III. Die Seinsorte der Welt | Dimensionen des Denkens

„Dimensionen des Denkens“ skizziert die Geschichte der Logik über Aristoteles bis hin zu Gotthard Günthers mehrwertiger Logik. II. Wie wir denken III. Die Seinsorte der Welt IV. Die proemiale Relation

Die Seinsorte der Welt

Arm in Arm mit dir, so ford’r ich mein Jahrhundert in die Schranken.
Schiller

Philosophisch ist das zweiwertige Denken dadurch gekennzeichnet, dass es von einem einheitlichen Seinszusammenhang der Welt ausgeht. Dies drückt sich in unserem Begriff von Universum aus. Und in der klassischen Logik sind ontologischer Ort und logischer Wert identisch, d. h. es wird nicht unterschieden zwischen ontologischem Ort und dessen Belegung mit einem logischen Wert. Die logische Grundlage unseres Denkens ist die Zweiwertigkeit und daraus ergeben sich zwei Seinsorte: Subjekt und Objekt.

Der Philosoph Gotthard Günther (1900 – 1984) hat die Grundlagen unseres Denkens untersucht und entwarf eine mehrwertige Logik, die über die aristotelische hinausgeht.

Um einen neuen echten Formalismus an die Stelle eines alten zu setzen, muss man vorerst ein neues ontologisches Wirklichkeitsbild besitzen. … Der umgekehrte Weg ist nicht möglich.
Gotthard Günther

Die Logik ist kein Gedankenspiel, das Logiker zu ihrem Vergnügen spielen. Sie beschreibt die Welt, wie wir sie denken und drückt dies in einer formalen Sprache aus. Der Logiker nimmt nicht einfach mal 5 Seinsorte an und prüft dann, was er damit ausdrücken kann. Ohne einen neuen Formalismus kann ein neues Weltbild nicht präzise gedacht werden.

Fantastisches hat die klassische Logik geleistet – beispielsweise basieren Computer auf der zweiwertigen Unterscheidung von 0 und 1. Doch was kennen und erleben wir und können es mit der zweiwertigen Logik nicht ausdrücken?

  • Die Dreifaltigkeit: Gott-Vater, Gott-Sohn, Gott-Heiliger-Geist
  • Eine Familie: Vater, Mutter, Kind
  • Zeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft
  • Mitmenschen
  • „Ich“

Grenzen der zweiwertigen Logik

Eine der Grenzen der zweiwertigen Logik ist, dass wir damit ein „Ich“ nicht abbilden können, denn Menschen (Ich) verändern sich ständig mit jedem Gedanken, den sie denken, mit jedem Gespräch, das sie führen. Menschen sind eben keine objektiven Identitäten. Der Satz der Identität kann diese Tatsache nicht abbilden, denn nur tote Dinge können mit sich identisch sein – jedenfalls eine Weile, dann zerfallen auch sie. Eine andere Grenze ist, dass wir keine Mitmenschen abbilden können, weil wir nur zwei Seinsorte zur Verfügung haben: Subjekt und Objekt.

Gotthard Günther geht in seiner mehrwertigen Logik von unendlich vielen Seinsorten aus, die isoliert betrachtet jeweils ein zweiwertiges System darstellen. Ein dreiwertiges System ist ein drei Stellen umfassendes Stellenwertsystem der klassischen Logik. Das bedeutet, dass sich die Zweiwertigkeit in einer Vielzahl von ontologischen Stellen abspielt, die aufeinander bezogen werden können.

Zugang zur Dreiwertigkeit

Mitmenschen sind in der zweiwertigen Logik Objekte, denn „Ich“ ist das Subjekt und folglich ist alles, was „¬ Ich“ ist Objekt. Der Begriff Kollateralschaden, ein Synonym für Begleitschaden, definiert Menschen in diesem Sinne: Abseits vom Ziel entstehende Schäden aller Art durch ungenauen oder überdimensionierten Waffeneinsatz, also sowohl Verletzte und Tote, als auch Zerstörungen, die nicht gewünscht sind (engl. collateral damage; lat. collateralis: seitlich, benachbart).

Wollen wir Mitmenschen mit Dingen gleichsetzen, genügt die zweiwertige Logik um dies abzubilden. Ebenfalls, wenn wir nicht zwischen Ich und Du unterscheiden wollen, Du mit Ich gleichsetzen und unter Objekt alle Dinge verstehen wollen. Wollen wir dagegen einem Du zugestehen, dass es aus seiner Perspektive auch ein Ich ist und Du/Ich grundsätzlich verschieden sind von Dingen und gleichzeitig nicht leugnen, dass Du und Ich verschieden sind, dann bedarf es eines erweiterten Formalismus.

Wie erleben wir Mitmenschen? Alltäglich begegnen wir Menschen und sprechen mit ihnen. Sei es auf der Straße, beim Bäcker, per E-Mail oder in Foren. Wir sprechen in unserer Muttersprache oder in einer Sprache, die alle Beteiligten verstehen. Das Gespräch mit Menschen gehört zu unserem täglichen Erleben. Jedes Gespräch findet in einer Umgebung/Umwelt statt.

“Da gibt es die Teilnehmer am Gespräch, nennen wir sie Anton und Berta, vielleicht nehmen auch noch Claudia, Detlev und andere teil. Das Gespräch findet in einer Umwelt statt. Jeder Teilnehmer produziert Mitteilungen, also z. B. Geräusche in der Umwelt, die andere als Sprache identifizieren können.
 
Es ergibt sich folgende Struktur:

  • Antons Welt: zur Welt von Anton gehören Anton, Umwelt, Berta und Mitteilungen-von-Berta.
  • Bertas Welt: zur Welt von Berta gehören Berta, Umwelt, Anton und Mitteilungen-von-Anton.

Gesprächssituation
(Das Diagramm könnte um beliebig viele Personen erweitert werden)

Anton und Berta leben in verschiedenen Umwelten. Anton kann in Bertas Augen sehen, aber nicht in seine eigenen. Bertas Mitteilungen sind für Anton Umwelt, nicht aber für Berta. Außerdem bringen sie beide ihre je eigene Vorgeschichte und ihre je eigene Lebenserfahrung, also ihre persönliche Sicht der Welt mit. Ein Wald ist für einen Förster, einen verirrten kleinen Jungen und einen Dichter – drei völlig verschiedene Umwelten. Das mag man perspektivisch noch mitdenken können, aber die Situation ist bei genauerer Betrachtung viel komplizierter.

Anton und Berta sind Ich und Du, alle weiteren Teilnehmer, Claudia, Detlev usw. auch. Die Umwelt besteht aus Objekten, nennen wir sie Es. Damit haben wir Ich, Du und Es als die zentralen Komponenten. Die Welt besteht für jeden Teilnehmer aus einem Ich, einem oder mehreren Du, deren jedes für sich wieder Ich ist, und Es.

Wir können jetzt schon sehen, dass eine zweiwertige Weltsicht nicht ausreicht. Zweiwertig müssten wir hier von der Einteilung in die Seinsorte Subjekt und Objekt ausgehen. Vom Standpunkt des Ich wären dann Du und Es Objekte. Aber es ist leicht zu sehen, dass ein Du etwas völlig anderes ist als ein Es, denn jedes Du ist für sich ein Ich, ein Es ist aber nie Du oder Ich. Wir müssen das zweiwertige Subjekt-Objekt Schema also erweitern.” (Mit freundlicher Genehmigung aus dem Privatnachlass von M.D. Eschner. Hervorhebungen wurden entfernt.)

“Jedes Einzelsubjekt begreift die Welt mit derselben [klassischen] Logik, aber es begreift sie von einer anderen Stelle im Sein. Die Folge davon ist: insofern, als alle Subjekte die gleiche Logik benutzen, sind ihre Resultate gleich, insofern aber, als die Anwendung von unterschiedlichen ontologischen Stellen her geschieht, sind ihre Resultate verschieden.” (Gotthard Günther) Dieses Zusammenspiel von Gleichheit und Verschiedenheit beschreibt Gotthard Günther in seiner mehrwertigen Logik.

Mitteilungen von Anton an Berta und umgekehrt sind mit einfachen Pfeilen dargestellt. Sie weisen alle in eine Richtung und dadurch entsteht eine Kreisbewegung, wie wir sie von Gesprächen kennen: Anton stellt Berta eine Frage, Berta beantwortet sie und fragt ihrerseits Anton, ob er die Antwort verstanden hat. Anton verneint oder bejaht dies usw.
Für jeden Gesprächsteilnehmer besteht die Welt aus Ich, Du (und alle weiteren Gesprächsteilnehmer) und Es (die Umwelt). Und jedes Du ist von sich aus gesehen wiederum ein Ich – jeder Gesprächsteilnehmer sagt von sich: Ich.

Damit sind wir über die zweiwertige Logik hinausgegangen. Zum einen kann Anton einerseits Ich (für sich) und andererseits Du (für Berta) sein. Zum anderen haben wir drei Seinsorte bestimmt: Ich, Du und Es. In der zweiwertigen Logik können wir nur zwei Seinsorte bestimmen: Subjekt und Objekt. Anton ist von sich aus gesehen Ich (Subjekt) und Berta, als auch die Umwelt sind Objekte. Zwischen Berta und dem Tisch, an dem beide sitzen, ist zweiwertig dargestellt kein wesentlicher Unterschied. Doch wer will das ernsthaft behaupten?

Drei Seinsorte

Subjektives-Subjekt = Ich
Objektives-Subjekt = Du
Objektives-Objekt = Es

Ich Es Du verteilt auf Subjekt u. Objekt

Subjekt verteilt sich jetzt auf Ich und Du und bezieht sich nicht mehr nur auf das Ich. Ebenfalls bezieht sich Objekt nicht mehr nur auf das Es, sondern ist verteilt auf Es und Du. Mit Ich, Du und Es haben wir drei ontologische Orte und benötigen damit auch einen dritten logischen Wert. Wo könnte dieser dritte Wert liegen?

3 zwischen 1 und 2

Liegt das Dritte zwischen 1 und 2? Das Du in der Mitte zwischen Subjekt (Ich) und Objekt (Es), sozusagen als Übergang oder Verbindung der beiden Werte? Die 3 können wir dann als Zwischenwert deuten: ein Mitmensch (Objektives-Subjekt) ist eben die Mitte. Objekt ist er nicht und Ich ist er auch nicht.

Ein bekanntes Beispiel für diese Darstellung ist die Fuzzy-Logik. Sie relativiert eine exakte Unterscheidung zwischen 1 und 2. Etwas ist eher wahr als falsch (1,2) oder höchstwahrscheinlich falsch (1,9). Oder zur Hälfte dies und zur anderen Hälfte das (1,5). Anton greift sich aus der Obstschale einen Apfel und beißt hinein. Damit wird aus dem Apfel nicht gleich ein ¬ Apfel. Mit der Fuzzy-Logik können wir Biss für Biss abbilden, wie aus dem Apfel allmählich ein ¬ Apfel geworden ist, wenn Anton ihn aufgegessen hat.

Anton ist sicherlich dankbar über diese Zwischenwerte, wenn er auf dem Nachhauseweg in den Aufzug steigt und der Aufzug nicht von 0 auf 100 übergangslos beschleunigt und von 100 auf 0 wieder steht. Doch hilft uns das wirklich weiter? Mit diesen Zwischen- werten können wir formulieren: Anton ist eher ein Ich, als ein Apfel. Etwas ganz anderes können wir ausdrücken, wenn wir den Rahmen der zweiwertigen Logik verlassen und die 3 separat platzieren.

3 Seinsorte

Jetzt können wir abbilden:
Ich (1), die Umwelt (2, Objekte) und Du (3, Anton).

Dreiwertigkeit

Um formal drei Seinsorte darzustellen, bedarf es einer eindeutigen Unterscheidung dieser Orte und einer Beschreibung der Beziehung, in der sie zueinander stehen. In der klassischen Logik ist der eine ontologische Ort die Negation des anderen Ortes. Die Negation ist die Operation, die den Übergang von einem Seinsort zu einem anderen beschreibt, klassisch den von A zu ¬ A. Mit Ich, Du und Es haben wir drei ontologische Orte. Wie gelangen wir vom Ich zum Du? Oder was ist die Negation des Ich? Das Du oder das Es oder beides?

2 Negationen

Wenn wir das Du als die Negation des Ich betrachten, dann blenden wir das Es aus. Beziehen wir das Es ein, dann geht der Weg vom Ich zum Es und vom Es weiter zum Du. Wir können das Du nur als Negation des Ich auffassen, wenn wir gleichzeitig die Umwelt der beiden Gesprächspartner als vermittelnde Dimension einführen. Doch wie stellen wir die Verbindung zwischen Ich und Du dar? Mit einer zweiwertigen Logik können wir dies nicht erfassen. Wir benötigen ein logisches System mit drei Werten, eine dreiwertige Logik, die formal aus drei zweiwertigen Logiken besteht. Drei logische Orte, die in sich zweiwertig sind, müssen sich logisch aufeinander beziehen können:

  1. Ich – Es (1-2)
  2. Es – Du (2-3)
  3. Ich – Du (1-3)

In der ersten Logik wird das Ich durch Es negiert, in der zweiten Logik ist das Du die Negation des Es. In der dritten Logik ist das Du die Negation des Ich. Diese Struktur kann nur durch drei aufeinander bezogene zweiwertige Logiken abgebildet werden. Erst mit der dritten Logik können wir ein System schaffen, das alle drei Werte gleichermaßen berücksichtigt.

3 Negationen

Diese Darstellung ist logisch noch nicht korrekt. Die klassische Negation ist ein Wechselspiel zwischen zwei Werten, ein dritter Wert ist ausgeschlossen. Eine Negation, die die Symmetrie und das Wechselspiel zwischen Subjekt und Objekt aufhebt, gibt es in der klassischen Logik nicht. Diese bekommt man nur, wenn man über die zweiwertige Logik hinausgeht.

Rejektion

Gotthard Günther hat in Anlehnung an Hegels zweite Negation einen Formalismus entwickelt, der dieses Wechselspiel aufhebt: die Rejektion. Die Rejektion gleicht der klassischen Negation, weil sie ebenfalls ein Umtauschverhältnis ist. Doch die Rejektion verwirft die gesamte angebotene Alternative, sie bricht aus dem Wechselspiel aus und verortet die Alternative als Ganzes neu. Sie ist deshalb von der klassischen Negation grundverschieden.

Die Unterscheidung von Subjekt-Objekt (1-2, Ich-Es) wird als Ganzes zurückgewiesen (rejiziert) und ein dritter Wert wird gewählt (3, Du). Die Rejektion tritt in der Gesprächssituation in dreierlei Formen auf:

Rejektion

  1. als Umtauschverhältnis zwischen Ich und Es, ein Ich lebt direkt in seiner Ich-Umwelt
  2. als Umtauschverhältnis zwischen Du und Es, ein Du lebt direkt in seiner Du-Umwelt
  3. als Umtauschverhältnis zwischen Ich und Du, Ich und Du können sich nur über Es aufeinander beziehen.

Ich und Du negieren sich gegenseitig, denn jeder ist für sich Subjekt (subjektives-Subjekt) und für den anderen Objekt (objektives-Subjekt). Sie negieren sich vollkommen, denn keiner kann dem anderen in den Kopf schauen, jeder kann den anderen nur von außen wahrnehmen. Verständigen könnten sich Ich und Du nur, wenn es ein drittes gibt, dem gegenüber sie sich beide in der gleichen Situation befinden – die Umwelt und/oder das Gesprächsthema.

Anton überdenkt ein Argument von Berta und stimmt ihm zu oder widerlegt es mit einem Gegenargument. Dies können wir mit der klassischen Negation abbilden (A/¬ A). Führt Anton ein Selbstgespräch, werden nur Inhalte gegen Inhalte in einem Bewusstseinsraum vertauscht, genügt die klassische Logik. Im Gespräch wird das Ich-gebundene Überdenken von Argumenten einem Du mitgeteilt. Dies erfordert einen Transfer, der durch die Rejektion möglich wird, indem die gesamte Alternative von Ich/¬ Ich zurückgewiesen wird. Der Prozess des Verneinens (Ich/¬ Ich) wird negiert.

Die Rejektion gleicht der Negation in der Hinsicht, dass sie ebenfalls ein Umtauschverhältnis konstituiert. Ich und Du negieren sich gegenseitig im Sinne eines Umtauschverhältnisses. Ich und Du stehen prinzipiell als gleichberechtigte Gesprächspartner nebeneinander (außer in hierarchischen Kommunikationen).

Andererseits ist die Negation grundverschieden von der Rejektion, insofern sie nicht mehr Bewusstseinsinhalte innerhalb eines Ich-Bewusstseins negiert (das Überdenken von Argumenten), sondern solche Bewusstseinsräume selbst in ein Umtauschverhältnis setzt. Das Ich wird im Gespräch zum Du, wenn das Argument dem Gesprächspartner mitgeteilt wird, und das Du nimmt damit die Stelle des Ich ein.

Das trans-klassische Umtauschverhältnis ist keines, das der zweiwertigen Logik entspricht. Denn dazu müssen beide Seiten symmetrisch sein. Sobald wir einen dritten logischen Ort einführen, kommen wir zu einem nicht-symmetrischen Ordnungsverhältnis (hierarchisch): wir können entweder 1 (Ich) und 2 (Es) auf der einen Seite mit 3 (Du) auf der anderen Seite tauschen (1-2 ↔ 3) oder 1 mit 2 und 3 (1 ↔ 2-3).

Dies ist ein Ordnungsverhältnis mit einem einfachen Verhältnisglied (beispielsweise 1) und einem komplexen Verhältnisglied (beispielsweise 2 und 3). Das Umtauschverhältnis der trans-klassischen Logik entspricht nicht dem der zweiwertigen Logik, es ist ein Umtauschverhältnis, das auf einem Ordnungsverhältnis basiert, ein Umtausch zwischen höherer und niederer relationaler Ordnung.

Zusammengefasst:

  • Ich und Du stehen in einem Umtauschverhältnis zueinander.
  • Umtauschverhältnisse sind symmetrisch.
  • Nur mit der Rejektion gelangen wir vom Ich zum Du.
  • Die Rejektion beschreibt ein Ordnungsverhältnis.

In welchem Verhältnis stehen Umtausch und Ordnung zueinander? Darauf gibt die proemiale Relation Antwort.

 

Nächstes Kapitel: IV. Die proemiale Relation

Petra Sütterlin