Schopenhauers Rezeption von Fichtes Wissenschaftslehre

Bei den Kritischen Auseinandersetzungen (1809-1818) im zweiten Band der Schopenhauer-Nachlaß-Ausgabe von Arthur Hübscher handelt es sich um Randbemerkungen zu den Vorlesungen, die er als Student nachschrieb (Vorlesungshefte von 1809-1813), und um Anmerkungen zu Philosophen, v. a. Kant (Studienhefte 1811-1818).

Ich beschränke mich hier auf Schopenhauers Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), über den im zweiten Nachlaßband am meisten abgedruckt ist.

Vorlesungshefte

Schopenhauers Nachschriften zu Fichtes Vorlesungen „Ueber die Thatsachen des Bewußtseyns“ (1811/12) „lassen durchweg seine Mitarbeit erkennen, sie sind weitgehend von ihm mitgeprägt. In der Hervorhebung einzelner Gedankengänge, der Vernachlässigung anderer, in der besonderen Art der Zusammenfassung zu einem gedrängten Auszug zeigen sie eine durchaus selbständige Formung des von Fichte gebotenen Stoffes. Schopenhauer hat sich redlich um das Verständnis dieser Vorlesungen bemüht. Er hat sein Manuskript mit zahlreichen Randbemerkungen versehen, er hat es auch später noch wiederholt durchgearbeitet. Seine Randbemerkungen beziehen sich zum großen Teil nicht auf einzelne Stellen, sondern auf das Ganze der Ausführungen Fichtes; auch wenn sie bestimmte Stellen zu treffen scheinen, erfordert die Eigenart der Deduktionen Fichtes immer die Einbeziehung in den größeren Zusammenhang“ (aus der Einleitung von Hübscher, N 2/XV).

Schopenhauer zu Fichtes Wissenschaftslehre

Von Fichte, der seine Wissenschaftslehre ständig weiterentwickelte, gibt es noch zwei weitere Fassungen dieser Vorlesungen in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft (1810/11 und 1813), die beide von Schopenhauers Niederschrift (1811/12) abweichen. „Schopenhauers Nachschrift bietet also eine eigene, sonst nicht authentisch belegte Zwischenfassung“ (Hübscher, N 2/XVI).

Ueber die Thatsachen des Bewußtseyns. Fichte’s Vorlesungen über das Studium der Philosophie (N 2/16-29). Im Herbst 1811 hielt Fichte eine einführende Vorlesung zu dem Zweck ab, „die Art zu bestimmen auf welche Philosophie mitgetheilt werden könne und solle“ (N 2/16). Schopenhauer hörte zu und schrieb im Anschluß an die Vorlesung den Inhalt auf. So wünschte es Fichte. Außerdem gab Schopenhauer noch Kommentare ab.

Die Frage, was Philosophie sei, beantwortete Fichte damit, daß sie eine Art des Wissens sei. Er unterschied historisches Wissen, das mitgeteilt wird, von wissenschaftlichem Wissen, das Gründe und Gesetzmäßigkeiten enthält.

Beim historischen Wissen unterschied er zwei Arten: Wissen, das nicht selbst überprüft werden kann, und Wissen, das man selbst anhand von äußeren und inneren Wahrnehmungen nachprüfen kann.

Schopenhauer kommentierte: „Dies ist dunkel und nicht hinlänglich erklärt, doch kann es seyn daß ich Einiges überhört habe; denn Fichte[K] Vortrag ist wohl deutlich und er spricht langsam, doch verweilt er mir oft zu lange auf Leicht zu verstehenden Dingen und wiederhohlt sie mit andern Worten, so daß die Aufmerksamkeit ermüdet das schon Begriffne noch länger anzuhören und man eben dadurch zerstreut wird“ (N 2/17).

Die „erste deutliche wissenschaftliche Erkenntniß“ eines Forschers besteht laut Fichte „darin daß er mit einer ihm bisdahin ganz unbekannten Evidenz, die, in einem Augenblick, wie ein Bliz seine Seele erleuchtet, erkennt daß was er jezt denkt Wahrheit ist und für alle Ewigkeit bleiben wird“ (N 2/22).

Daraufhin warf Schopenhauer Fichte vor, er beanspruche Unfehlbarkeit. Er fragte, wie es möglich sei, „daß Irrthümer Jahrtausende bestehn können“, und warum so wenige diesen Evidenzblitz vermissen, wenn es gilt, einen Irrtum aufzudecken (N 2/23). Außerdem beanstandete er, daß Fichte die mathematische Evidenz auf andere Bereiche der Wissenschaft übertrug.

Fichte hielt auch einen rein dogmatischen Unterricht für möglich, d.h. er meinte, jemand, der nicht selbst in der Forschung tätig sei, könne über die Forschungen anderer berichten. Auch die Philosophie, die Fichte mit der Wissenschaftslehre gleichsetzte, sei mitteilbar, doch um sie zu unterrichten, müsse man sie selbst wissen, „was, wie wir gesehn, bey andern Wissenschaften erläßlich ist“ (N 2/27).

Wissenschaftslehre definierte er als „die Wissenschaft welche den Grund angiebt alles Wissens.“ Die Wissenschaftslehre beinhalte auch die Lehre, was die Wissenschaften „seyn und wie sie zu Stande gebracht werden, sollen“ (N 2/26).

Ueber die Thatsachen des Bewußtseyns, und die Wissenschaftslehre bey Fichte (N 2/29-216). Schopenhauers Nachschrift mit Kommentaren ist sehr umfangreich. Daß er Fichtes Philosophie ablehnt, sieht man schon an der Anmerkung zur Überschrift: „vielleicht ist die richtige Lesart Wissenschaftsleere“ (N 2/29). Aus den drei vorangestellten Mottos erfährt man, daß er Fichte Lügen, Streitsucht und Inhaltslosigkeit unterstellt.

Der Text von Fichte in der Nachschrift Schopenhauers ist sehr schwierig zu lesen. Schopenhauer kritisiert Fichte sachlich und gesteht freimütig, wenn er etwas nicht versteht. Ein Beispiel zur fünften Vorlesung, das auch für die sechste gilt:

„Ich muß gestehn daß Alles hier gesagte mir sehr dunkel ist, ich es auch unrecht verstanden haben mag; auch daß F[ichte] [K] in dieser Vorlesung Vieles gesagt hat, was ich durchaus nicht verstanden habe. Ob dies Fichten [K] Schuld zu geben ist oder meinem Mangel an Aufmerksamkeit, an gehöriger Stimmung dazu, oder an Verstande, oder endlich meinem Befangen-seyn in der Kantischen Elementarlehre, weiß ich nicht“ (N 2/37f).

Im Anschluß an diese beiden Vorlesungen wurde Schopenhauer krank, so daß er die siebte und achte Vorlesung versäumte.

Zur neunten notierte er: „Ich weiß nicht was das heißt“ (N 2/39). Zur elften schrieb er: „In dieser Stunde hat er außer dem hier Aufgeschriebenen Sachen gesagt die mir den Wunsch auspreßten, ihm eine Pistole auf die Brust sezzen zu dürfen und dann zu sagen: Sterben mußt du jezt ohne Gnade; aber um deiner armen Seele Willen, sage ob du dir bey dem Gallimathias etwas deutliches gedacht hast oder uns blos zu Narren gehabt hast?“ (N 2/41)

Dreimal, als Motto (N 2/29), zur zwölften Vorlesung und auch später zitierte Schopenhauer aus Goethes Faust (Verse 2565f), um auszudrücken, daß er Fichtes Ausführungen für Unsinn hielt: „Gewöhnlich glaubt der Mensch wenn er nur Worte hört, / Es müsse sich dabey doch auch was denken lassen“ (N 2/42, 107).

Zur vierzehnten Vorlesung notierte Schopenhauer, daß er acht Tage Schreibpause eingelegt habe. Ab da fällt die Zählung nach Vorlesungen weg und wird durch eine Zählung nach Protokollen ersetzt. Ab dem zwölften Protokoll gibt es eine zusätzliche Einteilung in Kapitel, die Fichte den Studenten gegeben hat, um ihnen das Zuhören zu erleichtern. Doch eigentlich gilt: Die Wissenschaftslehre „geht aber aus vom Absoluten das Eins ist: also hat sie kein Mannigfaltiges, keine Abschnitte und Kapitel“ (N 2/117).

Einmal bemerkte Schopenhauer, daß er Fichtes Überleitung vom einen zum nächsten Punkt vergessen hat. Ein andermal bekennt er, daß er durcheinander und unpäßlich war.

Im folgenden versuche ich zu verdeutlichen, um was es Fichte ging – falls Schopenhauer ihn richtig verstanden hat. Ein Grundproblem sind Fichtes Umdefinitionen und Gleichsetzungen von Begriffen. So versteht man manchmal erst Seiten später, was er früher gemeint hat. Auch Schopenhauer ist es so ergangen.

Er vergleicht Fichtes Ausführungen mit einem Zickzackweg „durch Disteln und Dornen“ – und das, nachdem Kant bereits „einen schönen breiten ebnen Weg mit großer langer Mühe“ zu seiner Entdeckung gebahnt hat. Schopenhauer vergleicht diese Entdeckung mit einem „Tempel in der Wildniß“, von dem Fichte seine Studenten „nur einen Theil der hintern Seite“ zeigt. Wer ihn bereits von Kant kenne, könne ihn erkennen, doch wer nicht durch Kants Schule gegangen sei, begreife auch jetzt nichts. Daß Fichte so tue, als habe er ihn selbst entdeckt, hält Schopenhauer für eine Form des Betrugs (N 2/124).

Kants Entdeckung besteht in den „Bedingungen der Erfahrung„, die formell (als „reine Anschauungen und Kategorien“) und materiell (als „das unbekannte x [K] oder Ding an sich“) sein können (N 2/123).

Zunächst geht es Fichte um die „Wahrnehmung der Wahrnehmung“ (N 2/30). Unter Wahrnehmung versteht Fichte entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch die „Reflexion der reinen Sehe“ (N 2/43) – normalerweise wird unter „Wahrnehmung“ das verstanden, was uns die Sinne zeigen; wenn wir es durchdacht haben, heißt es „Erfahrung“.

Fichte zufolge nehmen wir Qualität und Ausdehnung wahr. Außerdem unterschieben wir dem Wahrgenommenen „etwas als Träger“ (= Sein, Substanz; N 2/36). Fichte meint, daß uns die Wahrnehmung nicht „das Seyn der Dinge selbst“ gibt, sondern nur „ein Bild ihrer Aussage“ (N 2/38). Er kontrastiert also das Sein mit unserer Vorstellung davon. „Statt zu sagen: die Gegenstände sind; sagen wir: ich stelle sie vor“ (N 2/40).

Schopenhauer vermißt bei Fichtes Vortrag eine Definition des Wissens und gibt sie gleich selbst, so, wie er die ganze Vorlesung (vergeblich) darauf gewartet hat, daß Fichte sie geben würde: Wissen ist die „absolute Sichanschauung des Seyns unter dem formalen Bilde eines Ich.“ Tatsächlich hat Fichte das Wissen bereits definiert: „Das Wissen erfaßt in der Wahrnehmung sich selbst wie es ist“ (N 2/36). Schopenhauer sagt im Grunde dasselbe, merkt es aber nicht.

Um ein Philosoph zu sein, muß man sich laut Fichte über Zeit und Raum hinwegdenken können. Schopenhauer kommentierte: „Wie das geschähe hat er eine ganze Stunde hindurch erklärt, und es auch abgezeichnet an der Tafel: ich habs aber nicht verstehn können“ (N 2/58).

Vielleicht steckt hinter Fichtes Aussage die Ahnung der Präexistenz und Unsterblichkeit der Seele, die Fichte mit dem Ich, dem Wissen und dem Sein gleichsetzt. In seinen Worten: „Ob man also sagt: die Welt ist die Sichtbarkeit des Absoluten, oder das faktische Ich ist die Sichtbarkeit des Absoluten, ist Eins“ (N 2/78f). Durch das „sittliche Handeln“ „kann das Wesen des Absoluten“ „sichtbar gemacht werden“, wobei Fichte unter „Handeln“ dasselbe wie „Ordnen“ versteht (N 2/78).

Wissenschaftslehre ist dasselbe wie Philosophie. Reines Denken ist ein Denken ohne Anschauung. Die „höhere Anschauung“ ist ein „Gesicht“ (N 2/74). Was das sein soll, führt Fichte nicht näher aus, wahrscheinlich ein Amalgam aus Sinneswahrnehmung, Vision und Vorstellung. Wissenschaftslehre ist das „Sehn der Sichtbarkeit“ (N 2/191) – hier kommt also noch die Reflexion dazu. Sie ist das „Sehn des Sehns“ (N 2/192).

„Wissen ist Anschauung des Absoluten“ (N 2/77). „Grund des Wissens“ ist „die Sichanschauung des Seyns“ (N 2/64). Das Wissen ist frei.

Die Wahrheit sitzt „im sittlichen Charakter“ (N 2/77). Fichtes Aussage, das „sittliche Gesetz“ sei die „Sichtbarkeit des absoluten Seyns“ (N 2/77f), erinnert an den moralischen Gottesbeweis, den Kant im „Streit der Fakultäten“ als Frage formulierte: „hat die unvermeidliche und nicht zu unterdrückende Idee der Vernunft von einem Urheber des Weltalls, und also unserer selbst und des moralischen Gesetzes auch wohl einen gültigen Grund, da jeder theoretische Grund seiner Natur nach untauglich zur Befestigung und Sicherstellung jener Idee ist?“ (XI 345)

Laut Fichte ist die Welt die „Sichtbarkeit des Ich“, ein „möglicher Ausdruck des Sittlichen und also geheiligt“ (N 2/78). „Das absolute Seyn nennen wir Gott“ (N 2/81).

Unter „Wissenschaftslehre“ versteht Fichte „eine Theorie der Wissenschaft überhaupt und schlechtweg“ (N 2/82). Sie ist kein „Erfahrungsbild“ (N 2/85), sondern deduziert, „was aus dem Gesez folgt […], nicht das Reale.“ Die Objekte der Wissenschaftslehre stehen „unter einem Gesez“ (N 2/83).

Die Wissenschaftslehre „wird das Wissen darstellen in einem apriorischen Begriff.“ Doch wie könnte das geschehen? Fichte meint, am besten zeuge das Wissen vom Wissen (N 2/85). Die Wissenschaftslehre sei „ein Bild vom Wissen und zwar ein Bild das dieses selbst macht“ (N 2/86). Schopenhauer kritisiert: „Ist es nicht sehr frech, daß die Erzählung von einem Dinge von dem kein Mensch weiß, bezeugt werden soll, dadurch daß sie von ihm selbst kommt?“ (N 2/85)

Manche verstehen unter Wissenschaftslehre „eine Wissenschaftenlehre, eine Enkyklopädie, Auszug aller Wissenschaften“. Doch das ist sie Fichte zufolge nicht, denn dann wäre sie „ein Zusammengeseztes, zusammengestücktes.“ In Wahrheit ist sie „eine Einsicht die in keiner besondern Wissenschaft vorkommen kann, denn diese alle gründen sich auf die Fakticität“. Dagegen will die Wissenschaftslehre die Faktizität aufheben und durchsichtig machen (N 2/91).

Das geschieht durch die Reflexion. Die Reflexion führt die Wissenschaftslehre zur Realität. Sie „besteht darin daß man sich aus der Befangenheit in einem faktischen Gesez erhebt und dadurch dies Gesez ersieht. […] Das Gesez womit die W.L. anhebt ist: Befreie dich von aller Fakticität: ließe sich auch ausdrücken: ‚führe die Reflexion bis ans Ende, dann bist du am Ziele und dir erscheint die wahre Anschauung'“ (N 2/93).

Wer die Reflexion ablehnt, ist Fichte zufolge „feige“, wer sie nicht zu Ende führt, „inkonsequent“ (N 2/93). Wer sie zu Ende führt, kann zum Absoluten vorstoßen: „Wo das faktische Wissen, dessen Blüthe das Denken ist, zu Ende ist, fängt das Absolute an“ (N 2/97). Während das faktische Sein im Werden gründet und deshalb auch „als nicht-seyend“ gedacht werden kann, kann das absolute Sein „nicht nichtseyn“ (N 2/98).

Während Kant fragt: „Wie sind synthetische Urtheile a priori [K] möglich?“, fragt Fichte: „Wie ist das Sicherscheinen der Erscheinung möglich?“ (N 2/108) „Was erscheint sich? Die Erscheinung des Absoluten an sich“ (N 2/109).

Laut Fichte kennt die Wissenschaftslehre „die Realität nicht […], sondern lediglich die reflektirende Form.“ Sie „hat es mit der Form des Sicherscheinens der Erscheinung zu thun“ (N 2/109). Sie „ist durch ihr Wesen nicht das Wissen selbst, sondern nur ein Bild des Wissens. Dies erkennt sie“. Sie fragt: „Was folgt aus dem Sicherscheinen oder der Ich-Form der Erscheinung?“ (N 2/110)

Fichtes Antwort: „Die Sicherscheinung der Erscheinung spricht in der W.L. sich selbst aus.“ Die Wissenschaftslehre „ist das selbst sich darstellende Gesez des Sicherscheinens der Erscheinung“ (N 2/111).

Sie ist ein „Bild, Schema des gesammten Wissens, das sich selbst macht. Also sie ist eine Reflexion des gesammten faktischen Wissens aus ihm selbst.“ Dessen Wesen „besteht darin, daß es seinen Ursprung nicht kennt, seine Sehe nicht sieht.“ Demnach müßte die Wissenschaftslehre „ein Wissen das von sich weiß“ sein, das „seinen Ursprung kennt“ (N 2/112).

In zwei Formeln grenzt Fichte Wissenschaftslehre und faktisches Wissen voneinander ab:

  • „In der W.L. erscheint sich die Erscheinung als Erscheinung.“
  • Die „Formel des faktischen Wissens“ lautet: „die Erscheinung erscheint sich schlechthin und unmittelbar“ (N 2/112).

Anders formuliert: „Das faktische Wissen ist die Erscheinung, die W.L. ist das Sicherscheinen der Erscheinung als Erscheinung, in diesem ihrem Sicherscheinen wiedererscheinend“ (N 2/112).

Im folgenden hängt Fichte seiner Wissenschaftslehre noch ein theologisches Mäntelchen um: „die Erscheinung erscheint, spricht sich aus und dadurch Gott: sie wäre darum recht gut zu nennen das Wort„. „Das Wort ist wie Gott ist, ist bey Gott schlechthin: dies ist der Ausspruch des Johannes“ (N 2/115; vgl. den Prolog zum vierten Evangelium, Joh 1,1-18).

Fichte betrachtet jede Erscheinung als „Erscheinung Gottes: dadurch sprach ich der Erscheinung alles selbständige Seyn ab und machte sie zu einem bloßen Accidenz von Gott, nicht vom realen innern Seyn Gottes, sondern vom formalen Seyn Gottes.“ Daß für ihn die Erscheinung gleichzeitig „selbständige Existenz“ hat, scheint widersprüchlich. Fichte löst diesen Widerspruch dadurch auf, daß er die Menschen einbezieht: sie sind gleichzeitig Subjekt (also selbständig) und Objekt (Akzidens Gottes) (N 2/125).

Aus der Auflösung dieses Widerspruchs konstruiert Fichte weiter unten die „Subjektobjektivität: das Subjekt projicirt sich, stellt sich hin außer sich selbst, schaffend ein Bild seiner selbst. […] Subjektiv ist das dem das Objektive vorschwebt: also das Subjektive ist es das projicirt das Objektive, es außer sich sezt“ (N 2/167).

Daß sich die Erscheinung erscheint, bedeutet, daß sie „sich dann als sich erscheinend in der Anschauung“ erscheint (N 2/126). Das als bezeichnet Fichte als „Mittelglied“ (N 2/138). Darin, daß sich die Erscheinung „als sich erscheinend“ erscheint, „liegt eine fünffache Bedeutung, nämlich 2 Hinter- und 2 Vorderglieder verbunden durch das als“ (N 2/126).

Diese „Fünffachheit“ besteht aus „Substanz und Accidenz, Princip und Principiat, vereinigt durch ein Mittelglied“ (N 2/137).

Zur Klärung der Begriffe: „Das Mittelglied ist daß das Objektive als Princip, das Subjektive als Principiat angesehn wird“ (N 2/134). Laut Schopenhauer ist „Princip ein durch Erfahrung erkanntes Naturgesez“ (N 2/140). Mit „Principiat“ oder „Principheit“ meint Fichte Schopenhauer zufolge „Kausalität“ (N 2/134). Fichte setzt die „Principheit“ an einer Stelle mit der „Erscheinung“ gleich. Letztere ist in diesem Fall gleichzeitig „unsichtbar“ und „unsichtbarerweise Princip“ (N 2/171).

Nun noch Genaueres: „Indem die Erscheinung sich erscheint als sich erscheinend so erscheint sie sich als Princip, Leben, Grund alles des Erscheinens als welches sie in der ersten Potenz sich erscheint“ (N 2/130). Die Wissenschaftslehre ist „Analyse des Sich“ (N 2/137), also der Erscheinung (N 2/138).

Was nun folgt, charakterisiert Schopenhauer als „Geschwäz“, dem „ein (hier transcendenter und also unstatthafter) Kausal-Begriff“ zugrunde zu liegen scheint. „Nämlich die Erscheinung (Sinnenwelt) muß eine Ursache haben (dies meynt er mit Princip) die können wir nicht sehn, eben weil was wir sehn können ihre Wirkung[,] die Erscheinung ist“ (N 2/142f).

Sogar Fichte selbst stellt sich die „Aufgabe […], genau zu verstehn was wir gesagt haben“ (N 2/145), und vertröstet auf später: Er sagt seinen Studenten „zum Troste […], daß dies nur deswegen so vorgetragen ist damit das folgende desto leichter werde, denn zum Folgenden sind dies die Exponenten. Doch wird durch das Folgende auch dies mehr Licht erhalten. Doch muß man das Bisherige verstanden haben“ (N 2/151).

Ich beschränke mich hier auf seine Zusammenfassung der Wissenschaftslehre: „Die Reflexion soll gesezt werden damit die Erscheinung erscheinen könne als solche, und hinter ihr Gott. Gott soll erscheinen als solcher, welches nicht möglich wäre wenn nicht die Erscheinung erscheint als solche, welches nicht möglich wäre wenn nicht reflektirt wird: […] Dies ist ein Gesez welches ist der Realgrund der Freiheit“ (N 2/149).

Nochmals dasselbe in etwas anderen Worten: „Wir giengen aus vom Sicherscheinen der Erscheinung: dies Sicherscheinen verwandelte sich im 2ten Kapitel in die Form; die Erscheinung erscheint sich als sicherscheinend ihrem qualitativen Inhalt nach. Diese Untersuchung hat sich zurückgeführt auf die der Reflektibilität. Alles bisherige war nur Hinleitung auf diesen Punkt. Mit dieser Analyse wird die W.L. beendigt seyn. Denn in der Reflektibilität liegt die Welt der Gesezmäßigkeit und die Welt der Freyheit“ (N 2/150).

Einfacher ausgedrückt: Wir sind darauf angewiesen, was wir wahrnehmen und durchdenken können. Während unsere Wahrnehmungen gegeben sind, ist das Denken ein freier Akt. Gleichzeitig unterliegt das Denken den Gesetzen der Logik. D.h. wir dürfen uns nicht widersprechen und müssen darauf achten, das Wahrgenommene richtig zu beurteilen.

Nun analysiert Fichte die „Reflektibilität.“ Für Fichte ist sie wesentlich mit der Freiheit verbunden. Er behauptet, daß es „eine absolute Freyheit außer Gott“ gebe, aber auch, „daß außer Gott kein Seyn sey: das Freye ist die Erscheinung, sie ist aber kein Leben von sich, sondern ein Leben durch Gott: aber dies Leben aus Gott bestimmt sie weiter durch sich: die Freyheit ist also eine Weiterbestimmung des an sich nicht selbständigen Lebens“ (N 2/151).

Unter Reflexion versteht Fichte „das Wiedersichtbarmachen dessen was im faktischen Sehn unsichtbar bleiben mußte“ (N 2/168). Doch er verwahrt sich ausdrücklich dagegen, „daß bey dem faktischen Bewußtseyn in Beziehung auf die Qualität irgend eine Freyheit sey, daß wir uns die wirkliche Welt ausdächten“ oder „hinphantasirten“ (N 2/183).

Das sei ein Mißverständnis von Gegnern der Wissenschaftslehre. Schopenhauers Kritik geht in diese Richtung: „Man soll nämlich sprechen, deduciren und demonstriren ohne irgend zu wissen wovon man spricht, so recht eigentlich ins Weite Blaue hinein, ohne alle data, ohne sich zu fragen welche und wie weit reichend die Geisteskräfte sind die man anwendet: Nein, nachdem man […] von aller Fakticität abstrahirt hat, d. h. an nichts gedacht, geht man über zum Denken über Nichts“ (N 2/173).

Anders ausgedrückt: Fichte paßt die Welt seiner Erklärung an statt umgekehrt. Er macht es Schopenhauer zufolge wie Prokrustes, der Sohn des Poseidon, der seine Gäste an ein Bett fesselte und ihre Arme und Beine abhackte oder in die Länge zog, je nachdem, ob das Bett zu groß oder zu klein war. Dabei benutzte Prokrustes für kleine Menschen ein großes Bett (damit er sie strecken konnte) und für große Menschen ein kleines Bett (damit er ihre Gliedmaßen amputieren konnte). Theseus behandelte den Prokrustes so, wie dieser seine Gäste behandelte, und schlug ihm den Kopf ab.

Schopenhauer macht seinem Unmut über Fichtes Vortrag immer wieder Luft:

  • In seinem 26. Protokoll ist eine Lücke, weil er Fichte nicht mehr folgen kann. Unmittelbar darauf ergänzt er die Lücke dann unter Berufung auf Kant. Tatsächlich hielt Fichte seine Wissenschaftslehre für eine Fortsetzung von Kants Denken.
  • Im 28. Protokoll überlegt Schopenhauer: „Aber wer weiß was er unter Sehn versteht“ (N 2/168).

Nun, es ist nicht folgendes: „Der Blick ist ein Bild das als Bild sich erkennt und darum seinen Gegensaz, das Seyn, bey sich führt“ (N 2/181), sondern das: „Also ist das Sehn die Sichtbarkeit des ganzen Lichts und der aufgestellte Blick daher nicht das Sehn selbst. […] Sehn ist, heißt, das Licht tritt ins Gesez der Sichtbarkeit: und dies heißt, die ganze jezt aufgestellte Synthese ist“ (N 2/198).

Außerdem spricht Fichte noch vom „Ersehn„, das er mit Kants diskursiver Erkenntnis gleichsetzt (N 2/209), also der „Erkenntnis durch Begriffe„, im Gegensatz zur intuitiven Erkenntnis „in der Anschauung“ (VI 666). Genauer: In der diskursiven Erkenntnis begleitet „das Zeichen (character) den Begriff nur als Wächter (custos) […], um ihn gelegentlich zu reproduzieren“ (XII 497).

  • In seinem 30. Protokoll bezeichnet Schopenhauer das „Wesen“ der Wissenschaftslehre als „Unwesen“ (N 2/173). Dieses Protokoll bricht Schopenhauer wegen Kopfweh ab.
  • Im 34. Protokoll beanstandet er, daß die Welt laut Fichtes Wissenschaftslehre „durch die freie Selbstbestimmung (Hingeben) des Ich entstanden“ sei, wobei Fichte diesen „Akt der Selbstbestimmung […] durchaus nicht nachweisen“ könne (N 2/182).
  • Beim 40. Protokoll hörte Schopenhauer mit dem Schreiben auf, weil Fichte „heute nur das reine Licht, aber keine Talglichte aufsteckte“ (N 2/194). Auch beim Niederschreiben des 41. Protokolls ging es ihm so: Er brach ab, weil „auch heute die Talglichte nicht in die Sichtbarkeit traten“ (N 2/195).

Dabei erleichtert Fichte seinen Zuhörern die Aufnahme seines Vortrags immer wieder dadurch, daß er einen Überblick oder eine Zusammenfassung gibt. Diese Stellen sind wie Inseln, an denen man wieder einen vermeintlichen Boden unter die Füße bekommen kann:

Eine „ganz kurze Uebersicht“: „Wir haben gesezt: Die Erscheinung erscheint sich: ihr ganzes Wesen ist ein Sicherscheinen. Dann: Die Erscheinung erscheint sich als sicherscheinend; als Princip. Dann: Die Erscheinung erscheint sich als beschränkt in diesem Principseyn. Und jezt: Die Erscheinung erscheint sich als bestimmt in dieser Beschränktheit, als beschränkt auf eine bestimmte Weise“ (N 2/172).

Ein Rückblick über den „Gang unsrer Untersuchung“: „Wir giengen aus hievon: Die Erscheinung ist Erscheinung des Absoluten; wie das Absolute ist, so erscheint es: im 2ten Kapitel sagten wir: die Erscheinung erscheint sich, und bisher haben wir immer analysirt blos dieses Sich. Jezt spaltet dieses Sich sich in ein doppeltes Für-sich-seyn. Nach der Frage des Grundes: entweder absolute [K] mit Freyheit oder nach dem Grunde der Nothwendigkeit. Ueber diese beyde[n] Formen des Sich schwebt eine Freyheit der Erscheinung. Das Wort Freyheit hat hier einen doppelten Sinn. Wo es Glied ist, bedeutet es Grund der da ist, weil er ist. Wo es ist Einheitsglied der Eintheilung bedeutet es Freyheit der Wahl zwischen 2 Weisen“ (N 2/178).

Und eine ganz kurze Zusammenfassung: Die Wissenschaftslehre „sagt die faktische Welt ist ein System von Bildern und Begriffen, ein System von gewissen Bestimmungen des Sehns. Dies ist der Idealismus der W.L.“ (N 2/182). Schopenhauer drückte das später viel kürzer aus: Die Welt ist Vorstellung.

Auch den Willen konnte er bei Fichte finden, allerdings in einem andern Sinn, als er ihn später in der Welt als Wille fand: „Wollen ist das Unterordnen der Freyheit unter das Gesez“ (N 2/213). Folgende Stelle erinnert schon eher an Schopenhauers Willen: „alles Seyn liegt im Einheitspunkt des Willens“ (N 2/215).

Das läßt mich (wie bei Hegel) fragen, ob Schopenhauers Invektiven gegen Fichte andere Gründe haben: Auch Fichte war wie Hegel verheiratet und hatte eine Philosophieprofessur. Schopenhauer hatte beides nicht. Und so verschieden war das, was er lehrte, nicht von dem, was Schopenhauer später in ein System brachte. Also wie bei Hegel der Neid, aber auch eine Art der nichtargumentativen Abgrenzung, weil eine argumentative Abgrenzung nicht möglich war?

Die „allgemeinere Uebersicht“ handelt von der Freiheit, die „unter dem Gesez des Soll“ stehe, aber sich „durch das Losreißen […] dem Gesez der Einfachheit der Wahrheit“ hingebe (N 2/187f).

Die „Spizze und der reine Ausdruck der ganzen W.L.“ ist folgendes: „Das ganze Seyn des Wissens in seiner Wurzel, ist ein schlechthin freies Sehn, nicht durch einen Mechanismus, sondern durch eine Absicht. […] Alles Sehn ist ein Konstruiren des absoluten Bildungsvermögens in einer Beschränktheit zu der es kommt durch das Gesez ihres Seyns, durch welches und in welchem sie selbst da ist“ (N 2/205).

Doch die Wissenschaftslehre ist nicht nur eine Erkenntnistheorie, sondern soll auch „eine Wegbahnung seyn zur Sittlichkeit, eine klare, besonnene Kunst zur Sittlichkeit“ (N 2/216).

Studienhefte

Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Schopenhauer stellt Fichtes Wissenschaftslehre als Märchen dar. Aus dem Sein wird die Oma, die die Mama Wissen gebiert. Mamas Kind Ichprinzip darf seinen Tätigkeitstrieb an der Welt austoben. Was zwischen Ichprinzip und Welt alles geschieht, wird zu einer Weltanschauungssynthese. Damit etwas Gescheites dabei herauskommt, schickt die Oma das Sollen als Botschafter ab, der das Ich anleitet, die Welt nach dem Bild der Oma zu formen. So wird die Welt zum Sein.

Zu Fichte’s Naturrecht (Theil I). Hier kritisiert Schopenhauer Fichtes Wissenschaftslehre argumentativ. Sie setze „voraus was sie demonstriren will, nämlich die Gesezze des Verstandes und der reinen sinnlichen Anschauungen, […] und demonstrirt aus diesen Gesezzen, daß die Erfahrung (Bewußtseyn, Welt) […] so und nicht anders seyn müsse“ (N 2/354).


© Gunthard Rudolf Heller, 2022

Literaturverzeichnis

DIE BIBEL – Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes, Freiburg/Basel/Wien 201976

ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, hg. v. Jürgen Mittelstraß, Stuttgart/Weimar 2004

FICHTE, Johann Gottlieb: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794, 18022), in: Werke Band I, S. 83-328

GRANT, Michael/HAZEL, John: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 141999

HELLER, Gunthard: Schopenhauers handschriftlicher Nachlaß I – V, Facebook 2022

JACOBS, Wilhelm G.: Johann Gottlieb Fichte mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 1984

KANT, Immanuel: Über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?, in: Schriften zur Metaphysik und Logik 2, Werkausgabe Band VI, Frankfurt am Main 41982, S. 583-676

  • Der Streit der Fakultäten, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Werkausgabe Band XI, Frankfurt am Main 1977, S. 261-393
  • Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Werkausgabe Band XII, Frankfurt am Main 71988, S. 395-690

KINDLERS NEUES LITERATURLEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996

LEXIKON DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81

SCHIERSE, Franz Joseph: Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel, Düsseldorf/Stuttgart 21986

SCHOPENHAUER, Arthur: Der handschriftliche Nachlaß, hg. v. Arthur Hübscher, 5 Bände, München 1985 (N; der vierte Band wurde aus finanziellen Gründen in zwei Teilbände 4.I und 4.II gegliedert; bei Zitaten habe ich S p e r r d r u c k durch Kursivdruck ersetzt; Kursivdruck im Original ist mit [K] gekennzeichnet)

  • Sämtliche Werke, hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, 5 Bände, Frankfurt am Main 1986-89 (W)
  • Reisetagebücher, hg. v. Ludger Lütkehaus, Zürich 1988 (R)

SCHUBBE, Daniel / KOSSLER, Matthias (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2014

Gunthard Heller

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