Was ist Verstehen? – Die 4 Stufen des Verstehens!

Viele haben das Bedürfnis, Männer, Frauen, Kinder oder ein bestimmtes Thema zu verstehen. Etwas oder jemanden zu verstehen ist die Grundlage jeder Kommunikation und auch die Basis jeglichen Lernens. So wichtig das Verstehen auch ist, kaum jemand weiß Antworten auf Fragen, wie „Was ist überhaupt Verstehen?“ oder „Wie kann ich feststellen, ob, wie und wie viel jemand verstanden hat?“.

Da ich als Seminarleiter in der Wissensvermittlung tätig bin, ist es für mich wichtig, anderen Menschen beim „Verstehen“ eines Themas zu helfen. Da ich immer wieder mit Missverständnissen zu tun hatte und nach Lösungen suchte, ging ich diesen Fragen nach. Meine Antworten stelle ich Ihnen hier – als Modell des „Verstehens“ – vor.

Was bedeutet Verstehen von anderen Menschen?

Auf den ersten Blick mag diese Frage eventuell banal erscheinen, aber meiner Erfahrung nach haben viele Menschen ein falsches oder unzureichendes Verständnis von dem, was Verstehen in der Kommunikation bedeutet.

Daher werde ich hier einen Vorschlag für eine Definition von „Verstehen“ machen: Einen Menschen zu verstehen heißt, dass ich die Bedeutung seiner Aussage(n) so wiedergeben kann, dass er meiner Paraphrase zustimmt.

Was ist verstehen?

Verstehen bedeutet NICHT irgendetwas im Kopf zu haben, von dem ich annehme, dass der Sprecher dies „gemeint haben könnte“. Zwischen dem, „was der Sprecher meint“ und dem, „was ich verstehe“ können Welten liegen.

Das mag selbstverständlich scheinen, aber in der Praxis beobachte ich oft, dass dieser Unterschied nicht gemacht wird. Bei Missverständnissen wird deutlich, dass sich jemand zwar irgendetwas im Kopf zusammenreimt, aber sein Gegenüber in keiner Weise verstanden hat.

Das lässt sich mit folgender Formel auf den Punkt bringen: Nur der ANDERE kann bestimmen, ob ich etwas „richtig“ verstanden habe oder nicht. Ob der Verstehensakt gelang oder nicht, zeigt sich erst durch eine gelungene Paraphrase.

Die Paraphrase wird damit zum Prüfstein, ob ich einen Inhalt „richtig“ verstanden habe. Wer sie weglässt, hat keinerlei Feedback, ob irgendetwas korrekt verstanden wurde. Konsequenterweise sollte man dann davon ausgehen, dass man den Anderen nicht (oder noch nicht) verstanden hat.

In der Praxis wird es nicht notwendig sein, das eigene Verstehen in jeder Situation zu prüfen. Bei einem Smalltalk oder Themen der alltäglichen Routinen funktionieren Absprachen in der Regel auch ohne zusätzlichen Aufwand.

Anders sieht es bei wichtigen Entscheidungen oder problematischen Themen aus, wo keine funktionierenden Routinen zur Verfügung stehen. Hier können wir dieses Modell anwenden und viele Missverständnisse und unnötige Streitereien vermeiden.

Verstehen ist also ein Prozess, bei dem ich die Weltrepräsentation eines Anderen nachvollziehe. Ob ich die Position des Anderen als richtig, wichtig, falsch etc. beurteile, ist für das Verstehen völlig belanglos.

Jemanden zu verstehen heißt also nicht, die Meinung des Anderen zu teilen. Es ist nur die Grundlage für den Aufbau einer eigenen Argumentation, die auch an die Inhalte des Gegenübers anknüpft. Ein Dissens ist damit noch nicht geklärt, aber man weiß zumindest genauer, wo die Meinungen auseinandergehen.

Verstehen ist eine zweiseitige Relation, d. h., damit ein verständigungsorientiertes Gespräch gelingen kann, müssen alle Beteiligte die Regeln befolgen. Sobald einer der Beteiligten ausbricht – d. h. beispielsweise machtorientiert kommuniziert, mit Zwang, Vorurteilen oder Vorwürfen etc. arbeitet – kann ein verständigungsorientiertes Gespräch nicht gelingen.

Verständigungsorientierte Kommunikation ist aber die Voraussetzung für jede partnerschaftliche (d. h. gleichwertige) Beziehung. Da machtorientierte Kommunikation leider allzu häufig vorkommt, sollte man sich die Freiheit bewahren, strategisch zu handeln, d. h. sich zu wehren, Methoden der „Gewaltfreien Kommunikation“ anwenden oder sich aus der sinnlosen Konfrontation zurückziehen.

Verstehen und Lernen: Die 4 Stufen des Verstehens

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Verstehens zeigt sich beim Lernen, d. h. wenn ich ein x-beliebiges, neues Thema verstehen bzw. erlernen will. Denn hier kommt es häufiger vor, dass ich kein konkretes Gegenüber habe, sondern nur bestimmte Medien (wie Bücher, Texte, Ausarbeitungen usw.), aus denen ich alles Notwendige selbst herausarbeiten muss.

Verstehen und Lernen

Hier stelle ich Ihnen eine Lernstrategie vor, die ich die 4 Stufen des Verstehens nenne. Sie soll einerseits unterschiedliche Grade des Verstehens markieren. Andererseits kann sie auch als Methode verwendet werden, sich Lerninhalte selbstständig und nachhaltig zu erarbeiten. Im Folgenden wende ich die Stufen des Verstehens beispielhaft auf das Verstehen von Texten an, da dies einfacher zu überprüfen ist. Man kann sie aber auch sinngemäß leicht auf das Verstehen anderer Menschen anwenden.

1. Stufe des Verstehens: Begriffe verstehen

In der ersten Stufe geht es darum zu verstehen, was ein Autor mit seinem Text ausdrücken will – was ER gemeint hat. Da ich ihn nicht fragen oder paraphrasieren kann, muss ich die nötigen Informationen aus dem Text selbst gewinnen.

Der erste Schritt ist, die Referenzen für zentrale Begriffe, Definitionen und Kernsätze im Text zu suchen. Ich gehe dabei schrittweise vor, d. h. unterstreiche zuerst mit einem Marker im Text alles, was ich dazu finde. Im zweiten Schritt erstelle ich eine separate Liste, in der ich alle wichtigen Begriffe, Definitionen usw. notiere.

Begriffe verstehen

Erst wenn ich die Referenzen des Autors kenne – also benennen kann, was ER z. B. unter dem Begriff XY versteht – kann ich nachvollziehen, wie er argumentiert und warum er bestimmte Schlussfolgerungen zieht.

Dabei kann ich lernen, den Autor besser zu verstehen und so ein „fremdes Weltbild“ – dessen Prämissen und Konklusionen – nachvollziehen.

Ich kann lernen, wie sich aus neuen Begriffsdefinitionen völlig neue Perspektiven gewinnen lassen, sich die Beurteilung der Welt ändert bzw. wie sich mit dieser anderen Perspektive die Welt neu, interessant oder einfach anders rekonstruieren lässt.

Ein Nebeneffekt dieser Vorarbeit ist, dass ich über eigene Referenzen nachdenke. Mich von einigen Ideen des Autors inspirieren lasse, um Begriffe in meiner Welt zu schärfen. Wer so häufiger mit Referenzen experimentiert, wird feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, bestimmte Begriffe für sich selbst zu definieren und deren Bedeutung konstant zu halten.

Man wird zudem feststellen, dass viele Menschen Begriffe gar nicht konkretisieren – sie nur sehr schwammige Vorstellung von dem haben, worüber sie sprechen. Und vielleicht auch, wie viel Unsinn und offensichtliche Fehlschlüsse so ein „Halbwissen“ produziert. Denn wer seine eigene Begriffswelt nicht versteht, kann nicht einmal brauchbare Prämissen formulieren, geschweige denn, vernünftige Schlussfolgerungen ziehen.

2. Stufe des Verstehens: Argumente im Kontext verstehen

Im zweiten Schritt geht es darum, die Puzzlesteine (oder Referenzen und Kernsätze) des Autors wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Dazu schreibe ich eine Zusammenfassung des Inhalts in eigenen Worten, um mir die Argumentation (oder das Big Picture) besser zu veranschaulichen.

Um eine Zusammenfassung überhaupt schreiben zu können, muss ich nicht nur die Begriffe, sondern auch die Argumentation und Zusammenhänge verstanden haben. Außerdem reduziere ich die Komplexität eines Inhalts auf das Wesentliche. Dies ist besonders bei umfangreichen Texten oder Argumentationen ein großer Gewinn, da ich mir eine kurze Zusammenfassung viel leichter merke, was bei einem 300 Seiten Text unmöglich ist.

Zudem lerne ich dabei das Wesentliche überhaupt zu erkennen und zu benennen. Speziell bei komplexen Themen ist dies ein großer Vorteil, da ich dabei lernen kann, wie man Komplexität so reduziert, dass das Wesentliche erhalten bleibt.

Kontext verstehen

In der Praxis habe ich es schon oft erlebt, wie sich Menschen bei komplexen Themen oder Zusammenhängen völlig überfordert fühlen. Sie gehen unstrukturiert vor und unterscheiden das Wichtige nicht vom Beiwerk.

Sie fühlen sich von der schieren Masse an Informationen überwältigt und wissen nicht, wie sie sich die ganzen Zusammenhänge merken sollen.

Wer lernt, den Kern einer Argumentation zu verstehen, kann sie in wenige und verständliche Worte verdichten. Es geht dabei darum, das Prinzip zu verstehen – nicht die tausend Beispiele, auf die man es anwenden kann.

Ein Nebeneffekt dieser Arbeit ist, dass man die Gedanken des Autors in die eigene Weltbeschreibung einfügt, indem man eigene Worte verwendet bzw. den Inhalt so ausdrückt, als würde man selbst einen solchen Zusammenhang einem anderen Menschen erklären. Das bedeutet: Erst, wenn ich den Inhalt einem anderen Menschen schlüssig erklären kann, habe ich auch selbst den Inhalt / Argumentation verstanden.

3. Stufe des Verstehens: Informationen ins eigene Weltbild einbauen

Im dritten Schritt geht es darum zu prüfen, ob die neu gewonnenen Informationen für das eigene Weltbild brauchbar sind. Denn auch wenn ich einen Autor verstanden habe, heißt dies noch lange nicht, dass ich seine Ideen und Schlussfolgerungen richtig, wichtig oder stimmig finde. Dazu schreibe ich eine weitere Ausarbeitung, eine „Kritische Würdigung“.

Mit einer kritischen Würdigung prüfe ich, welchen Wert die neuen Informationen in „meinen Weltbild“ besitzen, d. h., ich muss mich kritisch mit ihnen auseinandersetzen. An welchen Stellen kann ich dem Autor zustimmen, welche Perspektiven finde ich für mich als bereichernd bzw. was passt meiner Ansicht nach nicht zusammen.

Weltbild verstehen

Eine kritische Würdigung ist also nichts anderes als eine Reflexion darüber, wie ich die neu gewonnenen Informationen für mich selbst nutzen kann, welche Erkenntnisse ich aus dem Thema ziehe. Damit reflektiere ich mein eigenes Wissen über die Welt und kann es nach neuen Erkenntnissen verbessern – neu gestalten.

Um eine kritische Würdigung zu schreiben, muss man die Grundlagen der Argumentation beherrschen. Wenn man etwas anders beurteilt als der Autor, sollte man – für andere nachvollziehbar – seine Behauptungen begründen bzw. eigene Schlüsse erklären können.

Im Idealfall ist die kritische Würdigung dann ein durchdachtes Resümee, wie man die neuen Erkenntnisse im eigenen Leben sinnvoll nutzen kann. Damit bauen wir die Erkenntnisse des Autors (hier noch theoretisch) in unser eigenes Weltbild ein.

4. Stufe des Verstehen: Gelerntes praktisch anwenden

In der letzten Stufe geht es darum, die praktischen Auswirkungen eines neuen Modells zu verstehen und anzuwenden. Hier sind vor allem praktische Fragen relevant, wie z. B.:

  • Wie kann ich die neuen Erkenntnisse anwenden?
  • Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich durch meine Erkenntnisse?
  • Was kann ich damit tun?
  • Eröffnen sich mir neue Perspektiven?
  • Wie verändern die neuen Erkenntnisse mein Handeln / Denken / Entscheiden?
  • Wie beeinflusst mein neues Wissen andere Themen?
  • Kann ich die Erkenntnisse mit anderen Themen verknüpfen?

Das sind nur einige Beispiele, von Fragen, die man sich stellen kann.

Die Überlegung dahinter ist, dass eine Theorie nur dann von wirklichem Wert für mich ist, wenn ich sie in der Praxis anwende und eigene Erfahrungen damit mache. Denn ein Kommunikationsmodell nutzt nichts, wenn man es nur theoretisch weiß, aber praktisch, beim Lösen von Konflikten, über keinerlei Erfahrungen verfügt.

Man muss es erleben – das Modell testen – eigene Erfahrungen damit machen. Erst in dieser Phase bekommt man letztlich mit, ob ein Modell nur „überzeugend klingt“ oder sich auch in der Praxis bewährt.

Da ich mich beispielsweise viel mit Kommunikationstheorien beschäftige, zeigt sich gerade in der Umsetzung oft, wo die Schwächen von Modellen liegen und ob sie sich überhaupt für jene Situationen eignen, für die sie erfunden wurden. Die Praxis wird zum Prüfstein, in der sich die Spreu vom Weizen trennt.

Fazit

Es mag für einige Menschen mühsam klingen, auf diese Weise strukturiert vorzugehen. Mancher mag sich davor scheuen, ein Thema genau auszuarbeiten – warum so viel Zeit und Mühe aufwenden?

Hier kann ich nur aus eigener Erfahrung sagen, dass mir diese Methode beim Erarbeiten – speziell auch von komplexeren Themen – sehr geholfen hat. Denn durch die Zerlegung des Verstehensprozesses in kleinere, überschaubare Schritte, werden für mich auch schwierige Themen anschaulich und verständlich.

Außerdem gibt es noch einen interessanten Langzeiteffekt. So arbeite ich beispielsweise heute noch mit meinen Aufzeichnungen von Themen, die ich mir vor Jahrzehnten erarbeitet habe. Da man mit der Zeit Themen und Zusammenhänge vergisst, kann man seine Erinnerung durch die eigenen Aufzeichnungen in sehr kurzer Zeit wieder auffrischen. Was vorher Wochen dauerte, um zu verstehen, ist so in wenigen Stunden wieder rekonstruiert und nachhaltig im Denken verfügbar.

Natürlich sollte man sich vorher überlegen, welche Themen einen solchen Aufwand wert sind. Wenn man jedoch bestimmte Erkenntnisse eines Themas eine lange Zeit braucht und wieder verwenden will, ist diese Methode unschlagbar.

Kleiner Tipp: Dieser Text lässt sich auch auf sich selbst anwenden. Wenn Sie testen wollen, ob bzw. was genau Sie von meinen Methoden, Differenzen etc. verstanden haben und wie man sie anwenden kann, testen Sie es einfach anhand dieses Textes – wenden Sie die vier Stufen des Verstehens an!

Tipp für Lehrer: Wenn Sie wissen wollen, ob und inwieweit ein Schüler einen Lerninhalt verstanden hat, prüfen Sie, auf welcher Verstehensstufe er einen Inhalt wiedergeben kann.

Viel Erfolg beim Verstehen von anderen Menschen!

Tony Kühn