Problem Diagnose ADHS: Gefahren aus der Sicht von Kindern

Dr. Waltraut Barnowski-Geiser ist Musiktherapeutin, Kreative Leibtherapeutin/HP, Psychotherapeutin und Lehrerin. Sie arbeitet heute als Musiktherapeutin in einer Gesamtschule sowie in ihrer Praxis „KlangRaum“ in Erkelenz.

Sie leitet verschiedene therapeutische Ausbildungsgänge (u. a. Arbeit mit Kindern aus belasteten Familien) sowie den Fachbereich Kinder- und Jugendlichentherapie an der Zukunftswerkstatt „therapie kreativ“. Dort hat sie auch die wissenschaftliche Leitung des Projektes „Drachenflug“ (für Kinder psychischer oder suchterkrankter Eltern).

In ihrem Buch, das die „Innenwelten“ von hyperaktiven Kindern zeigt, kommen diese Kinder erstmals selbst zu Wort – mit überraschenden Einsichten, die zu einer unverzichtbaren Orientierungshilfe für Eltern, Lehrern und Therapeuten werden. Unser Verständnis dieser Kinder wird damit um eine entscheidende, bisher unbeachtete Dimension erweitert.

Kinder, die „nerven“ oder „auffallen“, werden heute fast automatisch mit der Diagnose AD(H)S in Verbindung gebracht, mit dramatischen Folgen. Sie werden „krankgeschrieben“ und um sie ruhig zu stellen, bekommen sie immer mehr die Psychodroge Ritalin© verschrieben.

Völlig aus dem Blick verloren wird dabei, was in diesen Kindern eigentlich vorgeht, was sie – buchstäblich – bewegt, und was die wahren Gründe für ihr Verhalten sind, das die Erwachsenen stört.

Dieses Buch beschreibt den Teufelskreis, in den ein Kind gerät, das überall aneckt und zu hören bekommt, „unerträglich“ zu sein. Und es zeigt Wege auf, wie man ihm wirklich helfen kann.

In dem folgenden Interview werde ich versuchen, die Kernpunkte des Buches mit der Autorin herauszuarbeiten.

 

Peter Schipek Frau Dr. Barnowski-Geiser – ich habe für den Titel unseres Interviews einen Satz vom 11-jährigen Felix aus Ihrem Buch gewählt. Wir stecken viele Kinder in die „ADHS-Schublade“. Ist das gesellschaftlich gesehen nicht ein trauriges Spiegelbild unserer Gesellschaft?
Waltraut Barnowski-Geiser Ich freue mich sehr, dass sie den Satz gerade dieses Jungen ausgewählt haben – eine fein-„sinnige“ Wahl, Herr Schipek. Ich erinnere mich sehr an die Arbeit mit Felix, der mich in seiner feinsinnigen Hochsensibilität mit seiner großen Klugheit, aber auch in seinem Ausmaß, allein gelassen zu sein, sehr berührt hat – all dies hatte den Stempel „ADHS“ erhalten.

Das war falsch und traurig, natürlich auch im Blick auf unsere Gesellschaft. Gesellschaft, das sind für Kinder vor allem die Menschen, die sie unmittelbar umgeben. Felix wurde im frühesten Kindesalter emotional allein gelassen von einer überforderten Mutter und einem Vater, der nur noch irgendwie mit der familiären Existenzsicherung beschäftigt war. Felix wurde schon in der Grundschule gewalttätig, hochgradig unruhig und aggressiv.

Fehlende haltende Bindungserfahrungen, fehlender Platz für seine Emotionen, etwa die Trauer über die nicht bekommene Mutterliebe, führte dazu, dass er sich nicht mehr spüren wollte, Gefühle durch Gefühllosigkeit ersetzte, seine Sinne, letztlich sich selbst nicht mehr wahrnehmen wollte und so seinen „Sinn“ verlor. Das Etikett ADHS erwies sich für Felix, wie oftmals auch für andere Kinder, als wenig hilfreich und verweist meines Erachtens in die falsche Richtung.

Felix brauchte nicht Tabletten, sondern Beziehungen und Wege, die ihm ermöglichten, sich wieder zu spüren, mit seinen Sinnen in Kontakt zu kommen, sich auszudrücken. Felix äußert, seinen Sinn darin zu finden, anderen Kindern zu helfen, wohl weil es das ist, was ihm gerade hilft. Das stimmt mich auch hoffnungsvoll, ich werte es als Votum eines kompetenten Betroffenen pro Beziehungsarbeit.

Peter Schipek Diagnose ADHS. Sehr oft wird eine Diagnose ohne eine gründliche Abklärung gestellt – oft auch durch Nicht-Fachleute. Wer sollte denn überhaupt eine Diagnose stellen und wo setzt man die Grenze zwischen „krank“ und „gesund“?
Waltraut Barnowski-Geiser Ich sehe das Problem der Diagnostik in zweierlei Hinsicht als fragwürdig, einerseits: Wer stellt die Diagnose? und andererseits: Worauf bezieht sich Diagnostik? Die Diagnose als Urteil von Außen ist zunächst das, was frag-würdig ist nach meiner Auffassung. Da werden oft schnell Kriterien abgefragt, die erfüllt sein sollen, etwa im Sinne des ICD10.

Grundlage sind dann subjektive Einschätzungen und Beobachtungen. Verschiedene Experten werden leicht zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, je nachdem, aus welchem Blickwinkel sie auf das Kind schauen. Die eigentlichen Experten, nämlich die Kinder selbst, werden tragischerweise oftmals kaum gehört, allenfalls noch ihre Eltern. Dabei sind gerade die Kinder selbst die Kompetenten für sich und für das, was sie wirklich bewegt, in Unruhe versetzt oder ablenkt.

Professionalisierte Diagnosestellung ist natürlich wünschenswert, aber diese erfordert nach meinen Erfahrungen einen deutlich breiteren Blick als es klassische Diagnosesysteme bislang hergeben. Die so wichtige Innenwelt von Kindern, ihr inneres Erleben wird tragischerweise außen vor gelassen.

Aber was bewegt die Kinder wirklich, was speist ihre Unruhe, was hat das mit ihrem konkreten Leben zu tun, welches Coping ist in diesem kindlichen Verhalten enthalten? Diagnostik muss individuelle Puzzleteile erfassen – nur der individuelle Blick wird wirkliche Hilfestellung ermöglichen.

Diagnoseraster dienen leider manchmal mehr den Bedürfnissen Erwachsener nach Sortierung, schneller Einordnung und dem Prinzip etwas abrechnungsfähig zu machen, weniger dem Kind selbst. Mein Kollege Udo Baer und ich, die wir nach dem Semnos-Konzept arbeiten, bemühen uns, das Erleben und das innen Gespürte von Kindern zu würdigen, das heißt wir arbeiten, wenn ein Kind an seiner Befindlichkeit leidet und wenn Eltern oder Lehrer es tun.

Dann sind nicht die Diagnosekriterien im Vordergrund, sondern zunächst mal die Not des Kindes oder des Systems selbst. Dies ist nicht fokussiert auf eine Unterscheidung von krank und gesund. Sondern der subjektive Maßstab der Betroffenen und des Systems, in dem sie leben – bislang sträflich vernachlässigt – wird ausdrücklich einbezogen, ebenso wie die innere Welt des Kindes.

Peter Schipek Das Kind erhält die Botschaft, es sei krank. Es definiert sich dann z.B. nicht als besonders temperamentvolles, sondern als krankes Kind. Welche Gefahren birgt denn hier eine falsche Diagnose?
Waltraut Barnowski-Geiser Natürlich neben der mit der Zuschreibung „krank“ verbundenen erhofften Hilfe, große Gefahren. Die Einsicht: „Ich bin falsch, ich bin nicht richtig, ich brauche Psychopharmaka oder Suchtmittel, um anerkannt und richtig zu sein“, bildet eine Brücke ins Leben, zwischen dem Kind und den anderen, eine soziale Verheißung, die tragisch sein kann.

Selbstvertrauen droht ersetzt zu werden durch Anpassungspillen. Diese Erfahrung kann bestimmen, wie ein Kind künftig in die Welt gehen wird, mit welchen Gefühlen es anderen Menschen begegnet und, wenn sie dauerhaft und wiederholt gemacht wird, wird diese Erfahrung doch auch neuronal verankert.

Ich habe in meiner Praxis zahlreiche Kinder erlebt, die lange Zeit medikamentös beruhigt wurden. Sie waren tatsächlich still, aber tragischerweise nicht mehr beziehungsfähig. Sie schienen mit der Pille schlichtweg verlernt zu haben, wer sie sind, was sie fühlen und wollen. Ihr innerer Ort der Bewertung schien verloren gegangen – also angepasst, aber nicht mehr vorhanden – schlimmer geht’s nimmer!

Peter Schipek Immer mehr Kindern wird Ritalin® oder ein ähnliches Medikament verabreicht. Da kann das Kind kaum umhin, zu verstehen: „Erträglich bin ich nur, wenn ich Pillen schlucke.“

Welche Therapiealternativen gibt es? Können nicht veränderte Lebensbedingungen und veränderte Beziehungen zu Menschen das Verhalten des Kindes günstig beeinflussen?

Waltraut Barnowski-Geiser Udo Baer und ich haben in unseren Arbeiten und Befragungen sehr gute Erfahrungen mit kreativen Verfahren gemacht. Eine Therapie, die über Worte hinausgeht, die Spielräume und Veränderung erfahrbar macht, eröffnet völlig neue Möglichkeiten, sich der inneren Welt der Kinder zu nähern. Nach meinen Erfahrungen sind Musiktherapie und Beziehung ein unschlagbares Duo!

Natürlich eröffnen veränderte Lebensbedingungen und Beziehungen neue Chancen – Kinder erzählen in ihrem Verhalten auch etwas über die Erfahrungen, die sie alltäglich machen. Da besuche ich, auf Einladung verzweifelter Klassenlehrer als Schultherapeutin einen Jungen während seines Klassenunterrichts, der keine Sekunde aufhört, andere Kinder anzupacken – scheinbar ist er grenzenlos und „ärgert“ andere Kinder.

Tatsächlich greift er bei einer Mutter, die psychisch erkrankt ist, alltäglich ins Leere und sucht und sucht … Die Lehrerin versucht ihn zu ignorieren – er greift nun zu aus tiefer Verzweiflung. Auch zeigte sich hier, wie so oft, dass es hilfreich ist, wenn mehrere Menschen mit den unterschiedlichen Teilsystemen der Familie arbeiten und multimodal angesetzt wird.

Dieser Junge, von dem ich gerade erzählte, brauchte neuartige Beziehungserfahrungen, mit greifbaren und präsenten Gegenübern – dies konnte zunächst die Therapeutin für ihn sein. Oftmals werden Beziehungskonflikte, wie im Beispiel eben in der Familie, aber auch in der Klasse, mit dem Lehrer zu einem Spannungspotenzial für Kinder, das sie ängstigt.

Bleiben diese Probleme unausgesprochen oder tabuisiert, versetzt es sie in höchste Erregung – sie werden sehr unruhig oder ziehen sich in sich zurück. Udo Baer und ich haben mit dem Semnoskonzept versucht, dem Individuellen und dem Würdigenden einen entsprechenden Platz zu geben. Kreative Therapie und Beziehung zeigte sich als unschlagbares Duo, das es zu nutzen gilt.

Eltern sind unersetzlich: Eltern, die den Kontaktfaden halten und sichern, haben die tägliche Chance der Veränderung. Manchmal brauchen sie darin Hilfe und Unterstützung, etwas, das sie als Kinder selber nicht erfahren haben. Eltern und Lehrer können würdigen und retten, aber auch beschämen, entwerten und vernichten. Das Kind nur als „hyperaktiv“ einzustufen, wird ihm wenig gerecht – es kann entwürdigend sein.

Peter Schipek Warum sprechen wir denn überhaupt von einem „aufmerksamkeitsgestörten“ Kind, das doch in bestimmten Situationen sehr wohl über Aufmerksamkeitsfähigkeit verfügt?
Waltraut Barnowski-Geiser Aufmerksamkeit braucht Motivation und Richtung. Mir begegnen viele Kinder, die so voll sind mit Gefühlen und belastenden Erfahrungen, dass in ihrer Bewertung, dessen, was ihnen wichtig ist, etwas ganz anderes ihre Aufmerksamkeit findet als das, was der Lehrer gerade erzählt.

Sie benötigen vielleicht dringend gerade einen Freund, sind etwa Außenseiter in der Klasse. Das ist in ihrer subjektiven Bewertung vielleicht viel wichtiger, deshalb beschäftigen sie sich mit ihrem wichtigsten Bedürfnis – da interessiert der Lehrstoff wenig. Hier gilt es zunächst, die Ursache der fehlenden Aufmerksamkeit zu finden.

Und zugleich macht mich meine langjährige Erfahrung als Lehrerin wirklich demütig. In der Einzeltherapie spielt das Phänomen der fehlenden Aufmerksamkeit oft eine untergeordnete Rolle, da sie hier gut vorhanden ist, aber in einer Klasse mit 30 Kindern fordern die Kinder ohne Aufmerksamkeit in besonderem Maße heraus.

Sie können aufmerksam sein, wenn es sie interessiert, aber 90% eines Schulalltags sind es oftmals nicht. Das führt zu massiven sozialen Problemen mit anderen Kindern und Lehrern. Ich hatte schon Kinder in der Therapie, die geweint haben: Ich halte nicht aus, wenn ich neben dem hyperaktiven x sitzen muss. Es kommen zunehmend Lehrer in Therapie, die unter unruhigen Kindern leiden.

Auch diese Kinder und ihre Lehrer wollen ernst genommen werden. Ich denke, wir können nur helfen, indem wir dem Kind mit dem Aufmerksamkeitsproblem eine ihm gerechte Struktur anbieten und andererseits aufmerksam sind, was das Kind besonders bewegt, etwa in einer Einzelförderung oder in einer Therapie. Wir müssen Raum anbieten, in dem fehlende Aufmerksamkeit nachgeholt werden kann und Platz für die kindliche Seele ist.

Peter Schipek Ist nicht die Schule ein besonderes Risiko für die kindliche Entwicklung? Die Schule möchte ja nach wie vor ein „schulgerechtes“ Kind, anstatt den Kindern eine „kindgerechte Schule“ zu bieten.

Dazu möchte ich gerne für die Leser eine Antwort haben auf die letzte Frage in Ihrem Buch: „Mein Kind kommt in die Schule, was nun?“

Waltraut Barnowski-Geiser Gut – wie werden uns immer bewegen in einem Spannungsfeld zwischen Autonomie und Sozialisation. Da braucht es viel Fingerspitzengefühl und viel guten Willen auf allen Seiten. Sowohl Eltern müssen lernen, dass ein Kind nicht völlig „Sein Ding“, wie die Schüler es sagen würden, leben kann, aber auch Lehrerinnen und Lehrer müssen Kinder endlich als Menschen mit Leib und Seele begreifen und nicht als Lernmaschinen.

Kinder wollen als individuelle Wesen geachtet sein. Beziehungsarbeit von feinfühligen Pädagogen eröffnen große Chancen – sie setzt aber voraus, das Pädagoginnen nicht nur wissen, was ADHS ist, also kognitiv ein paar Fakten über das Krankheitsbild kennen, sondern sich in Kinder wirklich einfühlen können. Erst das macht Beziehung möglich: Einfühlung und Identifikation.

Das kommt in der Lehrerausbildung bislang kaum vor. Zudem braucht es in Schulen ein Zusammenwirken von Expertenteams, Kreativtherapeuten, Sozialarbeiter. Lehrer müssen Kindern in der Schule vor Ort ein schnell eingreifendes Netzwerk der Hilfe anbieten.

Ja, Schule, was nun? Nach Schulen und Institutionen suchen, in denen Beziehung und Würdigung einen hohen Stellenwert haben, in denen spürbar wird, dass den Erziehenden Kinder wirklich am Herzen liegen. Nur in einer Schule, in der sich ein Kind wohlfühlt, kann es angemessen lernen. Und dann braucht das Kind seine Eltern nun ganz besonders, als Begleiter und als Rückenstärker, aber auch als Übersetzer seiner Probleme an Lehrerinnen.

Peter Schipek Zum Schluss unseres Gespräches noch ein Satz eines Jungen aus Ihrem Buch: „Rettet den bedrohten Ole“. Was sollen Eltern und Lehrer eines betroffenen Kindes beachten, bzw vermeiden?
Waltraut Barnowski-Geiser Mach ich es mal kurz und prägnant. Zu vermeiden – dreimal A:
  • Abstempeln
  • Allein lassen
  • Abwerten

Zu Beachten ist: Zuneigung und echtes Interesse zeigen, offene Ohren haben, besonders auch für den im Kind verborgenen Subtext, seine Innenwelt, ganz und gar da sein und immer wieder gut für sich selbst sorgen. Spannung und Druck abbauen hilft – auch den Kindern.

Peter Schipek Frau Dr. Barnowski-Geiser – herzlichen Dank für das interessante und ausführliche Gespräch.

© Peter Schipek – www.lernwelt.at

Peter Schipek