Sinngebung oder absoluter Sinn des Lebens?

Nicht jeder ist ein „philosophischer Kopf“, nicht jeder quält
sich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Dennoch kann sicherlich jeder Mensch,
ob „philosophischer Kopf“ oder nicht, ein sinnvolles Leben führen.
Doch für den „philosophischen Kopf“ geht bei diesem Satz das
Fragen schon wieder weiter: Was ist ein „sinnvolles Leben“, und kann
ich ein solches führen, ohne den Sinn des Lebens zu wissen?

Hermann Hesse zum Sinn des Lebens …

Zeigte sich z. B. Hermann Hesse als „philosophischer Kopf“, wenn er schrieb:

„Das Leben ist sinnlos, grausam, dumm und dennoch prachtvoll – es macht
sich nicht über den Menschen lustig (denn dazu gehört Geist), aber
es kümmert sich um den Menschen nicht mehr als um den Regenwurm … Erst
dann, wenn man die ganze Scheußlichkeit der Sinnlosigkeit der Natur in
sich aufgenommen hat, kann man beginnen, sich dieser rohen Sinnlosigkeit gegenüber
zu stellen und sie zu einem Sinn zu zwingen. Es ist das Höchste, wozu der
Mensch fähig ist, und es ist das Einzige, wozu er fähig ist. Alles
andere macht das Vieh besser.“

NaturMit
diesen drastischen Worten zeigt Hermann Hesse auf jeden Fall Mut, unumwunden
auszusprechen, was er denkt, und damit seine Wahrheitsliebe, eine erste Voraussetzung
zu philosophischem Erkennen. Die zweite Voraussetzung wäre die Fähigkeit zu
logischem Denken und zu Sprachgenauigkeit, doch das Wichtigste für philosophisches
Erkennen ist die Fähigkeit, sich intuitiv ins Wesen der Schöpfung zu versenken.
Nur mit dem „inneren Auge“ läßt sich das Weben und Wirken in aller Erscheinung
und damit ihr Sinn erschauen.

Obwohl Hesse also einen Sinn im Leben an sich nicht erkennen kann, die Natur
sogar als scheußlich roh und sinnlos, an anderer Stelle gar als Chaos
ansieht, erklärt er immer wieder, vielleicht als Trost, der Mensch könne
seinem Leben einen Sinn geben.

Ein wirklich „philosophischer Kopf“ aber will den Sinn des Lebens
an sich wissen. Niemals läßt er sich abspeisen mit einer Antwort,
die den suchenden Geist vorschnell zur Ruhe bringen soll, ehe er in seiner Sehnsucht
nach Erkenntnis bis in die letzten Tiefen des Seins gedrungen ist. Nicht das
Ergebnis per Knopfdruck, nicht das Feststehen auf der Ziellinie, sondern die
eigenständige Suche, das innerliche Unterwegs-sein verheißt Weisheit.

Hesse hat sich begnügt mit einem Ersatz. Seine Annahme, daß man
einem sinnlosen Leben, zu dem das menschliche Bewußtsein ja selbst mit
gehört, einen Sinn geben könne, entbehrt zudem der Logik. Denn woran
könnte sich inmitten einer Sinnlosigkeit Sinn ermessen lassen? Gäbe
es aber tatsächlich einen Sinn, den der Mensch geben kann, so kann das
Leben selbst nicht sinnlos sein.

„Nicht jedem Menschen ist es gegeben, eine Persönlichkeit zu werden,“
behauptet Hesse weiter, „die meisten bleiben Exemplare und kennen die Nöte
der Individualisierung gar nicht.“ Dies ist zwar eine unübersehbare
Tatsache, doch das Wort „gegeben“ läßt innehalten. Glaubt
Hesse, daß Menschen von Geburt an dazu verdammt seien, als „Exemplare“
ihr Leben zuzubringen? Dagegen sträubt sich mein Freiheitswille. Es muß,
so sagt mir dieser Wille, jedem leiblich unbeschädigten Menschen der Weg
zur Selbstentfaltung grundsätzlich offen sein.

„Für den, der alt geworden ist,“ schreibt Hesse später,
„war das Suchen ein Irrtum und das Leben verfehlt, wenn er nichts Objektives,
nichts über ihm und seinen Sorgen Stehendes, nichts Unbedingtes oder Göttliches
zu verehren gefunden hat, in dessen Dienst er sich stellt und dessen Dienst
allein es ist, der seinem Leben Sinn gibt.“ Hier steht Hesse an den Pforten
des Rätsels. Seine Worte offenbaren Gottahnen, doch noch nicht letzte Erkenntnis
des Lebenssinnes selbst, immer noch soll der Mensch dem Leben Sinn geben.

Die Folge einer „Sinngebung“, die ja eines tragfähigen Urgrundes
entbehrt und nur der hilflose Versuch ist, die brennende Frage nach dem Lebenssinn
irgendwie zu beantworten, ist die gegenwärtig gängige Einstellung
in der Naturwissenschaft, die Art, wie Naturforschung betrieben und genutzt
wird, was wiederum unsere Lebensweise zutiefst beeinflußt und bestimmt.

Eine Finalität, d.h. eine Zielgerichtetheit und damit einen Sinn im Schöpfungsgeschehen
anzunehmen, erscheint dem im mechanistischen Denken verhafteten Naturwissenschaftler
fremd und abartig. Er verdächtigt es der Spinnerei, der Spekulation, des
Okkultismus. Nur „harte Tatsachen“ läßt er gelten und ist
stolz auf sein „klares, realistisches“ Weltbild, in dem allein er
sich bewegt und bewegen will. Ihm fehlt das nach innen gerichtete Auge, und
diese Blindheit läßt ihn sich selbst so überlegen vorkommen,
ihm höchstens ein mitleidiges Lächeln, wenn nicht gar ein „höhnisch-hochfahrendes
Lachen“ (Mathilde Ludendorff) für die Tieferschauenden abnötigen,
die von „Seele“ in der Natur sprechen. Eine Zielstrebigkeit im Werden
der Erscheinungswelt bis hin zum Menschen und damit ein absoluter Sinn des Lebens
offenbart „sich uns … nur durch die innere Wahrnehmung“ (Mathilde
Ludendorff). Ohne sie bleibt uns nur, was Hesse empfiehlt, unserem Leben irgendeinen
willkürlich gesetzten Sinn zu geben.

Der Nobelpreisträger

ForscherDer
israelische Proteinforscher Aaron Ciechanover vom Technion in Haifa wurde im
vorigen Jahr mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Er habe die Proteine
und ihre biologischen Prozesse in unseren Zellen sichtbar machen können
und wie die „nicht mehr funktionsfähigen Proteine abgebaut werden
… Tag für Tag ersetzen wir drei bis fünf Prozent aller Proteine
in unserem Körper durch neue. Das ist wirklich eine gigantische Zahl. Und
sie alle müssen entsorgt werden“, teilte er der Zeitung „Die
Welt“ mit (22.7.05). Welch eine Leistung der Natur wird hier beschrieben!
Wie staunen wir über dies stille Wirken und die Wahlkraft der Natur! Zu
welchen Feinstrukturen der Erscheinungswelt reicht das Forscherauge von heute!

Doch der Naturwissenschafter Ciechanover vergleicht den Abbau von Proteinen
„gern mit der Müllabfuhr in einer großen Stadt. Der Abfall muß
aus den Straßen entfernt werden – sonst drohen Krankheiten. Und wenn die
defekten Proteine nicht aus den Zellen entfernt werden, dann drohen auch hier
Krankheiten, weil sie gesunde Proteine in ihrer normalen Funktion stören
können.“ Ebenso fordert er auf, den menschlichen Körper, diese
„unglaublich komplexe Maschine“, mit dem Auto zu vergleichen. Damit
will er zwar auch auf die Überlegenheit der Natur hinweisen, aber er bleibt
bei seinem mechanistischen Nützlichkeitsdenken. Wie ist es denn möglich,
daß ein so komplexes Gebilde wie unser Körper in unbegreiflicher
Feinheit und Mannigfaltigkeit seines Aufbaus und seiner Tätigkeiten so
geräusch- und reibungslos unentwegt seine Aufgaben zum Besten des Ganzen
erfüllt? Diese Frage stellt niemand in dem Zeitungsgespräch, und niemand
könnte sie auch jemals rein vernunftmäßig beantworten.

Der Professor ist mit seinen Kollegen in der Molekular- und Genforschung ungebrochen
zuversichtlich, daß sie „eines Tages“ die „Struktur der
Proteine richtig verstehen“ und dann „genau wissen“ werden, wie
die Proteine „agieren und warum sie eine bestimmte Form haben müssen,
um zu funktionieren.“ Diese Zukunftsmusik nährt den Glauben an den
eigenen Forschungserfolg, den Glauben und damit die Bereitschaft der Menschen,
ihre Steuern und Versicherungsbeiträge weiter fließen zu lassen und
damit dieser Forschung zu ermöglichen, „ganz neue Medikamente“
zu entwickeln. „Es wird beispielsweise Arzneien geben, die auf die genetischen
Bedingungen eines Patienten präzise abgestimmt sind.“

So hofft und verheißt der Professor, weiß es aber nicht und verschwendet
keinen Gedanken an einen sorglichen Umgang mit dem Körper und daran, wie
Störungen seiner natürlichen Vorgänge von vornherein vermieden
werden könnten. „In der Zukunft wird man noch viel gezielter wirkende
Medikamente entwickeln können“, fährt er fort. „Diese werden
wie Gewehrkugeln wirken, die ihr Ziel ganz genau treffen und daher weniger Nebenwirkungen
haben.“ Welch entlarvende Wortwahl!

Eine US-Firma hat bereits ein – allerdings noch nicht „hochspezifisches“
– Medikament in dieser Richtung entwickelt und „damit einen Umsatz von
mehreren hundert Millionen Dollar pro Jahr erzielt.“ Aber natürlich
wohlgemerkt: „Ich mache Grundlagenforschung“, hält der Professor
fest. „Weder berate ich irgendwelche Pharmafirmen, noch bin ich über
Aktien an solchen Unternehmen beteiligt … Aber die Unternehmen denken natürlich
daran, unsere Erkenntnisse für die Entwicklung weiterer Medikamente zu
nutzen …“

Welcher Forscher kann sich dem – samt Einkünften – entziehen, zumal das
alles doch dem hehren Ziel „menschlicher Gesundheit“ dienen soll!
Welcher Forscher macht wirklich nur Grundlagenforschung, forscht also zweckerhaben
allein aus dem Wunsch, die Natur in ihren letzten Geheimnissen zu enträtseln,
wenn er wie dieser Nobelpreisträger in Wirklichkeit den (lukrativen) Nutzen
dabei mitdenkt! Die Menschen werden durch die noch zu erringenden Erkenntnisse
in Zukunft 120, ja 150 Jahre alt werden können, schwärmt der Mann.
Leider werde sich damit allerdings die Zahl der Alzheimer-Kranken drastisch
erhöhen!

Welch eine Sinn-Gebung so eines Forscher-, Pharmazeuten- und Industriellen-Lebens!
Sie macht die Fragwürdigkeit deutlich, die einer Sinn-Gebung anhaftet,
welche jeglicher Grundlage entbehrt und blind ist für den wahren Sinn des
Lebens.

Die etwas andere Sicht

Ganz anders nähert sich dagegen die mexikanische Psychoanalytikerin mit
ungarischen Vorfahren Clarissa Pinkola Estés der Sinnfrage: „Die
Vorstellung vom Körper als reiner Skulptur ist falsch und ignorant, auch
wenn sie im Abendland weithin verbreitet ist. Der Körper ist keine Masse,
die zurecht geschnizt, behämmert und bearbeitet werden muß … Die
Frage ist nicht, wie der Körper aussieht, sondern ob er gelähmt oder
kribbelig vor Angst ist, abgestumpft von jahrelangen Mißhandlungen, oder
ob er seine natürlichen Melodien summt und ob seine vielfältigen Augen
sehen und seine tausend Ohren durch Haut und Organe hindurch hören.“
(Die Wolfsfrau)

SonnenuntergangDas
sind Töne, von denen sich die Mechaniker der Naturwissenschaft und Medizin
mit Grausen abwenden. Aber wie wollen sie das Aufblühen unserer körperlichen
Erscheinung erklären, wenn die Seele froh ist, wenn sie liebt, wie das
Verschwinden von Krankheiten, wenn die Verklemmungen der Seele behoben sind,
wie wollen sie erklären, daß bei seelischem Gram unser Leib grau
und fahl, der Gang schleppend wird und die glanzlosen Augen in ihre Höhlen
zurückfallen?

Estés hat in ihrer Praxis als Seelenärztin immer wieder erlebt,
daß Gesundheit des ganzen Menschen nicht am Weg zum „Urgrund der
Seele“ vorbei erreichbar ist. Dort werde man die „Urmutter“ „des
Werdens und Vergehens“ finden, wie sie auch in der eigenen Einzelseele
walte. Tief „im Urgrund wartet etwas Heilsames, das niemanden zurückweist,
der es soweit geschafft hat.“ Ohne Verbundenheit mit dieser göttlichen
„Jahrmillionenalten“ „sind wir rastlos.“ Wer „nie nach
Hause geht“, in diesen gotterfüllten „Urgrund der Seele“,
den Mathilde Ludendorff das „gottahnende Ich“ nennt, „verurteilt
sich zu einem Dasein als Zombie, als wandelnde, nach außen manchmal sogar
trügerisch funktionierende Tote.“

Solche Gottferne treffen wir in der mechanistischen Denk- und Vorgehensweise
an, in der Anwendung der nackten reinen Vernunft in der Naturwissenschaft. Rastlos
wird die angeblich „tote“ Materie weiter und weiter zerschnitten;
mit Hilfe technischer Geräte vermag das menschliche Auge tiefer und tiefer
in die Materie hineinzusehen; Tiere werden zu Versuchsmaterial herabgewürdigt;
die Gelehrten rechnen und rechnen, stellen mathematische Formeln auf und erwarten,
daß die Materie sich mit den aufgestellten Theorien fassen und manipulieren
lasse.

Und ihr Erfolg gibt ihnen sogar noch Recht: Der Computer rechnet tatsächlich
mit unfaßlicher Datenmenge und Geschwindigkeit nach unseren Vorgaben,
die gezündete Atombombe löst die erwartete Kettenreaktion aus, und
wir sind in unserer Knopfdruck-Mentalität nun soweit vom unmittelbaren
Naturerleben „fortgeschritten“, daß wir erwarten, das Leben
müsse wie eine Maschine funktionieren, andernfalls repariert werden können,
wenn nicht jetzt, dann eines Tages in der Zukunft. Doch was haben wir an Weisheit
um den Sinn des Lebens gewonnen?

Seit Kants „Kritik der reinen Vernunft“ wissen wir zwar „Erscheinung“
und „Wesen der Dinge“ fein säuberlich zu trennen und sollten
die von Kant aufgezeigten Grenzen der reinen Vernunft achten, um nicht in Irrtümern
zu landen. Die „Dinge“ sind räumlich ausgedehnt, ihrem Dasein
ist eine bestimmte Länge der Zeit zugemessen und sie unterliegen der Kausalität.
Das „Wesen der Dinge“ aber ist frei von diesen Begrenzungen. Und doch
können einerseits die „Dinge“ ohne das göttliche Wesen,
andererseits die Einzelseele ohne ihren Leib nicht dasein. Beide bilden eine
Einheit, oder sie sind nicht.

„In der deutschen Sprache unterscheidet man zwischen dem bloß materiellen
Leib und dem Leib als ,beseeltem‘ Körper,“ stellen Marit Rullmann
und Werner Schlegel fest. Diese sprachliche Trennung ist ohne Zweifel die Folge
unserer „dualen“ Denkweise, die auf Sokrates und Platon zurückgeht.
Platon ging in der Trennung von Leib und Seele soweit, an die Wiedergeburt der
leiblosen Seele eines gestorbenen Menschen zu glauben und diesen Gedanken vielfältig
auszuschmücken. So nahm er z. B. an, daß ein Mann, der sein „Leben
feige und ungerecht hingebracht“ habe, bei seiner „zweiten Geburt“
als Frau auf die Welt komme (Timaios).

„Aristoteles … ging wenigstens davon aus, daß die Seele sich zwar
vom Körper unterscheidet, aber ohne diesen nicht existieren kann. Es gab
deshalb keinen Zweifel für ihn, daß die verschiedenen Seelen sterblich
waren. Mit einer einzigen Ausnahme: Und das – wie könnte es anders sein
– war die männliche Vernunftseele.“ (Rull-mann/Schlegel)

Giordano Bruno zeiht Platon der „Hirngespinste“ und Aristoteles der „Dürftigkeit“,
der „niemals müde wird, das, was in Natur und Wirklichkeit ungesondert ist,
im Verstande zu sondern.“ (Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen). Bruno
sieht die Schöpfung als beseelte Einheit. „Tote Materie“ anzunehmen – wie Moses,
der seinen Gott JHWH den Menschen „Adam“ aus einem Lehmkloß „machen“ und erst
nach Fertigstellung seinen Atem als Seele einhauchen läßt, und wie später auch
Descartes und Folgende „tote Materie“ annahmen -, ein solches Denken ist für
Bruno barer Unsinn. Materie, das ist für ihn wie für die Vorsokratiker das aus
der magna mater, der großen Mutter, geborene Universum. Und diese Mater bringt
immer wieder neue Formen aus sich, der Materie, hervor. Wie könnte die Materie
also tot sein?

Damit steht Bruno einer tausendjährigen Denkentwicklung entgegen, die
bestimmt wurde von der Vorherrschaft des Logos im Menschen, der reinen Vernunft
– die aber zudem ihre Grenzen überschritt und somit irrte -, und die bestimmt
wurde von der Unterdrückung der Sichtweise, die Jahrtausende vor Sokrates
auf der gesamten Erde anerkannt war, die intuitive Schau der Weisheitsgöttin
Sophia.

Die „Philo-Sophen“ waren nur die vermeintlichen „Freunde der
Sophia, der Weisheit“. In Wirklichkeit verachteten sie diese. Die Philosophin
Annegret Stopczyk empfiehlt, sie „Philo-Logen“, „Freunde des
Logos“, zu nennen. So sieht auch Estés den Abstieg der Zivilisierten
in die Gottferne darin, daß das spezifisch „weibliche“ Denken
nicht mehr zum Zuge gekommen ist:

„Im Laufe mehrerer Jahrtausende wurden die weiblichen Urinstinkte systematisch
plattgewalzt, abgeholzt, ausgeplündert, unterdrückt, oft auch zubetoniert.
Die selbsternannten Verwalter der Erde hielten alles Ursprüngliche, alles
Instinktive und Intuitive für eine Bedrohung ihrer Position und folglich
auch nicht für erhaltenswert.“
Mathilde Ludendorff scheut sich nicht, in ihrem ersten philosophischen Werk
ihr Gotterleben in Bildern wiederzugeben und wie Bruno sogar solche der mythischen
„Vorzeit“ mit einzubeziehen. Ihre Sprache sei „betont nichtphilosophisch“,
meint daher der Theologe Frank Schnoor in seiner Doktorarbeit. Was mag nach
seiner Meinung eine Sprache als „philosophisch“ auszeichnen? Die lebensferne,
tottrockene der Nur-Logiker? Zu denen allerdings stellt sich die Philosophin
– nicht nur sprachlich – ganz bewußt in Gegensatz:

„In Urtagen war’s, als Adler schrien
Und heilige Wasser von Himmelshöhn rannen“,
So kündet die Edda, da lauschten die Väter,
Wenn sinnend die Ahne aus Runen deutete heilige Rätsel.
Doch seit ihr verfluchtet die Runen
Und nanntet sie Werke des Teufels,
Verstummten die Mütter …
So schuft ihr allein denn das traurige Leben.
Ihr schuft euch allein unseliges Hasten, ruhloses Jagen,
Und bautet euch stolz die Städte der plappernden Toten,
Ersticktet bei Götzen des Nutzens die Seele! …
Verachtet aber des Weibes Weisheit.“

(Mathilde Ludendorff, Triumph des Unsterblichkeitwillens)

Das empfand der Nolaner Bruno ähnlich: „Welche Torheit kann verächtlicher
sein, als um des Geschlechtes willen der Feind der Natur selber zu sein, gleich
jenem barbarischen König von Sarza …, der … sagt: „Natur kann
nichts Vollkommenes gestalten, weil die Natur wird für ein Weib gehalten.“

Um dem entgegenzutreten, zählt Bruno – vielleicht nicht allzu ernst gemeint
– eine Menge Gegensatzpaare auf, wobei die jeweils gute Seite sprachlich weiblich
gekennzeichnet ist, die jeweils schlechte männlich (z. B. „die Wahrheit – der
Irrtum“). Doch überzeugend weist er sich als ein Philosoph aus, der sich einer
Erkenntnisfähigkeit anvertraut, die mehr im weiblichen Geschlecht ausgeprägt
ist, der intuitiven Schau, und ihn ebenfalls in Bildern sprechen läßt. Er kleidet
sein Gotterleben in das Bild des Jägers Aktaion, der der Muttergöttin Diana
nachjagt und dabei selbst zum gejagten Wild wird.

Damit will er sagen: Indem er sich der göttlichen Weisheit näherte,
wurde er von ihr gefangen genommen und mit ihr eins. Das ist – noch vertieft
– auch die Aussage der Philosophin Mathilde Ludendorff:

„In gesegneter Stunde“ dringen die „Seltnen“ „ins
Wesen der Dinge, ins Jenseits von Zweck, von Raum, von Zeit. Die Gottheit erlebt
sich endlich bewußt. Die Heimat ist dieses Land nun der Seele.“ Als
sie 1920 ihren „Triumph“ schrieb, hatten die Erkenntnisse der „reinen
Vernunft“, der Naturwissenschaft, einen Stand erreicht, der nun gemeinsam
mit der intuitiven Gottschau Mathilde Ludendorffs zu dem Ergebnis führen
konnte:

„Der unermeßliche Kosmos seit undenklichen Zeiten und auf undenkliche
Zeiten hin stumm kreisender Welten aber erfüllt den Sinn seines Werdens
und Seins jeweils in der Vollendung, wenn der sterbliche Mensch, der einzige,
der schuldig werden kann, im Dasein den Weg der Heiligung schreitet, göttliche,
unsterbliche Worte, Taten und Werke auf Mit- und Nachwelt ausstrahlt und am
Abende seines Lebens so vollkommen ist, wie alle nicht bewußte Erscheinung
des Alls und diese Vollkommenheit, diesen dauernden Einklang mit dem Göttlichen
bewußt erleben darf.“

Der absolute Sinn des Lebens ist damit erkannt.

Heidrun Beißwenger