VI. Beispiel, Quellen & Literaturhinweise | Dimensionen des Denkens

„Dimensionen des Denkens“ skizziert die Geschichte der Logik über Aristoteles bis hin zu Gotthard Günthers mehrwertiger Logik. V. Polykontexturales Denken VI. Beispiel, Quellen & Literaturhinweise

(Bei-) Spiel Schach

Irreflexiv: Herbert spielt ab und an Schach und weiß, dass das Ziel darin besteht, den gegnerischen König so anzugreifen, dass er den Angriff nicht abwehren, sich nicht schützen und auch nicht ausweichen kann. Kurz: es geht darum den anderen Schachmatt zu setzen. Es geht also um gewinnen oder verlieren!

(Bei-) Spiel Schach

Reflexiv: Ab und an denkt Herbert darüber nach, ob es das einzige Ziel beim Schach ist, oder ob es dabei auch noch um etwas anderes geht. Denn schließlich gibt es ja auch Weltmeisterschaften und dabei geht es sicher um eine Menge Geld.
Herbert denkt also über die Kontextur Sieg/Niederlage nach, beispielsweise über ihre Angemessenheit oder Unangemessenheit. Schach ist schließlich ein altes Spiel, bei dem es möglicherweise um mehr oder etwas anderes geht. Dazu muss er andere mögliche Kontexturen studieren, denn Sinn ist nur aus Differenzen, d. h. aus dem Vergleich möglicher Kontexturen in Bezug auf eine ausgewählte Kontextur zu gewinnen. (Dafür eignen sich Gespräche mit anderen Menschen, denn Menschen bringen von sich aus andere Kontexturen und damit andere Interpretationen mit.)

Doppelt Reflexiv: Herbert reflektiert seine Interpretationen, die innerhalb seiner Kontextur entstanden sind mit dem Sinn dieser Kontextur (Welcher Sinn ergibt sich, wenn es um gewinnen/verlieren geht?) und reflektiert dies wiederum gegen den Sinn anderer Interpretationen die aus anderen Kontexturen, beispielsweise der wirtschaftlichen, der historischen, der ästhetischen, der philosophischen gewonnen wurden. Herbert muss den Sinn seines Weltbildes gegen den Sinn anderer Weltbilder und die daraus entstehenden Folgen gegeneinander abwägen, reflektieren. Und dann, wenn er dem Grübeln ein Ende bereiten und zur Tat schreiten will, muss er sich irgendwie entscheiden.

Gelesenes wie Gehörtes verstehen wir immer – irgendwie, irgendwas. Aber verstehen wir das Gesagte? Wörter haben keine feste Bedeutung, sie stehen immer in einem Kontext. Je nach Lebenserfahrung, sprachlicher Kompetenz, je nach dem Lauf der Jahre und Jahrhunderte haben Wörter für jeden eine andere Bedeutung. Reflektieren, Denken wollen, impliziert Risikobereitschaft, denn es ist nie abzusehen, auf welche Weise ein Gedanke, dem wir uns öffnen, in unser Leben eingreifen wird.

Leben überhaupt heißt in Gefahr sein.
Nietzsche

mehrere Kontexturen

Herbert ist Journalist und ihm wird angetragen einen Artikel (Relatum) über: „Wozu Schachspielen?“ zu schreiben. Er soll in der Zeitschrift (Relator/Relatum) „Schach-matt“ erscheinen, die auf dem Zeitschriftenmarkt (Relator) sehr beliebt ist. Er „muss“ dem Grübeln nun ein Ende bereiten und zu einem Ergebnis, zu einer Entscheidung kommen.

Zu diesem Zweck geht er in den Schachclub (Relator) seiner Heimatstadt. Dort hat er sich mit Anton (Relatum), Bruno (Relatum), Carl und Dieter verabredet, um ein Interview (Relation) zu machen. Für Anton (Relator) ist Gewinnen beim Schach das A und O (Kontextur: gewinnen/verlieren) – wenn er verliert, war es eine schlechte Partie. Bruno bestreitet dies vehement: eine Partie ist eine gute Partie, wenn sie schön gespielt wurde (Kontextur: schön/hässlich). Carl sagt: „Wozu Schachspielen? Natürlich um Geld zu verdienen, wozu sonst!?“ (irreflexiv). Dieter kann zwar verstehen, was seinen Schachkameraden wichtig ist (Transjunktion, reflexiv), doch für ihn ist nur wichtig, dass er bei einer Partie etwas Neues gelernt hat (irreflexiv).

Mattstellung der Unsterblichen Partie
Mattstellung der Unsterblichen Partie Quelle: Wikipedia.de

Herbert ist mit diesen Antworten nicht zufrieden, eher verwirrt. Er will seinen Lesern eine Antwort auf „Wozu Schachspielen?“ geben (klassische Logik). Er beschließt die Großmeister zu fragen, denn die müssen es ja schließlich wissen. Und wie es in einer Geschichte so geht, kann er ein Interview mit 5 Schachmeistern machen. Sie empfangen ihn an einem großen Tisch in einem gemütlichen Raum. Über der Eingangstür ist ein Zitat von Rosa Luxemburg eingerahmt: „Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden.“ Garry Kasparov eröffnet das Gespräch: „Ein Großmeister muss tausende Partien in seinem Kopf speichern, denn diese sind für ihn, was die Worte der Muttersprache für gewöhnliche Leute sind, oder Noten für Musiker.“ Savielly Grigorievitch Tartakower neigt nachdenklich den Kopf: „Was ist Schach? – Vielleicht ein Nichts… Eine bloße Spielerei… Was sollte es sein? – Alles, denn es gestaltet die Kunst des Kampfes zum Kampf der Kunst!“. Herbert schaltet sich ein: „Geht es im Schach nicht ums Gewinnen?“ „Im Schach gewinnt jeder. Hat man Freude am Spiel – und das ist die Hauptsache – ist auch der Verlust einer Partie kein Unglück“, antwortet David Bronstein. Alexej Shirov nickt bestätigend mit dem Kopf: „The game is far more important than the final result.“ „Man braucht nicht immer den besten Zug zu spielen: Ein Zug muss aktiv, unternehmungslustig, korrekt und schön sein.“ bestätigt David Bronstein.

Herbert ist der Antwort keinen Schritt näher gekommen – so denkt er jedenfalls. Doch Verstehen ist nicht ein Unterschied von wahr/falsch, keine festgezurrte Wahrheit. Die Antwort ist ein sich entwickelnder Weg. Reflektieren, Denken, sich mit all seinem Wissen ernst, künstlerisch und spielerisch an eine Frage heranwagen. Alle möglichen Antworten studieren, darüber sinnieren, immer wieder von vorn bis hinten. So gerät man ins Gespräch mit dem Thema, bekommt Antworten, stellt weitere Fragen, verwickelt sich in Widersprüche, genießt diese, löst Widersprüche auf und erfreut sich daran. Herberts Frage kann jeder nur für sich beantworten (trans-klassische Logik) und entsprechend seiner Antwort leben.

Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch.

Glattes Eis, ein Paradies für den, der gut zu tanzen weiß.
Nietzsche

 

Quellen

Gotthard Günther

Das Alte Ägypten

  • Stein und Zeit – Mensch und Gesellschaft im Alten Ägypten
    von Jan Assmann (ISBN 3-7705-2681-3)
  • Der Eine und die Vielen – Ägyptische Gottesvorstellungen
    von Erik Hornung (ISBN 3-534-050517)

Zum Schmökern oder Vertiefen

Petra Sütterlin