Politikverdrossenheit: Wie man den Willen des Volkes ignoriert

Als nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich aus den Monarchien repräsentative Republiken wurden, war das ein großer und bedeutender Schritt, aber ein knappes Jahrhundert später erkennen viele Menschen, dass es eine unvollendete Revolution war.

Politische Marionetten wurden durch unzulänglich legitimierte andere Marionetten ersetzt. Sie waren machtlos gegen faschistische Diktaturen und ganz Europa musste dafür einen hohen Preis zahlen.

Aber bis heute scheinen die politischen Marionetten nicht zu begreifen, wie sehr sie auf der einen Seite Politikverdrossenheit fördern und auf der anderen Seite Widerstand herausfordern.

Um Regierungen bilden zu können, müssen sich Parteien heutzutage zu Koalitionen zusammenschließen. Der Kompromiss gehört zum politischen Alltag. Wahlversprechen überleben den Wahltag meist nicht lange.

Der Wählerwille wird damit oft leichtfertig geopfert. Das wird Gewohnheit. Wenn wir zwar wählen dürfen, aber die Gewählten dann mit diversen Ausreden doch das machen, was sie wollen, dann ist das eine Ursache von Politikverdrossenheit.

Politikverdrossenheit Wille des VolkesIn Österreich zeigt sich diese Verdrossenheit deutlich an dem Europa-Abgeordneten Hans Peter Martin, der keine Partei hinter sich hat, sondern nur zeitweise eine auflagenstarke Tageszeitung. Mit Kritik an den Machenschaften des EU-Parlaments kann man bequem mit einigen Mandaten in Straßburg Einzug halten.

Österreich hat zwar in den 90er Jahren, trotz einiger Bedenken in Sachen Neutralität, in einer Volksabstimmung – etwa mit Zweidrittelmehrheit – der EU-Mitgliedschaft zugestimmt, aber in der Zwischenzeit hat sich die Begeisterung über die europäischen Institutionen gelegt und die Zweifel werden immer deutlicher.

Vor allem aber irritiert die Ansicht, dass einmal eingegangene Bündnisse für immer unumkehrbar sein sollen. Das steht im deutlichen Widerspruch zur Verfassung, die besagt, dass das Volk der Souverän ist, und vom Volk geht alle Macht aus. Es muss die Frage gestellt werden, ob mit diesem – sogar demokratischen legitimierten Vertrag – die Volksmacht gegen die Macht der Bürokraten getauscht worden ist.

Was muss alles passieren, um aus solch einem Vertrag aussteigen zu können? Müssen diese Bürokraten erst einmal wegen ihrer mafiosen Verbrechen angeklagt und verurteilt werden? Oder müssen wir auf eine Zerstörung dieses Systems von außen hoffen, um wieder frei zu werden – so wie durch den Einsatz von Alliierten die Befreiung vom Hitlerfaschismus?

Historische Beispiele aus dem antiken Griechenland zeigen, dass Bündnisse, die keinen Ausstieg gewähren (wie der attisch-delische Bund, der Peloponnesische Bund), dann letztendlich nur in einem Krieg enden. Der Niedergang Griechenlands war geprägt durch Verrat und Tabubruch auf allen Seiten. Aber gerade das war die logische Antwort auf eine Doktrin, die behauptete, dass es zu den geschlossenen Bündnissen keine Alternativen geben würde, dass der eingeschlagene Weg unumkehrbar sei.

In Österreich liegt der erste erfolgreiche Widerstand gegen ein Bauvorhaben schon Jahrzehnte zurück. 1978 hat eine Volksabstimmung das Ergebnis gebracht, dass Österreich auf Atomkraft verzichten muss. Im Zuge dieser Entscheidung wurde nicht nur wie zum Trotz gleich nebenan ein Kohlekraftwerk hingestellt, sondern auch der Ausbau der Wasserkraft sollte beschleunigt werden.

Die damals Mächtigen kamen überein, dass der Naturschutz in der Stopfenreuther Au nicht mehr so wichtig sei. Ein Wasserkraftwerk an der Donau bei Hainburg wurde geplant und sollte realisiert werden. Mit Unterstützung einer Tageszeitung konnte die Frage des Naturschutzes so weit populär gemacht werden, dass der Widerstand gegen das Donaukraftwerk immer größere Teile der Bevölkerung begeisterte, mit der klammheimlichen Freude, dass Weisungen der Bezirkshauptleute vom Betretungsverbot des Baugeländes nicht mehr das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben waren.

Das Übertreten von Verordnungen wurde zum allseits beliebten Volkssport. Ein Polizeieinsatz gegen Naturschützer, die sich an Bäume angekettet hatten, um sie vor dem Umschneiden zu bewahren, entfachte dann letztendlich den Volkszorn, der dann die Regierung und die Betreiber zur Aufgabe des Projektes veranlasste. Sie hatten die Erkenntnis gewonnen, dass ein Projekt gegen den Volkswillen nicht zu machen ist.

Nicht immer endet der Unmut der Bevölkerung mit einem sichtbaren Erfolg. Selbst dann nicht, wenn alle Merkmale eines Skandals vorliegen. Die Anschaffung der Eurofighter durch die österreichische Regierung war pure Geldverschwendung. Die Empörung darüber war so groß, dass diese Entscheidung auch ein wesentlicher Grund für die Abwahl der Schüssel-Regierung war.

In einer besonderen Konstellation konnte sogar ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt werden, der Aufklärung zu den dubiosen Vorgängen bringen sollte. Doch weil die Partei, die das Anschaffungs-Desaster zu verantworten hatte, wiederum auf der Regierungsbank Platz nehmen durfte, wurde die Arbeit des Ausschusses nur von wenigen motivierten Abgeordneten betrieben, während eine Mehrheit sich wie völlig Unbeteiligte verhielt.

So entstand der Eindruck, dass der Griff in die Staatskasse für dubiose Geschäfte für die Mehrheit der Prüfer zu einem völlig normalen Vorgang zählt. Erst Jahre später beginnt sich die Justiz allmählich dafür zu interessieren. Und fast hat es den Anschein, als sollte weiterhin im Verborgenen bleiben, welch bedeutende Rolle die Korruption im Lande spielt.

Auch in diesem Fall sehen wir bekannte Muster. Ein Vertrag wird geschlossen, der angeblich keine Ausstiegsmöglichkeit vorsieht. Er muss von der Nachfolgeregierung umgesetzt werden, von einem Verteidigungsminister, der zuvor ein leidenschaftlicher Gegner dieser Anschaffung war. Er konnte lediglich in undurchsichtigen Nachverhandlungen einen kleinen Preisnachlass noch bewirken, aber die große Kröte der nutz- und wertlosen Flieger musste geschluckt werden.

Die Republik Österreich zahlt an eine Gesellschaft, die es nach ethischen und moralischen Überlegungen überhaupt gar nicht geben dürfte, die solche Produkte gar nicht erzeugen dürfte. Aber die Idee, aus Schwertern Pflüge zu machen, aus Stahlhelmen Blumentöpfe, die braucht offensichtlich noch ein wenig Zeit, um zu gedeihen. Sie ist zu konventionell, um sich in die Aura des antiautoritären Aufstandes einhüllen zu können.

Anders ist das aktuell beim Schwabenaufstand rund um „Stuttgart 21“.

Hier wurde in brutaler Weise der Denkmalschutz für den Kopfbahnhof zur Makulatur gemacht. Ein Konzept wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit durch mehrere beteiligte Gremien gejagt, um sich am Ende hinter unumkehrbaren vollendeten Tatsachen zu verstecken.

Obwohl es zum Zeitpunkt des Baubeginns noch viele ungeklärte Fragen gibt, ob so ein Projekt an diesem Standpunkt geologisch überhaupt durchführbar ist.

Aber Sachverstand ist ohnehin nicht gefragt, wenn der Ehrgeiz blind macht.

Wenn eine mafiose Gruppe ein Projekt unbedingt will, dann spielt auch der Preis keine Rolle mehr. Der unterirdische Bahnhof kann nun schon kosten, was er will, denn die Vertragspartner haben sich angeblich die Möglichkeit eines Ausstiegs selbst genommen.

Aber gerade die Aufforderung „Ihr müsst euch damit abfinden!“ wird dem Widerstand neue Nahrung geben. Es wurden Grundsatzentscheidungen getroffen, die gegen den Willen der Bürger sind. Denn wer braucht schon einen sündteuren Hauptbahnhof unter der Erde, der für den Nah- und Güterverkehr vollkommen unbrauchbar ist?

Da wird seit Jahrzehnten davon gesprochen, dass es Verkehrspolitik sein soll, den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen. Und dann ein Konzept, das alle diesbezüglichen Vorhaben völlig ignoriert.

Wie soll es eine Zustimmung der Menschen geben, welche die Bahn täglich zur Fahrt vom Umland ins Stadtzentrum brauchen konnten. Stattdessen soll ein Bahnhof entstehen, der eine Minderheit gut bedienen will, die heute in Stuttgart, morgen in München, übermorgen in Berlin arbeitet, also moderne Vagabunden, die eigentlich im Hotelzimmer daheim sind, und von denen moderne Soziologen annehmen, dass sie sehr bald ihr Nomadensein aufgeben und stattdessen von einem festen Büro per Videokonferenzen miteinander kommunizieren werden.

Daher entlarvt sich das hohle Gerede von einer notwendigen Zukunftsinvestition. Merkwürdig ist nur, dass als Nebenprodukt immer auch eine Anbindung eines Hauptbahnhofes mit einem Flugplatz herauskommen soll. Was in Stuttgart noch fehlt, ist ein Politiker, der nach Stoiberschen Vorbild eine flammende „Transrapid-Rede“ hält. Denn ein bisschen Unterhaltung sollte den Schwaben schon geboten werden.

Doch wie auch immer die Projekt-Politiker jetzt ihre Rolle spielen, es kann nur zu einer weiteren Eskalation kommen. Wenn der bislang eher leise Protest nicht ernst genommen wird, dann wird die Kreativität und Spontanität weiter herausgefordert und auf wesentlich mehr Schauplätze verlagert, bis hinein in die Familien, wo der Vater vielleicht Bauarbeiter ist, … oder Polizist, der die Baustelle von Protestierenden freihalten soll.

Wenn der Staat Familien in solcher Weise spalten will, dann wird ziviler Ungehorsam zum Markenzeichen dieser Gesellschaft. Was am nächsten Tag passieren wird, das wird vollkommen unvorhersehbar.

Zwei Modelle sind vorstellbar. Einmal konnte sich aus der Protestbewegung eine Organisation bilden, die versucht zu einigen, zu gestalten und zu lenken und in traditioneller Weise eine Gegenmacht darzustellen versucht. So wie die Gewerkschaften eine Gegenmacht darstellen wollen zu den Übergriffen der kapitalistischen Ordnung.

Die Erfahrungen in den Krisenjahren und vor allem mit gewählten Vertretern werden die Menschen aber vorsichtig sein lassen, ihren Delegierten ein allzu umfassendes Mandat zu geben. Denn die Kraft liegt immer nur in der Aktion, aber nicht an irgendeinem Verhandlungstisch.

Nur wenn in der Aktion schrittweise, aber unmissverständlich immer weitere Stufen der Eskalation aufgezeigt werden, dann kann und wird auch eine umfassende und demokratische Erneuerung des politischen Systems gelingen.

Günter Wittek