Thomas von Aquin: Über die Einheit des Verstandes gegen die Averroisten

Hier finden Sie eine kleine Einführung zu Thomas von Aquin, die verschiedene Aspekte seines Lebens, Charakters und Werkes zusammenfasst.

1. Anekdoten

Um zu illustrieren, was für ein Mensch Thomas von Aquin (1225-1274) war, trage ich im folgenden die Anekdoten über ihn aus dem Buch von Gilbert Chesterton (1874-1936) zusammen.

Thomas war der siebte Sohn von Herzog Landulf von Aquin, der zum Hofadel Friedrichs II. von Hohenstaufen gehörte. Der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war der Vetter von Thomas, Friedrich Barbarossa war sein Großonkel, Friedrich II. sein Halbvetter. Als Thomas Dominikaner wurde, steckten ihn seine Brüder in einen Turm. Um ihn von seinem Mönchsgelübde abzubringen, brachten sie eine Kurtisane zu ihm. Thomas vertrieb sie mit einem brennenden Zweig aus dem Kaminfeuer. Anschließend brannte er ein Kreuz in die Tür.

Thomas von Aquin

Nachts träumte er von zwei Engeln, die ihm einen Feuergürtel anlegten. Thomas hatte furchtbare Schmerzen und schrie, spürte aber auch riesige Kraft. Danach hatte er sein Leben lang kein sexuelles Verlangen mehr. Seine letzte Beichte soll wie die eines Fünfjährigen gewesen sein.

In Köln studierte Thomas bei Albert dem Großen, der als Doctor universalis bezeichnet wurde, aber auch als Magier galt. Der körperlich große Thomas wurde wegen seines Schweigens als stummer Ochse bezeichnet. Seine Kommilitonen hielten ihn für dumm, bis er beim Nachhilfeunterricht eine logische Lösung für eine Stelle fand, die sein Nachhilfelehrer mißverstanden hatte. Albert prophezeite: „‚Ich aber sage euch, das Brüllen dieses stummen Ochsen wird immer lauter werden, bis es die ganze Welt erfüllt'“ (S. 191). Als Albert nach Paris berufen wurde, nahm er Thomas mit.

Als König Ludwig IX. (1214-1270) Thomas an seinen Hof lud, saß er still da und wurde bald vergessen. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief: „‚Das muß die Manichäer vernichten'“ (S. 292). Alle waren entsetzt, doch Ludwig beauftragte seine Schreiber, den Ausspruch des Thomas zu notieren, damit er nicht in Vergessenheit gerate. Paris beeindruckte den Thomas übrigens nicht. Eine Handschrift von Chrysostomus, die er nicht fand, war ihm wichtiger.

Bei den über Thomas erzählten Wundergeschichten gibt Chesterton zu bedenken, daß ihn seine Feinde mit Argusaugen überwachten. Soll heißen: Chesterton hält alles für wahr.

Eine seiner Levitationen muß wegen seiner körperlichen Fülle auf einen Mönch den Eindruck gemacht haben, als schwebe eine Säule in der Luft – wie eine Wolke. Als Thomas vor einem Kruzifix aus Holz betete, soll der Gekreuzigte seine Schriften gelobt und ihm einen Wunsch freigestellt haben. Thomas sagte, er begehre nur Christus.

Nachdem Thomas etwas über die Transsubstantiation geschrieben hatte, legte er seine Abhandlung auf den Altar unter dem Kreuz. Jesus soll vom Kreuz herabgestiegen sein und Thomas gelobt haben. Das bezeichnet Chesterton allerdings als „Vision“ (S. 415). Danach soll es zu einer Levitation des Thomas gekommen sein, alles unter den Augen anderer Dominikaner.

Eine Frau soll dadurch geheilt worden sein, daß sie das Gewand des Thomas anfaßte. Auch von Jesus wird eine solche Geschichte erzählt: Eine blutflüssige Frau berührte sein Gewand von hinten, und ihre Blutung versiegte. Jesus fragte, wer ihn berührt habe, und stellte fest, daß er Kraft verloren hatte. Die Frau zitterte und warf sich vor ihm nieder. Dann gestand sie alles. Jesus schrieb die Heilung ihrem Glauben zu (vgl. Mk 5,25-34 und Lk 8,40-48).

Als es ans Sterben ging, konnte Thomas nicht mehr schreiben. Seine Werke erschienen ihm angesichts seiner Visionen wie Stroh. Er bat darum, ihm das Hohelied der Liebe vorzulesen.

Hatte er doch etwas vermißt? Oder wurde es ihm wieder gegeben, nun, da es nichts mehr zu schreiben gab? Einige Passagen: „Daß er mit seines Mundes Küssen mich küßte!“, sagt die Braut. „Ja, köstlicher als Wein sind deine Liebkosungen“ (Hld 1,2). Darauf der Bräutigam: „Schön sind deine Backen in den Schmuckgehängen, / dein Hals mit der Korallenkette!“ (Hld 1,10) Wieder die Braut: „Mir ist mein Geliebter ein Myrrhenbeutel, wird zwischen meinen Brüsten ruhen“ (Hld 1,13).

2. Charakter

Die folgenden Stellen über den Charakter des Thomas zitiere ich aus dem Buch von Martin Grabmann.

Der Dominikaner Jacobus de Cajatia sagte aus: „Ich habe den Frater Thomas als einen ganz beschaulichen Mann (hominem contemplativum) gesehen, der gänzlich vom Irdischen losgelöst und zum Himmlischen erhoben war und die Einsamkeit liebte. Denn er weilte am liebsten allein, er war von großer Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit und war sehr mäßig. Er verlangte nie besondere Speisen, sondern begnügte sich mit denen, die ihm vorgesetzt wurden, und machte von diesen überaus mäßigen Gebrauch. Er las alle Tage die heilige Messe und hörte eine zweite Messe. Danach widmete er sich ohne Muße dem Gebet, dem Studium und der schriftstellerischen Tätigkeit“ (S. 20).

Bartholomäus von Capua charakterisierte ihn so: „Fr. Thomas war immer den irdischen Dingen entrückt und hatte den Blick unablässig auf das Höhere und Himmlische gerichtet. Er war ganz rein, jungfräulich, fleckenlos. Niemand hat ein unnützes Wort aus seinem Munde gehört. Selbst bei Disputationen, bei denen die Menschen nicht selten es an Mäßigung und Selbstbeherrschung fehlen lassen, war er sanft und demütig, nie gebrauchte er stolze und hochfahrende Worte. Vom irdischen war er so losgelöst, daß er auch beim Essen die Augen zum Höheren, nach oben gerichtet hatte, und er nicht merkte, wenn Schüsseln vor ihn hingestellt oder wieder weggenommen wurden. Wenn die Brüder ihn in den Garten zur Erholung mitnahmen, da entfernte er sich, ganz in eine höhere Welt verloren, plötzlich wieder und ging auf seine Zelle“ (S. 25f).

3. Der Kampf gegen die Bettelorden

In diesem Kapitel beziehe ich mich vor allem auf den zweiten Teil der Dissertation von Franz Xaver Seppelt (1907).

Beim Kampf gegen die Bettelorden handelte es sich um eine rein politische Angelegenheit, bei der es weder um Philosophie noch um Christentum ging, sondern um Geld, Einfluß und Macht. Der Weltklerus empfand die Franziskaner und Dominikaner als Konkurrenz, die Universität Paris kämpfte um ihre Souveränität, und der Papst wollte das letzte Wort haben.

Die Gläubigen gingen lieber in die Gottesdienste der Franziskaner und Dominikaner und wollten ihr Geld lieber bei ihnen lassen. Das betraf nicht nur den Zehnten, sondern auch die Beratung älterer Frauen bei der Abfassung ihrer Testamente. Es wurde immer mehr Sitte, „sich im Ordensgewand und auf dem Friedhof einer Ordenskirche begraben zu lassen“, wodurch „den Pfarrkirchen und dem Pfarrklerus […] eine Haupteinnahmequelle verloren ging“ (S. 9).

Beim Hören der Beichte urteilten die Bettelorden milder als der Weltklerus und auferlegten geringere Bußen. Außerdem waren die Gläubigen bei einem Beichtvater, den sie nicht kannten, unbefangener.

Die Professoren waren neidisch auf ihre Kollegen aus den Bettelorden, da sie bessere Lehrerfolge zu verzeichnen hatten. Das lag daran, daß Franziskaner und Dominikaner auch nachts arbeiteten, während der Weltklerus abends gut aß und Alkohol trank. Das führte zum Entfallen der Unterrichtsstunden am folgenden Tag.

Franz Xaver Seppelt kommentiert: „Es wird sich schwer feststellen lassen, inwieweit diese boshafte Schilderung des Dominikanermönchs [Thomas von Chantimpré] im einzelnen begründet oder übertrieben ist. Indessen, das ist sicher, daß die Orden damals in der Mitte des 13. Jahrhunderts tatsächlich schon die Führung in der Wissenschaft in ihren Händen haben“ (S. 13).

Der Streit an der Universität Paris ging auch um die Zahl der Lehrstühle: Von insgesamt zwölf hatten die Bettelorden unter Papst Innozenz IV. (um 1195 – 1254) drei, die Pariser Kanoniker ebenfalls drei und der Weltklerus sechs Lehrstühle.

Nachdem Innozenz IV. die Bulle Etsi animarum gegen die Bettelorden erlassen hatte, starb er an einem Schlaganfall. Die Chronisten der Orden betrachteten das als „Strafe des Himmels für sein Verhalten gegen die Orden“, doch Seppelt meint: „Er hatte schon lange gekränkelt, aber sicher hat die Kunde von der Niederlage seines Heeres bei Foggia am 3. Dezember [1254] durch Manfred, und die Erkenntnis, daß nun der Erfolg jahrelanger Bemühungen vernichtet sei, seinen Tod [am 7. Dezember 1254] beschleunigt“ (S. 28).

Manfred (1232-1266), der uneheliche Sohn von Friedrich II., „erhielt 1250 das Fürstentum Tarent und die Statthalterschaft in Italien für seinen Halbbruder Konrad IV. [den Thronerben], für dessen Sohn Konradin er 1254 die Regentschaft übernahm“ (MEL 15/552). Innozenz IV. träumte davon, alle Staufer zu vernichten. Am 9. April 1254 bannte er Konrad IV., der am 25. Mai 1254 starb. Nun glaubte Innozenz IV., er könne das Königreich Sizilien auf eigene Faust dem Kirchenstaat einverleiben und sprach Konradin „sein Erbrecht auf Sizilien ab“ (Deschner 7/324). Doch alle andern anerkannten ihn. Manfred unterwarf sich vorübergehend dem Papst und bekam dafür ein Lehen und ein jährliches Gehalt, lief aber zum Feind über und bescherte dem päpstlichen Heer die Niederlage bei Foggia.

Nachfolger von Innozenz IV. wurde Papst Alexander IV. (gest. 1261), der den Bettelorden freundlich gegenüberstand und die Bulle seines Vorgängers aufhob. Doch der Kampf ging weiter.

Thomas von Aquin, der 1245-1248 in Paris studiert hatte und ab 1252 dort unterrichtete, trat in drei Schriften für die Dominikaner ein: Contra impugnantes Dei cultum et religionemOpusculum de perfectione vitae spiritualis und Contra doctrinam retrahentium a religione.

1256 wurde er zum Magister erhoben. „Papst Alexander IV. hatte durch sein Drängen und durch das außerordentliche Lob, das er Thomas zollte, diese frühzeitige Erhebung durchgesetzt. Thomas übernimmt nun die Leitung einer der beiden Schulen am Konvent und Universitätskolleg Saint-Jacques“ (Chenu 27).

4. Lektüretips

Beim Lesen der Werke des Thomas muß man besonders darauf achten, ob er nun die eigene Meinung oder die Meinung seiner Gegner darlegt. Die Unterscheidung ist deshalb schwierig, weil Thomas beides oft gleich überzeugend tut.

Josef Pieper weist darauf hin, daß die Lektüre theologischer Schriften nur für Gläubige sinnvoll ist. Theologie handele von Offenbarung (das sind bei Platon die Mythen, bei Thomas die Bibel), die nicht nur vernommen, sondern angenommen sein wolle. Wer „das wahrhaft Gemeinte aus der Bildrede der Mythen herauszulösen“ versuche, treibe „Theologie im strengen Sinn“ (S. 137).

Auch Thomas würde das Pieper zufolge so sehen: „vielen Heiden ist Offenbarung widerfahren – das hat Thomas viele Male ausgesprochen“ (S. 137).

Wer darüber nachdenken wolle, in welchem Verhältnis die Theologie zur Philosophie stehe, müsse akzeptieren, „daß es überhaupt Theologie gibt; das heißt, für den, der weder die Tatsache von Offenbarung anerkennt noch den Inhalt der Offenbarung als Wahrheit annimmt“, sei die Frage nach dem Verhältnis der Theologie zur Philosophie sinnlos (S. 137f).

Man könne bei der Lektüre theologischer Werke (also auch Platons!) nicht „spielerisch“ vorgehen, d.h. „zu sagen: Nehmen wir an, die Christen hätten recht, und sehen wir zu, wieweit wir damit kommen. Man […] wird des Lichtes, das von der Glaubenswahrheit her auf die Wirklichkeit fällt, nur ansichtig, wenn man im vollen Sinn glaubt, das heißt, wenn man sich mit dem Geglaubten existentiell identifiziert“ (S. 138).

Doch im vorliegenden Aufsatz behandle ich eine rein philosophische Schrift des Thomas:

4. Über die Einheit des Verstandes gegen die Averoisten

Siger von Brabant (um 1240 – zwischen 1281 und 1284) und dessen Anhänger interpretierten den Aristoteles so wie Averroes, d.h., sie machten bei ihrer Aristoteles-Interpretation „von Anfang an die völlige Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit der christlichen Offenbarung zum Prinzip“ (Pieper 120).

Das bedeutet zweierlei:

  • Siger trennte Philosophie (Vernunft) und Theologie (Glaube).
  • Siger verabsolutierte seinen Standpunkt: „diese autonom gesetzte Philosophie“ war für ihn entgegen „der seit Pythagoras geltenden Wortdefinition (‚Suche nach der Weisheit‘) […] Weisheit schlechthin, als Heilslehre“ (Pieper 121).

Der sog. lateinische Averroismus etablierte sich um 1265 in Paris. Fernand Van Steenberghen hielt diese Bezeichnung für „unzutreffend […]. Man könne, so sagt er, die Philosophie des Siger von Brabant ebensogut plotinisch wie avicennistisch wie thomistisch wie averroistisch nennen; einen ‚lateinischen Averroismus‘ habe es nur in der Phantasie von Ernest Renan gegeben“ (Pieper 120, Anm. 14).

Arthur Little charakterisierte in seinem Buch The Platonic Heritage of Thomism (Dublin 1949) die Situation an der Pariser Universität im Jahr 1268 so: „Hätte die Gruppe um Siger von Brabant ungehindert und, ohne Widerstand zu finden, weiterhin die geistige Führung behalten, dann wären die Autoritäten genötigt gewesen, die Universität Paris zu schließen“ (Zusammenfassung von Pieper, S. 121).

Pieper kommentiert: „Vielleicht ist das eine überspitzte Formulierung; aber offenbar trieb die Situation in Paris auf eine Entscheidung zu“ (S. 121).

1268 wurde Thomas „entgegen allem Brauch, zum zweiten Male an die Universität Paris geholt“ (Pieper 121). Seine Streitschrift „Über die Einheit des Verstandes gegen die Averroisten“ (De unitate intellectus contra Averroistas) entstand wahrscheinlich 1270.

Chesterton stellt den Gegensatz zwischen Thomas und den Averroisten folgendermaßen dar: Letztere postulierten zwei Wahrheiten, nämlich die Wahrheit des Glaubens und die Wahrheit der Vernunft. Thomas dagegen postulierte nur eine Wahrheit, zu der es zwei Wege gebe, nämlich den Weg des Glaubens und den Weg der Vernunft.

„Ende 1270 verurteilte der Bischof von Paris den Averroismus“ (Joachim Schickel, in: KNLL 16/530).

Siger mußte sich 1276 der kirchlichen Inquisition stellen, floh aber und bat um eine Entscheidung des Papstes, der ihn unter Hausarrest stellte. In Orvieto wurde er „in einem Wahnsinnsanfall“ (Oswald Schwemmer, in: EPhW 3/800) „von seinem eigenen Sekretär erdolcht“ (Pieper 120).

Am 7.3.1277 verurteilte der Bischof von Paris die Averroisten zum zweiten Mal, inklusive „Sätze des Thomas“ […]. Das Verurteilungsdekret ist „ein in kurzer Zeit entstandenes, unschönes Schriftstück voller Widersprüche und Ungenauigkeiten“ (Klünker 117).

Im folgenden gebe ich nur einige wesentliche Gedanken aus der Schrift des Thomas wieder.

Vorrede. Averroes behauptet, es gebe nur einen Geist, an dem alle Menschen teilhaben. Er sei vom Körper getrennt. Thomas hält dagegen, daß der Geist ein individueller, unsterblicher Teil der Seele eines jeden Menschen ist. Was Averroes behaupte, widerspreche „der Wahrheit des christlichen Glaubens“ (veritati fidei Christianae). Es verstoße „gegen die Grundsätze der Philosophie“ (philosophiae principia) und „die Glaubenslehre“ (fidei documenta, S. 22).

Thomas argumentiert „nicht anhand von Belegen des Glaubens [non per document fidei], sondern mit Hilfe der Argumente und Aussagen der Philosophen [sed per ipsorum philosophorum rationes et dicta]“, um die „Irrlehre“ (error) des Averroes zu widerlegen (S. 98).

Kapitel I: Die Lehre des Aristoteles von der Einheit des möglichen Geistes. Laut Aristoteles sind die einen Teile der Seele (die forma substantialis) untrennbar mit dem Körper verbunden, während die anderen, nämlich Geist (intellectus) und Wille (voluntas), kein spezielles Organ besitzen und auch unabhängig von ihm gedacht werden können. Der Geist ist unsterblich, die anderen Teile der Seele nicht. Durch die Seele leben wir, nehmen wir wahr, begehren wir, werden wir bewegt und denken wir. Das „‚wodurch die Seele urteilt und denkt'“, nennt Aristoteles „‚Geist'“ (intellectum, S. 29). Der Geist ist also „ein Vermögen der Seele“ (potentia animae), die Seele ist „die Wirklichkeit […] des Leibes“ (actus corporis, S. 30). Der Geist, von dem hier die Rede ist, darf nicht mit dem allgemeinen Geist des Anaxagoras verwechselt werden, der alles bewegt und beherrscht.

Kapitel II: Das Verhältnis des möglichen Geistes zum Menschen (nach anderen Peripatetikern). Nachdem Thomas die Ansichten von Themistios, Theophrast, Alexander von Aphrodisias, Avicenna und Algazel wiedergegeben hat, faßt er zusammen: „auch die Griechen und Araber urteilten, der Geist [intellectus] sei Teil oder Vermögen (potentia) bzw. Kraft (virtus) der Seele, die wiederum Form des Leibes [corporis forma] ist“ (S. 58).

Kapitel III: Argumente zum Erweis der Einheit des möglichen Geistes. Hier bringt Thomas die Begründung des Aristoteles dafür, daß der Geist kein spezielles Organ besitze: „‚weil keine leibliche Tätigkeit mit seiner [des Geistes] Tätigkeit übereinstimmt'“ (S. 59).

Doch schon in der Schrift „Über die Geistseele“ (De anima intellectiva) von Siger von Brabant heißt es: „Der Geist müsse, wenn er mit der Materie des menschlichen Leibes vereint wird, leibliche Organe besitzen (was Thomas bestreitet); die Folge davon wäre, daß […] auch der menschliche Leib denkt“ (Klünker 116).

Heutzutage assoziieren wir das Denken selbstverständlich mit dem Gehirn. Zum Beispiel meinte Karl Popper, das Ich programmiere das Gehirn wie einen Computer.

Die Argumente des Thomas gegen Averroes laufen darauf hinaus, daß letzterer nicht erklären kann, „daß dieser einzelne Mensch denkt“ (quod hic homo intelligeret, S. 62). Um das zu illustrieren, bringt Thomas den Vergleich mit einer farbigen Wand: „Wie also die Wand nicht sieht, sondern ihre Farbe gesehen wird, so würde folglich der Mensch nicht denken, sondern seine Vorstellungen würden von dem möglichen Geist gedacht werden“ (S. 63).

Kapitel IV: Widerlegung der Lehre von dem einen Geist in allen Menschen. Thomas wiederholt die Ansicht des Aristoteles: „Wie nämlich der Mensch schlechthin aus Leib und Seele besteht, so besteht auch dieser einzelne Mensch – etwa Kallias oder Sokrates – aus diesem einzelnen Leib und aus dieser einzelnen Seele. Wenn sich aber die Seelen unterscheiden und der mögliche Geist eine Kraft der Seele ist, durch die die Seele denkt, so muß der mögliche Geist der Anzahl nach verschieden sein“ (S. 75).

Wenn ein Geist für alle Menschen da wäre, wie Averroes lehrt, würde er für alle Menschen denken. Daraus würde folgen, daß sich alle Menschen für dasselbe entscheiden, wenn sie die Wahl haben. Wenn alle dasselbe denken, würde es nur einen einzigen Denkvorgang geben. Das ist offensichtlich nicht so. Deshalb ist die Ansicht des Averroes falsch.

Kapitel V: Widerlegung der Argumente gegen die Vielheit des möglichen Geistes. Die Averroisten behaupten, „es entspreche nicht der Natur des Geistes, vervielfältigt zu werden“. Doch Thomas wendet ein, es könne ja eine andere Ursache für die Vervielfältigung des Geistes geben. Zur Illustration führt er an, daß es „nicht in der Natur des Schweren“ liege, „oben zu sein“ – trotzdem kann es oben sein, etwa wenn ein Mensch (eine andere Ursache) es hochhebt (S. 87).

Die Lehre der Averroisten laufe darauf hinaus, daß Gott keine Wunder vollbringen könnte, etwa, „daß Tote auferstehen und Blinde geheilt werden“ (S. 88). Averroes mache im Prinzip aus dem einzelnen menschlichen Geist Gott und schaffe dadurch „die Vielheit der von der Materie getrennten Wesenheiten“ ab (S. 89).

Selbst wenn alle dasselbe denken, tun sie es auf verschiedene Art und Weise, meint Thomas. Jeder von uns erkennt auf seine eigene Art und denkt einen Gegenstand anders als sein Mitmensch.

„Daher denkt mein Geist eine bestimmte einzelne Wirklichkeit [oder Tätigkeit: actus], wenn er denkt, daß er denkt; wenn er dagegen das Denken schlechthin denkt, so denkt er etwas Allgemeines. Denn nicht die Einzelheit steht im Widerspruch zur Denkbarkeit, sondern das Materiellsein“ (S. 92).

Papst Benedikt XVI. kommentiert: Die Lehre von Avicenna und Averroës, nämlich „dass die Menschen nicht über eine personale Intelligenz verfügen, sondern dass es einen einzigen universalen Intellekt gebe, eine allen gemeinsame geistliche Substanz, die in allen als ‚eine‘ wirke“, bedeute „eine Entpersönlichung des Menschen“ (S. 103).

Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang an die totalitären sozialistischen und nationalsozialistischen Regimes zu denken, die nicht nur dem einzelnen Menschen die Freiheit (und häufig das Leben) nahmen, sondern auch seine Individualität (seinen Geist, seine Persönlichkeit) zerstören wollten.

© Gunthard Rudolf Heller, 2022

Literaturverzeichnis

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– Das Wort – Kommentar zum Prolog des Johannes-Evangeliums, übersetzt von Josef Pieper, hg. v. Hanns-Gregor Nissing und Berthold Wald, München 2017

– Summa contra gentiles, herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Karl Albert Karl Allgaier, Leo Dümpelmann, Paulus Engelhardt, Leo Gerken und Markus H. Wörner, Darmstadt 32009

– Über das Sein und das Wesen, deutsch-lateinische Ausgabe, übersetzt und erläutert von Rudolf Allers, Frankfurt am Main/Hamburg 1959

– Ordnung und Geheimnis – Brevier der Weltweisheit, zusammengestellt und verdeutscht von Josef Pieper, München 1946

WEBB, Dominique: Das Geheimwissen des Albertus Magnus, übersetzt von Ulla Schuler, Genf/München 1989

Gunthard Heller

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