Jonathan Swift: Respektlose Schriften

Jonathan Swift (1667-1745), vor allem bekannt durch den satirischen Roman „Gullivers Reisen“ (1726), studierte Theologie in Dublin und wurde Geistlicher der Anglikanischen Kirche. Er schrieb außer dem „Gulliver“ auch noch andere Satiren sowie Flugschriften über Kirche und Politik.

Anselm Schlösser hat unter dem Titel „Respektlose Schriften“ „vor allem die kürzeren und prägnanteren Abhandlungen, Artikel und Flugschriften“ herausgegeben (Nachwort 303). Manche Überschriften und Untertitel hat er hinzugefügt.

Jonathan Swift

Er hat darauf verzichtet, „etwaige partielle Mißverständnisse vorwarnend auszuräumen“, da sie von Swift „mit eingeplant“ seien. „Wo er nicht geradezu ist, liebt er es, sein Publikum aufs Glatteis zu locken. Er betreibt Denktraining nach dem Prinzip: Es soll jeder selbst zusehen, wie er wieder festen Boden unter die Füße bekommt; wer das Gleichgewicht verliert, wird beim nächsten Mal besser achtgeben. In Swifts Schule lernt man seinen Verstand üben“ (Nachwort 305).

1. Abhandlung über die Technik der Stimulierung des Geistes

Swift befaßt sich mit religiösem Fanatismus und Schwärmerei, für die er vier mögliche Ursachen nennt:

  • Inspiration durch Gott;
  • Besessenheit durch den Teufel;
  • psychische Störungen und Affekte;
  • künstliche Induzierung durch spirituelle Techniken.

Er geißelt die Marotte des Näselns bei Geistlichen, die auf diese Weise ihrem leeren Geschwätz ein frommes Deckmäntelchen umhängen wollen. In einer Anmerkung erklärt er, wie es dazu kam: „Das Näseln von Leuten, die infolge unzüchtigen Lebenswandels ihrer Nase verlustig gegangen sind, soll den Anlaß zu jener Sprechweise gegeben haben, die bei unseren Dissenters so übermäßig beliebt war (W. Wotton)“ (S. 19).

Anschließend zeigt Swift anhand der Geschichte der Schwärmerei, daß Orgien in religiösen Sekten seit den Dionysien eine Rolle spielten.

2. Eine Abhandlung zum Nachweis dessen, daß die Abschaffung des Christentums in England nach Lage der Dinge mit einigen Nachteilen verbunden sein kann und vielleicht nicht die vielen guten Wirkungen hervorbringen wird, die man sich davon verspricht (1708)

Swift nutzt das Thema, um darzustellen, wie leer und äußerlich das Christentum zu seiner Zeit geworden ist. Er wendet sich gegen die Freigeister, die das Christentum im Besonderen und die Religion im Allgemeinen als Beschränkung empfinden, und preist satirisch die Vorzüge des Gottesdienstbesuchs: „Wo gibt es mehr galante Verabredungen und Rendezvous? Wo ist man mehr darauf bedacht, sich mit den schönsten Kleidern in der ersten Bank zu zeigen? Wo werden mehr Geschäfte besprochen? Wo wird mehr Handel aller Art getrieben? Und wo findet man so viel Bequemlichkeit oder Anreiz zum Schlafen?“ (S. 32)

Was Swift in dieser Hinsicht den anglikanischen Christen vorwarf, warf der 15-jährige Arthur Schopenhauer (1788-1860) in seinen Reisetagebüchern auch den Juden, Protestanten und dem Publikum in Opernhäusern vor. In einer portugiesischen Synagoge habe er lachen müssen, weil es dort „keine Spur von Andacht“ gegeben habe und „die ganze Gemeinde wie auf der Kornbörse“ gesprochen habe (S. 53). Beim Besuch von protestantischen Gottesdiensten vermißte er die Feierlichkeit. Und beim Opernbesuch störte ihn das Reden des Publikums während der Vorstellung.

3. Knappe Charakterisierung Seiner Exzellenz des Grafen Thomas von Wharton, Vizekönigs von Irland (1710)

Swift wendet sich gegen „Willkürherrschaft und Unterdrückung“ (S. 41), indem er illustriert, wie Thomas von Wharton willkürlich herrscht und unterdrückt. Wharton sei „gleichgültig für Lob und […] unempfindlich für Tadel“. Er sei scham- und ehrlos, saufe und hure. Er lüge am laufenden Band, widerspreche sich, besuche den Gottesdienst und lästere Gott. Er breche seine Schwüre. Er verspreche alles und halte nichts.

„Er hat sein Vermögen durchgebracht bei dem Versuch, ein Königreich zugrunde zu richten, und hat es wieder aufgebessert, indem er ein anderes weitgehend zugrunde richtete.“ Seine Gespräche setzen sich „nur aus Zoten, Flüchen und Fachsimpelei“ zusammen (S. 44). Er intrigiert und vernachlässigt seine Kinder. Er liebt Macht, Geld und Vergnügen.

4. Eine Abhandlung über die Kunst der politischen Lüge (1710)

Swift untersucht nur die moderne Form der politischen Lüge, „wie sie in den letzten zwanzig Jahren im südlichen Teil unserer Insel gepflegt worden ist“ (S. 47), also in der Zeit zwischen 1690 und 1710.

Das Hauptkennzeichen des politischen Lügners ist, daß er „wegen der ständig wechselnden Situationen“ „nur ein kurzes Gedächtnis“ brauche, da er „entgegengesetzte Meinungen durch Schwur bekräftigen muß, je nach Einstellung seiner jeweiligen Partner“ (S. 48f). Es gehe dabei nie darum, ob etwas richtig oder falsch sei, sondern nur darum, ob es nützlich sei.

Mit derartigen politischen Lügnern zu reden, sei sinnlos, da es unmöglich sei, die Wahrheit herauszufinden. Man könne sich nur vorstellen, „man habe einige unverständliche Laute gehört, die keinerlei Sinn haben“ (S. 49).

Lügen würden zwar schnell auffliegen, doch häufig reiche eine Stunde aus, um den angestrebten Zweck zu erreichen. Auch wenn dann die Wahrheit noch hinterher hinke, ändere das nichts mehr: „Der Hieb hat längst gesessen, und die Lügengeschichte hat ihre Wirkung getan“ (S. 50).

Besonders die Iren hätten vor lauter Lügen nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden können.

5. Über den unersättlichen Hunger nach Geld (1711)

Um die Korruption zu verhindern, schlägt Swift vor, habgierige Menschen „unbedingt von allen Stellen und Ämtern“ auszuschließen, in denen sie bestochen werden können (S. 60).

6. Brief an eine sehr junge Dame zu ihrer Heirat (1723)

Es wäre leicht, aus diesem Brief alle möglichen Stellen herauszupicken, um Swift als frauenverachtenden Macho zu verleumden. Doch das war er nicht. Seine Ansichten sind zeitlos und eilen nicht nur seiner, sondern auch unserer Zeit noch voraus.

Im Kern geht es ihm darum, an Frauen und Männer dieselben Anforderungen hinsichtlich Sittlichkeit und Bildung zu stellen. Denn die Schönheit vergeht, die Bildung bleibt. Frauen sollen darauf verzichten, Männer herunterzumachen, aber sie sollen ihnen auch nicht gute Eigenschaften zuschreiben, die sie gar nicht haben. Kurz: Swift plädiert für Ehrlichkeit im Umgang zwischen Mann und Frau.

Was zwei Seiten hat: Zärtlichkeiten will er in der Öffentlichkeit nicht sehen; Swift findet, daß jeden Tag genug Zeit dafür ist, ohne daß andere zuschauen. Dagegen kann man einwenden, daß eine Gesellschaft um so liebevoller wird, als Menschen auch zeigen, daß sie einander lieben. Für Swifts Haltung spricht in der Gegenwart, daß Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit auch Neid bei denen erregen können, die in keiner Beziehung leben.

7. Die Tuchhändlerbriefe (1724)

Swift warnt unter der falschen Identität eines Tuchhändlers seine Landsleute davor, das Geld von William Wood anzunehmen, da sein Materialwert nur einen Bruchteil des auf den Münzen eingeprägten Werts betrage. 108000 Pfund von Wood seien nur 8000 oder 9000 Pfund wert. Der König habe Wood zwar erlaubt, das Geld herzustellen, dürfe aber die Bevölkerung nicht zwingen, es anzunehmen. Außerdem wolle Wood mehr Geld in Umlauf bringen, als Irland brauche. Er habe die Kommission belogen, die über seine Erlaubnis entschied, und die Presse manipuliert. Außerdem habe er falsche Gerüchte gestreut.

Die Iren seien nicht gefragt worden. Sie hätten zwar Probleme, doch das Heilmittel dürfe nicht schlimmer als die Krankheit sein. Außerdem dürften Entscheidungen in Not nicht als Vorbild für Entscheidungen ohne Not dienen. Wer sich daran gewöhne, unterdrückt zu werden, vergesse, was es heiße, frei zu sein. Die Ablenkung von innenpolitischen Problemen durch außenpolitische Horrormeldungen zeige, wie verderbt eine Zeit sei.

Die Tuchhändlerbriefe machten Swift zum Nationalhelden. Rose Bafchem-Alent kommentiert: „Die englische Krone zog die Lizenz zurück, und Irland blieb von ‚Wood’s Half-Pence‘ verschont. Kaum je in der englischen Geschichte haben die Traktate eines einzigen Autors eine so unmittelbare politische Wirkung erzielt“ (KNLL 16/222).

8. Ein kurzer Überblick über die Lage Irlands (1727)

Swift nennt 14 Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit es einer Nation gut geht:

  • fruchtbarer Boden;
  • Fleiß;
  • sichere Häfen;
  • Schiffbau im eigenen Land aus eigenem Holz;
  • Handelsfreiheit;
  • Gesetze, denen das Volk zugestimmt hat;
  • Bodenverbesserung und Bevölkerungswachstum;
  • Stationierung der Regierung im eigenen Land;
  • Immigration;
  • Vergabe von Ämtern nur an Zuverlässige, vor allem Einheimische;
  • Einkäufe im eigenen Land;
  • Verwendung der Steuern im eigenen Land (Ausnahme: Krieg im Ausland);
  • kein Zwang zur Annahme fremder Münze;
  • Verwendung eigener Erzeugnisse.

9. Eine Abhandlung über die Geschicke von Geistlichen (1728)

Swift bedauert, daß sich unter den Geistlichen nicht die Besten, sondern die Schlauen durchsetzen: „In der Natur sehen wir, daß alles, was voller Leben und Geist ist, ohne Mühe nach oben steigt und nur schwer zu Fall gebracht wird, während schwere Körper nur mit Mühe aufsteigen und entsprechend ihrem Gewicht mit größerer Geschwindigkeit wieder herunterfallen; dagegen sehen wir, daß das Schicksal tagtäglich gerade umgekehrt verfährt“ (S. 254).

10. Bescheidener Vorschlag, wie man verhüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können (1729)

Swift schlägt vor, ein Sechstel der Kinder zu Zuchtzwecken aufzuziehen, davon ein Viertel Jungen und drei Viertel Mädchen, und den Rest aufzuessen.

Von anderen Lösungsvorschlägen zur Überwindung der Kinderarmut distanziert sich Swift vorgeblich (tatsächlich will er das eigentlich):

  • Grundbesitzer besteuern, die im Ausland leben;
  • nur einheimische Erzeugnisse verwenden;
  • ausländischen Luxus unterbinden;
  • den Frauen die Laster austreiben;
  • die Frauen tugendhaft machen;
  • die Heimatliebe fördern;
  • die zwischenmenschlichen Feindseligkeiten aufgeben;
  • Land und Gewissen“ bewahren;
  • die Grundbesitzer zu Milde gegenüber den Pächtern anhalten;
  • die Ladenbesitzer ehrlich, fleißig und kompetent machen (S. 226f).

Natürlich ist die Aufforderung zum Kannibalismus nicht ernst, sondern satirisch gemeint, und die Frage ist, was dahintersteckt: Es ist der zeitgenössische Umgang mit den Kindern, den Swift auf diese Art anprangert.

Philippe Ariès verlegt die Entdeckung der Kindheit ins 17. Jahrhundert: Davor „kannte die mittelalterliche Kunst die Kindheit entweder nicht oder unternahm doch jedenfalls keinen Versuch, sie darzustellen.“ Den Grund dafür sieht Ariès darin, „daß in jener Welt kein Platz für die Kindheit war“ (S. 92).

Kinder seien vor dem 17. Jahrhundert als kleine Erwachsene betrachtet und auch wie diese gekleidet worden. „Das legt den Gedanken nahe, daß die Kindheit nicht nur in der ästhetischen Darstellung, sondern auch in der Lebenswirklichkeit nur eine Übergangszeit war, die schnell vorüberging und die man ebenso schnell vergaß“ (S. 93).

Die Kindersterblichkeit war hoch. „Die Vorstellung, daß solch ein Kind bereits eine vollständige menschliche Persönlichkeit verkörperte, wie wir heute allgemein glauben, kannte man nicht. Zu viele starben“ (S. 99).

Aries beschreibt drei Einstellungen der Erwachsenen zu den Kindern:

  • Sie dienten wie Schoßhunde der Zerstreuung.
  • Sie sollten zu vernünftigen Erwachsenen erzogen werden.
  • Erst seit dem 18. Jahrhundert bemühten sich die Erwachsenen um die Sauberkeit und Gesundheit der Kinder.

Joseph E. Illick schildert die Erziehung der Kinder in England im 17. Jahrhundert folgendermaßen: Kinder wurden von den Müttern und in der Schule geschlagen. Viele Väter „zogen […] es vor, ihre Kinder nicht zu kennen“ (S. 439). Eltern hielten Abstand zu ihren Kindern, um deren Respekt nicht zu verlieren.

Über das Wesen der Kinder gab es entgegengesetzte Ansichten: Die einen meinten, man müsse sie erziehen, damit sie sich nicht selbst zerstörten. Die andern hielten sie für unschuldig und dachten, die Erziehung sei als Schutz vor der bösen Umwelt notwendig.

Illick betrachtet die „Vorstellungen über Unschuld oder Verdorbenheit der Kindheit“ als „elterliche Projektionen von Hilflosigkeit oder Wut angesichts des Todes […], über den man keine Macht hatte. […] Tatsächlich entstand im siebzehnten Jahrhundert eine Kinderliteratur, die sich mit dem bevorstehenden Tod beschäftigte“ (S. 441f).

Es ist anzunehmen, daß Swift die „Gedanken über Erziehung“ von John Locke (1632-1704) kannte – in den Tuchhändlerbriefen rechnet er ihn unter die gefährlichen Autoren, was sich nicht auf den „Versuch über den menschlichen Verstand“ beziehen kann. Natürlich kommen auch der „Brief über Toleranz“ (1689) und die beiden „Abhandlungen über die Regierung“ (1689) als gefährliche Schriften in Frage, die beide nach Lockes Rückkehr aus dem niederländischen Exil anonym erschienen. Auch die „Gedanken über Erziehung“ (1692) erschienen anonym, wurden aber „in ganz Europa ein Erfolg“ (Euchner 14).

Swift schreibt, er sei „seit langem mit den Schriften […] Mr. Lockes […] und anderer gefährlicher Autoren vertraut gewesen, die von der Freiheit als von einer Segnung reden, auf die das ganze Menschengeschlecht einen originären Anspruch besitzt, den man ihm nur durch ungesetzliche Gewalt entziehen kann“ (S. 191).

Er „hielt es stets für den unwiderlegbarsten und allgemein anerkannten Grundsatz, daß die Freiheit eines Volkes darin besteht, daß es durch Gesetze regiert wird, die mit seiner eigenen Zustimmung erlassen wurden, und die Sklaverei im Gegenteil“ (S. 192).

Locke gestand diese Freiheit auch den Kindern zu, denn er war der Meinung, daß sklavische Zucht „eine sklavische Lebensart“ erzeugt. „Das Kind unterwirft sich und heuchelt Gehorsam, solange die Furcht vor der Rute über ihm schwebt. Wenn diese aber entfernt ist und es sich Straffreiheit verspricht, weil niemand zusieht, läßt es seiner natürlichen Neigung um so freieren Lauf“ (S. 48).

Das betrachte ich als den Hintergrund von Swifts Einstellung gegenüber den Kindern, und vor diesem Hintergrund habe ich seine Kannibalismus-Satire interpretiert.

Anselm Schlosser interpretiert den vorliegenden Text in seinem Nachwort als Angriff auf die Gutsbesitzer, die Swift „offen der Menschenfresserei“ beschuldige (S. 318). Das belegt Schlosser doppelt:

  • mit zwei Versen aus den „Versen auf den Tod von Dr. Swift“ (S. 288-302): „‚Oft nahm vergeblich er voll Zorn / Die Gutsbesitzerpest aufs Korn'“ (S. 301);
  • und folgender Stelle aus dem vorliegenden Text: Kinder seien als „Speise […] für Grundbesitzer besonders geeignet; denn da sie bereits die meisten Eltern verschlungen haben, steht ihnen gewiß auch das erste Anrecht auf die Kinder zu'“ (S. 222).

Die Redaktion von Kindlers Literatur-Lexikon charakterisiert Swifts Satire als „deutliche Parodie der zu Anfang des 18. Jh.s besonders umfangreichen Flugschriftenliteratur“, die „die damals gerade erst entdeckte Methode“ verspottete, „politische Probleme mit Hilfe der Bevölkerungsstatistik zu untersuchen. Im Hintergrund steht die Lehre des Merkantilismus, daß eine hohe Einwohnerzahl ein großes Reservoir an Arbeitskräften biete und damit eine Quelle des nationalen Wohlstandes darstelle.“ Die „Schuldigen“ seien „die englischen Politiker und die Großgrundbesitzer“ (KNLL 16/224).

11. Ein ernsthafter und brauchbarer Plan zur Schaffung eines Hospitals für Unheilbare, von allgemeinem Nutzen für alle Untertanen Seiner Majestät (1733)

Swift schlägt die Einrichtung einer psychiatrischen Klinik für unheilbare Narren, Spitzbuben, Xanthippen, Schreiberlinge, Gecken, Ungläubige, Lügner, Neider und Eitle vor. Ihm schwebt dabei eine Zahl von 200 000 Insassen vor, deren Unterhalt pro Tag 10 000 Pfund betrage. Das sind im Jahr also 3 650 000 Pfund, die Swift durch Spenden und Steuern aufbringen will. Im Prinzip geht es um die Entsorgung unbequemer Angehöriger, indem man sie einsperrt.

Das Ganze ist natürlich satirisch zu verstehen. Ich interpretiere es als Kritik an der zeitgenössischen Psychiatrie, die genau den von Swift angegebenen Zweck hatte. Swift selbst äußert nur Bedenken, daß das gesellschaftliche Leben zusammenbrechen könnte, wenn man alle einsperren würde, die es verdienen. Das seien so gut wie alle, da jeder jemand kenne, sich selbst aber zu Unrecht ausnehme. Auch das Geld würde nicht reichen. Deshalb die zahlenmäßige Beschränkung der Insassen.

Michel Foucault (1926-1984) meint, es sei „allgemein bekannt, daß im siebzehnten Jahrhundert große Häuser zur Internierung geschaffen worden sind; weniger bekannt ist, daß darin von den Pariser Einwohnern mehr als einer je Hundert mehrere Monate eingeschlossen war“ (S. 71).

Den Beginn dieser Internierungspraxis datiert Foucault auf das Jahr 1656, in dem in Paris das Hôpital général gegründet wurde. Er charakterisiert es so: „Nahezu absolute Souveränität, Rechtsprechung ohne Berufung, das Recht zur Exekution, gegen das nichts unternommen werden kann – das Hôpital général ist eine eigenartige Macht, die der König zwischen der Polizei und der Justiz an den Grenzen des Gesetzes etabliert: die dritte Gewalt der Repression“ (S. 73).

Die Pariser Institution, die „‚Bettelei und Müßiggang als Quellen jeglicher Unordnung'“ verhindern sollte (S. 81), war nicht die einzige: „In ganz Frankreich werden Hôpitaux généraux eröffnet. Vor der Revolution sind es 32 in den Provinzstädten“ (S. 74). Foucault vergleicht die Erfindung der Internierung mit der „Absonderung der Leprakranken“ im Mittelalter. „Dieses Phänomen hat […] europäische Ausmaße. […] In anderen Ländern vollzieht sich die Internierung in anderen Formen, läßt sich aber für die gleiche Epoche nachweisen“ (S. 77).

In Deutschland entstehen die Zuchthäuser, das erste „gegen 1620 in Hamburg“. „In England liegen die Anfänge der Internierung früher“: 1575 wurde „die Errichtung von houses of correction“ erlassen, „wovon jede Grafschaft mindestens eines haben soll. Ihre Unterhaltung soll durch Steueraufkommen gesichert werden, aber die Bevölkerung wird aufgefordert, auch freiwillige Spenden zu leisten“ (S. 77f).

Ein paar Jahre später wurde diese Art der Internierung privatisiert. Jeder konnte ohne „offizielle Erlaubnis“ ein Krankenhaus oder eine Besserungsanstalt eröffnen. Friedensrichter, die das versäumten, mußten fünf Pfund Strafe zahlen. Es wurde unterschieden zwischen Gefängnissen (bridewells) und Arbeitshäusern (workhouses) (S. 78). Insassen, die an einer Infektionskrankheit litten, wurden ausgeschlossen.

Am Ende des 18. Jahrhunderts war John Howard darüber entrüstet, „daß man hinter denselben Mauern nach allgemeinem Recht Verurteilte, Jugendliche, die die Ruhe ihrer Familie störten oder deren Vermögen verschleuderten, Vagabunden und Geisteskranke gefangenhalten kann“ (S. 79).

Foucault kommentiert: „In einhundertfünfzig Jahren ist die Internierung mißbräuchlich zum Amalgam heterogener Elemente geworden“ (S. 79). „Man hat ein ganzes, in unseren Augen seltsam gemischtes und zusammengewürfeltes Volk bestimmt, die seit langem von den Leprakranken verlassenen Flächen zu bewohnen“ (S. 80).

Der dahinterstehende Gedanke in Frankreich war, die Bettler nicht mehr gemäß einem Parlamentsbeschluß (1606) auszupeitschen, zu brandmarken und wegzujagen, sondern sich ihrer um den Preis ihrer Freiheit anzunehmen. Der Deal lautete also: Unterkunft und Essen gegen Freiheit. „Es ist nicht ohne Bedeutung, daß die Wahnsinnigen in die Verfolgung des Müßigganges mit einbezogen werden“ (S. 91).

© Gunthard Rudolf Heller, 2022

Literaturverzeichnis

ARIÈS, Philippe: Geschichte der Kindheit, aus dem Französischen von Caroline Neubaur und Karin Kersten, München 71978

EUCHNER, Walter: John Locke zur Einführung, Hamburg 22004

FOUCAULT, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1973

ILLICK, Joseph E.: Kindererziehung in England und Amerika im siebzehnten Jahrhundert, übersetzt von Christel Beier, in: Hört ihr die Kinder weinen – Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, hg. v. Lloyd deMause, Frankfurt am Main 1980, S. 422-489

KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996 (KNLL)

LEXIKON DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988

LOCKE, John: Gedanken über Erziehung. Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Heinz Wohlers, Stuttgart 2007

SCHOPENHAUER, Arthur: Reisetagebücher, Zürich 1988

SWIFT, Jonathan: Respektlose Schriften, aus dem Englischen von Gottfried Graustein und Otto Wilck, bearbeitet von Horst Höhne und Roland Arnold, herausgegeben und mit einem Nachwort von Anselm Schlösser, Leipzig 1979

– Gullivers Reisen in ferne Länder, Frankfurt am Main o.J.

WILPERT, Gero von (Hg.): dtv-Lexikon der Weltliteratur – Autoren, 4 Bände, München 1971

Gunthard Heller

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