichnet. Der Bruch 1/2 ergibt etwas anderes als 2/1.

Vier Prinzipien der aristotelischen Logik

Das Prinzip der Zweiwertigkeit besagt, dass jeder Satz entweder wahr oder falsch ist, unabhängig davon, ob wir seinen Wahrheitswert feststellen können. Aus diesem Prinzip folgen weitere Prinzipien, die Aristoteles erstmals formulierte. Er schuf damit die Basis unserer klassischen Logik:

1. Der Satz der Identität: Alles ist mit sich identisch und verschieden von anderem: A = A. Ein Tisch ist ein Tisch und weder ein Sofa, noch ein Stuhl. Sagt jemand von sich, er ist ein Christ, dann ist er nicht Buddhist oder Moslem…

2. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch: von zwei sich widersprechenden Aussagen kann nur eine wahr sein: ¬ (A und ¬ A). Eine Aussage kann nicht zugleich mit ihrem Gegenteil wahr sein. Es kann nicht zugleich ein Tisch in einem Raum sein (A) und kein Tisch in einem Raum sein (¬ A). „Mein Nachbar ist Katholik“ – „Mein Nachbar ist Protestant“ – einer der beiden Aussagen muss falsch sein. Keine Aussage kann zugleich wahr und falsch sein.

3. Tertium non datur (lat., wörtlich: Ein Drittes ist nicht gegeben) oder der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: für jede Aussage A gilt: A oder ¬ A, aber kein Drittes. Von zwei Aussagen, von denen eine das vollständige Gegenteil der anderen aussagt, muss eine richtig sein. Für die Aussage „Ich bin Atheist“ gilt: Ich bin Atheist (A) oder ich bin Nicht-Atheist (¬ A). Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten besagt jedoch nicht, welchen Wahrheitswert A hat. Aussage A könnte auch lauten: „Ich bin Nicht-Atheist“ und ¬ A: „Ich bin Atheist“.

4. Der Satz vom zureichenden Grund: Alles hat seinen Grund, warum es so ist, wie es ist, auch wenn die Gründe nicht zu erkennen sind. Beispielsweise ist das Universum entstanden, weil Gott es erschaffen hat oder aus dem Urgrund Wasser (nach Thales) oder durch einen Urknall, oder wie Terry Pratchett sagt: „Im Anfang war das Nichts – und das ist dann explodiert“.

Die Zweiwertigkeit ist die Grundlage unseres Denkens seit 5000 Jahren. Deshalb dürfte es einsichtig sein, dass wir diese Logik nicht erst erlernen müssen. Wir wachsen mit ihr ganz selbstverständlich auf. Sie ist tief in unserer Kultur verankert. Keiner bestreitet, dass in einem Raum, den er betritt, entweder ein Tisch steht oder kein Tisch steht. Auch wenn wir Logik für Formalismus halten und nichts damit zu tun haben wollen, denken wir gemäß dieser Logik. Und weil wir so selbstverständlich zweiwertig denken, besteht die Gefahr das folgende genau mit dieser Brille zu lesen und damit grundlegend misszuverstehen.

Denken in Hierarchien

„Der Stammbaum des menschlichen Wissens“: Das figürlich dargestellte System der Kenntnisse des Menschen (deutsche Übersetzung von „Baum des Wissens“ zu Beginn von Band 1 der „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ von 1751, im Original Systême figuré ses connoissances humaines. Entendement. Memoire, Raison, Imagination) Quelle: Wikipedia.de

Denken in Hierarchien

Aristoteles hat Ideen entwickelt, die an Präzision, Systematik und Tiefe für Jahrhunderte Maßstäbe setzten. Ihm verdanken wir auch das erste vollständig ausgearbeitete System des Schließens, die Syllogismen. In diesem Teilbereich der Logik werden Schlüsse behandelt, notwendige Ableitungen aus vorgegebenen Prämissen.

Diese Schlüsse sind wahrheitserhaltend: wahre Prämissen führen stets zu wahren Konklusionen. Alle Syllogismen beruhen auf der Ableitung besonderer Aussagen aus allgemeinen Aussagen. Sie beruhen darauf, dass das Besondere dem Allgemeinen untergeordnet ist.

Alle Menschen sind sterblich.
Sokrates ist ein Mensch.
Also ist Sokrates sterblich.

Der umgekehrte Schluss von „Sokrates ist sterblich und ein Mensch“ zu „Alle Menschen sind sterblich“ mag uns ausreichend gerechtfertigt erscheinen. Doch wenn wir für „sterblich“ „Grieche“ einsetzen wird deutlich, dass Schlüsse vom Besonderen zum Allgemeinen eine gewisse Evidenz haben, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zutreffen, aber nicht immer wahrheitserhaltend sind.

Aristoteles bewegte ebenso die Frage nach einem letzten Prinzip. Diese Frage ist die konsequente Folge des Satzes vom zureichenden Grund. Wenn alles einen Grund hat und wir irgendwann aufhören wollen zu fragen, dann suchen wir nach einem letzten Prinzip oder einem letzten Grund.

Fassen wir die notwendige Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine zusammen mit dem letzten Grund, dann können wir formulieren: aus dem zweiwertigen Denken folgt ein Denken in Hierarchien. Das Allgemeine steht über dem Besonderen und dieses wiederum über dem Individuellen. Ganz oben steht die Wahrheit, das Ich, Gott oder ein allgemeines Prinzip.

Beispielsweise stehen bei der Klassifikation von Pflanzen oder Tieren die allgemeinsten Begriffe (Pflanze oder Tier) oben, unten stehen die Individuen, irgendwo dazwischen Säugetiere, Nagetiere etc. Wir denken und leben in Hierarchien, in unten und oben. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung.

In der Kirche hat der Papst das Sagen, bei der Arbeit wird getan, was der Chef verlangt, der General erteilt Befehle und der Beamte verweist auf seinen Vorgesetzten. Wir formulieren: das ist wahr, gut oder schön und das andere ist falsch, böse oder hässlich und klassischerweise steht das eine über dem anderen: das Wahre, Gute oder Schöne steht über dem Falschen, Bösen oder Hässlichen.

Denken in Heterarchien

Ist das Denken in Hierarchien zwingend oder nur eine Denkgewohnheit unserer Zeit? Gibt es eine Alternative? Blicken wir noch einmal ein paar tausend Jahre zurück – ins alte Ägypten. Die Ägypter lebten einen monistischen Kosmotheismus. Der Monotheismus (Judentum, Christentum, Islam) negiert andere Götter. Der Eine der Ägypter schließt hingegen die Vielen ein. Der eine höchste Gott umfasst alle anderen Götter in sich. Der ägyptische Begriff der Einheit umfasst die Vielheit.

Die typische Denkstruktur der Ägypter war das Denken in Zweiheiten. Gebrauchskultur und Monumentalkultur waren scharf getrennt voneinander. Im Göttlichen lebten sie im Gegensatz dazu: „den Einen und die Vielen“. Unserer Wahr-/Falschlogik widerspricht dies offensichtlich. Wir könnten jetzt sagen, dass die Ägypter eben prärational gedacht haben und die Widersprüche gar nicht erkannt haben.

Wir wissen jedoch auch, dass die Ägypter durchaus rational denken und rechnen konnten – ihre Pyramiden haben sie sicher nicht aus dem Bauch heraus gebaut oder pi mal Daumen errichtet. Doch es geht hier nicht darum das altägyptischen Denken zu analysieren und zu entscheiden, wie sie gedacht haben. Wir sind auch heute mit Problemen konfrontiert, die wir mit hierarchischem Denken nicht lösen können. Denn ein ähnliches Problem stellt sich beispielsweise, wenn wir „Licht“ unter die Lupe nehmen:

Licht verhält sich wie eine Welle und wie eine Korpuskel, je nach Art der Beobachtung. Die schillernden Farben einer Ölschicht oder Seifenblase lassen sich nur erklären, wenn man davon ausgeht, dass Licht eine Welle ist mit Wellenlänge, Ausbreitungsgeschwindigkeit und Amplitude. Lichtstrahlen können aber auch Elektronen aus Metalloberflächen herausschlagen. Dieser sogenannte Fotoeffekt ist eine Bestätigung für die quantenhafte Struktur des Lichts (Licht als Korpuskel oder Teilchen). Um alle physikalischen Erscheinungen, die mit Licht zusammenhängen, zu erklären, benötigen wir zwei sich widersprechende Modelle.

Widersprüchlich sind diese beiden Modelle aber nur auf der Basis einer Wahr/Falsch-Logik – wenn wir davon ausgehen, dass ein Modell das wahre ist, das andere falsch ist und es ein Drittes nicht geben kann. Doch gibt es einen zwingenden Grund daran festzuhalten?

Vase-Gesicht Heterarchie

Wir können in diesem Bild sowohl eine Vase, als auch zwei Köpfe im Profil sehen. Hier ergibt es keinen Sinn zu sagen: die Vase hat Vorrang (sie ist ja auch weiß) und die Gesichter sind untergeordnet. Beide Betrachtungsweisen können als gleich gültig, wahr, schön, wie auch immer nebeneinander stehen.

In heterarchischen Bereichen kann A vor B rangieren, B vor C und C vor A rangieren. Solche Heterarchien hat Escher viel in seinen Bildern gezeichnet: Menschen, die Treppen immer nur hinauf gehen, Wasser, das im Kreis fließt oder A ist höher als B, B ist höher als C und C ist höher als A:

heterarchische Mauer

Betrachtet man dieses Bild, merkt man gleich, dass etwas „nicht stimmt“. Unser zweiwertiges Denken kommt „durcheinander“ und an diesen Bildern wird deutlich, wie sehr wir in Hierarchien denken. In der klassischen Logik stellt dieses Bild einen groben Widerspruch dar, heterarchisch gedacht veranschaulicht es: A hat Vorrang vor B, B vor C, C vor D und D hat Vorrang vor A.

Wir können jetzt formulieren: „wahr“ muss keinen Vorrang vor „falsch“ haben. Oder A muss keinen Vorrang vor B haben. Das ist ganz hilfreich in Gesprächen. Binden wir uns beispielsweise in einem Gespräch an einen Standpunkt und halten diesen und nur diesen unseren für wahr, fällt es uns oft schwer diesen aufzugeben – zuzugestehen, dass an den Aussagen unseres Gegenübers auch „etwas Wahres dran ist“. Wir verteidigen ihn meist, solange es irgendwie geht und wenn wir ihn nicht mehr halten können, müssen wir uns dem anderen unterordnen. Außer, wenn A keinen Vorrang vor B haben muss.

Was wäre aus mir geworden, wenn ich nicht gelernt hätte, die Meinung anderer zu respektieren.
Goethe

Heterarchisches Denken ist die Alternative zu hierarchischem Denken. Mit Heterarchien können wir alte Streits über den Vorrang von Erkennen vor Wollen oder Mann vor Frau neu bedenken und sie dann beilegen. Aber das genügt noch nicht. Die zweiwertige Logik versagt und muss prinzipiell hinsichtlich komplexer Strukturen versagen:

Ein Mensch ist entweder ein Mann oder eine Frau, ein drittes Geschlecht gibt es nicht. Doch werden Menschen geboren, die sowohl männliche, wie auch weibliche Geschlechtsorgane besitzen, die Hermaphroditen. Die Natur schert sich nicht um den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, sie bringt einfach Zwitter hervor.

 

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Petra Sütterlin