Hans-Martin Lohmann (Hg.): Psychoanalyse und Nationalsozialismus

In einer Welt, die von Vergessen und Geschichtslosigkeit geprägt scheint, wie sie George Orwell in „1984“ beschreibt, öffnet dieser Text ein Fenster zur Bedeutung der Psychoanalyse als Werkzeug der Erinnerung und Aufarbeitung. Herausgeber Hans-Martin Lohmann und weitere Autoren wie Margarete Mitscherlich-Nielsen und Helmut Dahmer tauchen tief in die Schatten der Vergangenheit, insbesondere des Nationalsozialismus, ein und beleuchten, wie durch Psychoanalyse verdrängte Trauerarbeit und Selbstkritik gefördert werden können.

Aufarbeitung statt Verdrängung

Der Herausgeber Hans-Martin Lohmann betrachtet in seiner Vorbemerkung die Psychoanalyse als Mittel gegen eine Welt, die Orwell in „1984“ darstellt. An die Stelle einer Menschheit ohne Gedächtnis und Geschichte könnten mit Hilfe der Psychoanalyse Erinnerung und Aufarbeitung treten.

Psychoanalyse und Nationalsozialismus

Margarete Mitscherlich-Nielsen vermißt im Umgang mit dem Nationalsozialismus die Trauerarbeit. Stattdessen werde verdrängt, verleugnet und projiziert. Doch es komme auf Selbsterkenntnis und Selbstkritik an.

Helmut Dahmer fragt anhand der gleichnamigen Fernsehserie nach der Funktion des Holocaust für die Nationalsozialisten. Seine Antwort: Die Nationalsozialisten waren Mittelständler, die gleichzeitig gegen die Kommunisten (Sozialisten, Arbeiter, Marxisten) und Großkapitalisten kämpften. Aus diesen beiden Feinden hätten sie quasi die Juden als Synthese geschaffen.

Helmut Dahmer und Lutz Rosenkötter kritisieren einen Vortrag von Hermann Lübbe, weil er „sich einer Tabu-Sprache“ bediene, „in der selten etwas bei seinem richtigen Namen genannt wird, in der ‚man‘ einander verstohlene Winke mit dem Zaunpfahl gibt, dem Gegner ein Bein stellt oder ihn im Gedränge rempelt, statt ihn offen anzugreifen“ (S. 31).

Zur Geschichte der Psychoanalyse im Dritten Reich

Käthe Dräger, Lohmann und Rosenkötter, Elisabeth Brainin und Isidor J. Kaminer berichten über das Schicksal der Psychoanalyse während des Dritten Reichs.

Es ergibt sich folgendes Bild: Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) bestand zur Hälfte aus Juden, die im Zug der Gleichschaltung ausgeschlossen werden mußten. Es gab Emigration, Kollaboration, passiven und relativ wenig aktiven Widerstand.

C.G. Jung kollaborierte und rechnete schon 1934 „mit der dekadenten Psychoanalyse jüdischer Observanz“ ab: „‚Das arische Unbewußte hat ein höheres Potential als das jüdische'“. Freud, der ihn des Antisemitismus verdächtigte, habe die germanische Seele nicht gekannt, deren Kraft erst der Nationalsozialismus an den Tag gebracht habe. C.G. Jung hielt die Lehren von Freud und Adler insofern für zersetzend, als sie spezifisch jüdisch waren (S. 57).

„Am 28. März 1936 wurde der Internationale Psychoanalytische Verlag in Leipzig von der Gestapo beschlagnahmt und liquidiert“ (S. 62). Martin Freud konnte ihn in Wien noch zwei Jahre weiterführen. Freud duldete eine mäßige Kollaboration und hatte nichts dagegen, daß die Psychoanalysestudenten am Deutschen Institut für psychologiche Forschung und Psychotherapie die Theorien von C.G. Jung lernten. Er hatte auch nichts dagegen, daß in Deutschland sein Name nicht genannt wurde, sofern nur sein Werk nicht verfälscht wurde. Die Nationalsozialisten hielten die Psychoanalyse immerhin für nützlich.

Lohmann und Rosenkötter kommen zu dem Schluß, „daß damals, von Ausnahmen abgesehen, eine ganze Generation von Psychoanalytikern politisch blind war“ und einen hohen Preis dafür zahlte (S. 65).

Psychoanalytiker beteiligten sich auch an Kongressen der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) mit dem Vorsitzenden Matthias Heinrich Göring (1879-1945), einem Vetter von Hermann Göring. Zur Satzung der AÄGP gehörte ein Treuegelöbnis gegenüber Hitler und die Zensur aller Aussagen durch den Vorsitzenden. Göring setzte bei Mitgliedern, die als Autoren oder Redner tätig waren, die Lektüre und Anerkennung von Hitlers „Mein Kampf“ voraus.

Lohmann und Rosenkötter kommentieren: „Eine wissenschaftliche Gesellschaft hatte sich also der Freiheit des Denkens und der Kritik entledigt und sich auf Befehl und Gehorsam eingeschworen“ (S. 66).

1936 wurde das Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie e. V. gegründet, in dem Freuds Werke in einem Schrank eingeschlossen waren. Um Zugang zu bekommen, mußten Kandidaten ihre Unterschrift geben.

Am 13. März 1938 beschloß die Wiener Psychoanalytische Vereinigung, Österreich zu verlassen. Der Internationale Psychoanalytische Verlag wurde aufgelöst. Freud emigrierte über Paris nach London. Am 20. März 1938 beschloß die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft, in die DPG einzutreten. Nichtarier wurden ausgeschlossen. Am 25. August 1938 wurde die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft aufgelöst. Im November 1938 wurde die DPG in die AÄGP eingegliedert. Die Psychoanalyse überlebte innerhalb der AÄGP und gewann sogar zunehmend an Einfluß. Ab 30. September 1939 wurde die AÄGP vermehrt von der Deutschen Arbeitsfront kontrolliert und verlor ihren Status als eingetragener Verein.

Was will die Psychoanalyse?

Hans Müller-Braunschweig und Helmut Dahmer kritisieren einen Aufsatz von Carl Müller-Braunschweig mit dem Titel „Psychoanalyse und Weltanschauung“ (1933) dahingehend, daß er opportunistisch sei. Tatsächlich bereute Carl Müller-Braunschweig später diesen Aufsatz und sagte zu seinem Sohn Hans, „er habe damals versucht, ‚die Psychoanalyse den neuen Machthabern schmackhaft zu machen'“ (S. 114).

Folgender Satz stößt den Kritikern auf: „Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebes- und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern des Ganzen umzuformen“ (S. 111f).

Hans Müller-Braunschweig kommentiert: „Wenn man diese Sätzeheuteliest, klingen sie […] entweder lächerlich oder naiv oder pathetisch oder opportunistisch-charakterlos, vielleicht sogar erschreckend.“ Warum? „Wir erleben derartige Äußerungen heute mit dem Wissen über alles Schreckliche, wasdanachgeschah – bis hin zu Auschwitz“ (S. 113).

Für Helmut Dahmer ist der Text ein „Mißgriff“ und eine „skandalöse Kuriosität“, ein „lehrreiches Symptom einer fatalen Entwicklung.“ Die Psychoanalyse werde auf Psychotherapie reduziert und identifiziere sich mit dem Aggressor Hitler, um selbst zu überleben. Der Text sei eine „konformistische Kapitulation“. Warum? Das kritische Denken werde unterdrückt, die Aufklärung werde von Fremdem umstellt, gesellschaftliche Sprachregelungen würden respektiert, Illusionen toleriert. Damit falle man „hinter ein mögliches Niveau von Einsicht“ zurück (S. 121).

Als ich den Text von Carl Müller-Braunschweig las, stieß mir zuerst nichts auf. Ich war überrascht, mit welch einfachen Worten er Vorurteile über die Psychoanalyse abbaut. Als ich die Kritik von Hans Müller-Braunschweig und Hans Dahmer las, gewann ich den Eindruck, daß sie in dem Text etwas sahen, das gar nicht darin stand. Sie durchtränkten den Text mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Doch davon wußte 1933 nur derjenige etwas, der „Mein Kampf“ gelesen hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß viele es lasen. Sonst hätte die NSDAP am 5. März 1933 nicht 43,9% der Wählerstimmen bekommen.

Das Zitat über die Ziele der Psychoanalyse könnte aus „Mein Kampf“ stammen, doch das bedeutet nicht viel. Es ist ähnlich wie mit den pädagogischen Gedanken von Elsa Brändström: Als Marie Gallison-Reuter Hitler erzählte, Brändström „habe eine Reihe von Jahren vor ihm seine Gedanken über die Erziehung der jungen Generation in die Tat umgesetzt“, war Hitler begeistert und wollte Brändström sehen, ausgerechnet an dem Tag, an dem Brändström und ihr Mann Robert Ulich in die USA auswandern wollten. Doch Brändström schickte Hitler ein Telegramm mit folgendem Wortlaut: „‚Nein, Elsa Brändström-Ulich'“ (Padberg 151).

Was ich damit sagen will: Es geht eigentlich nicht um das Zitat, sondern um den Entschluß zur Kollaboration. Trotzdem interessiert mich das Zitat: Werden die Ziele und Zwecke der Psychoanalyse inhaltlich korrekt dargestellt oder nicht? Was soll schlecht daran sein, Schwächen in Stärken umzuwandeln?

In der Psychoanalyse geht es darum, das bisher Unbewußte bewußt zu machen (Freud I 381; XI 404, 451).

  • Sie will Amnesien aufheben, Verdrängungen rückgängig machen, das Unbewußte dem Bewußtsein zugänglich machen, den psychischen Allgemeinzustand heben (V 8; XI 451f).
  • Es geht darum, das Rätsel der Psychoneurosen zu lösen, um deren Existenz unmöglich zu machen (VIII 112).
  • Der Kranke soll lernen, auf Arten des Lustgewinns zu verzichten, die ihm schaden, und stattdessen Formen der Befriedigung finden, die sicherer sind (X 365).
  • Er soll lernen, vorurteilsfrei mit der Sexualität umzugehen. Er soll sich selbst erkennen und so werden, „wie er bestenfalls unter den günstigsten Bedingungen hätte werden können“ (XI 451f).
  • Die Psychoanalyse soll den Konflikt „zwischen den ins Ich aufgenommenen Trieben […] und den Anteilen derselben Triebe“ lösen, welche vom verdrängten Unbewußten her […] nach ihrer direkten Befriedigung streben“ (XIII 161). Sie soll „einen Konflikt des Triebs mit dem Ich oder einen pathogenen Triebanspruch an das Ich […] dauernd und endgültig […] erledigen“ (XVI 68).
  • „Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden“ (XV 86).
  • Die Psychoanalyse lehrte „uns die Gegnerschaft verstehen, die uns die Mitwelt bewies, weil wir Psychoanalyse trieben“ (XV 156).
  • Die Psychoanalyse will seelische Störungen durch Verständnis heilen (XV 156).
  • Die Psychoanalyse soll die Geisteswissenschaften und die Pädagogik vertiefen (XV 156f).
  • Sie soll Verdrängungen durch reife Reaktionen ersetzen (XVI 44), „durch zuverlässige, ichgerechte Bewältigungen“ (XVI 73). Dazu muß dieses Verdrängte erst einmal bewußt gemacht werden (XVI 84).
  • „Man wird sich nicht zum Ziel setzen, alle menschlichen Eigenarten zugunsten einer schematischen Normalität abzuschleifen oder gar zu fordern, daß der ‚gründlich Analysierte‘ keine Leidenschaften verspüren und keine inneren Konflikte entwickeln dürfe. Die Analyse soll die für die Ichfunktionen günstigsten psychologischen Bedingungen herstellen; damit wäre ihre Aufgabe erledigt“ (XVI 96).

Jetzt lesen wir nochmals den Satz von Carl Müller-Braunschweig: „Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen, Instinktgehemmte zu Instinktsicheren, lebensfremde Phantasten zu Menschen, die den Wirklichkeiten ins Auge zu sehen vermögen, ihren Triebimpulsen Ausgelieferte zu solchen, die ihre Triebe zu beherrschen vermögen, liebesunfähige und egoistische Menschen zu liebes- und opferfähigen, am Ganzen des Lebens Uninteressierte zu Dienern des Ganzen umzuformen“ (S. 111f).

Der Unterschied ist klar: Hitler wollte Kampfmaschinen, „flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ (zit. n. Picker 522; vgl. a. „Mein Kampf“ S. 392). Carl Müller-Braunschweig sagte: Diese Kampfmaschinen liefern wir Ihnen mit Hilfe der Psychoanalyse. Freud wollte bewußte Individuen, Selbst- und Welterkenntnis. Das alles wollte Hitler nicht. Denn bewußte Individuen gehorchen einem Diktator nicht und legen auch kein Treuegelöbnis ab. Sie wollen frei und selbstbestimmt leben. Sie wollen sich nicht als Mörder mißbrauchen lassen.

Jetzt können wir verstehen, daß Carl Müller-Braunschweig sich nicht nur anbiederte, sondern die Ziele der Psychoanalyse geradezu verfälschte. Er tat also recht daran, seinen Aufsatz zu bereuen.

Helmut Dahmer weist darauf hin, daß von den Nationalsozialisten mindestens 15 Psychoanalytiker umgebracht wurden. Der Aufsatz von Carl Müller-Braunschweig erschien im „Reichswart“, dessen Titelseite seit dem 6. August 1932 ein Hakenkreuz schmückte. Im selben Heft war auch ein Auszug aus „Von den Jüden und ihren Lügen“ (1543) von Martin Luther abgedruckt.

Die Auseinandersetzung von John F. Rittmeister mit C. G. Jung

Ludger M. Hermanns druckt einen bisher unveröffentlichten Vortrag von John F. Rittmeister (1898-1943) ab, den er Mitte der 1930er Jahre in Zürich hielt. Ab 1939 leitete Rittmeister die Poliklinik des Deutschen Instituts für Psychotherapie und psychologische Forschung in Berlin leitete. Er gehörte zur einer Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen (1909-1942) und Arvid Harnack (1901-1943), die von der Gestapo alsRote Kapellebezeichnet wurde. Am 26. September 1942 wurde Rittmeister verhaftet, am 12. Februar 1943 „wegen Feindbegünstigung“ zum Tod verurteilt, am 13. Mai 1943 mit dem Fallbeil hingerichtet (Klee 501).

Für Rittmeister ist C. G. Jung einer der Kreuzfahrer „gegen die zersetzende Wissenschaft, gegen den Teufel der lebenstötenden Vernunft“ (zit. n. Lohmann 146). Jungs Verhältnis zu Freud vergleicht er mit dem Verhältnis von Marx zu Hegel. Jung habe „in die Libido den dynamischen Gedanken der Enantiodromie“ hineinverwoben, den Gedanken „der Entwicklung in Gegensätzen […], ohne allerdings je das Wort ‚Dialektik‘ anzuwenden“ (S. 147).

„Jung hat richtig gesehen, daß das dialektische Prinzip mit all seinen Konstellationsmöglichkeiten beim Menschen in zahlreichen Formen auftauchen kann, eingesenkt in merkwürdige Bilder, die die Phantasie, die Kunst, der Traum präsentiert, Symbolen, die nicht aus dem individuellen, infantilen Leben, sondern vielmehr aus dem phylogenetischen Dasein der Vorfahren, gleichsam ein spätes Erbgut zu stammen scheinen“ (S. 147f).

Jung nannte diese „dialektischen Urbilder“ „Imagines oder Archetypen“ (S. 148). Rittmeister beruft sich auf Lenin, wenn er behauptet, daß „von der dialektischen Bewegung nichts ausgenommen ist“, also auch die Archetypen nicht (S. 149). Er betont eigens, daß sich nicht nur der Mensch, „sondern auch die ganze Natur“ dialektisch entwickle (S. 148). Die Archetypen würden in der Kindheit ausgebildet, was nicht ausschließe, daß sie „Ähnlichkeit mit anderen frühmenschlichen Schemata haben können“ (S. 149).

Rittmeister wirft Jung die Isolierung der Archetypen vor, die lediglich Abstraktionen seien. Jung sei ein Idealist, der die Welt aus seiner persönlichen Erfahrung heraus erkläre. Bei Jung würden sich Dinge und Menschen nicht aus sich, „aus den ihnen selbst innewohnenden Widersprüchen heraus“ bewegen, sondern aus Gott. Doch die Dialektik sei die „Wurzel aller Lebendigkeit und aller Bewegung“ (S. 150). Bei Jung sei „nicht nur die Außenwelt, sondern auch Gott in die Subjektivität hinuntergerutscht“ (S. 151).

Jung übersehe „die soziologische Gesetzmäßigkeit“ (S. 153). Seine Philosophie liefere „den Kriegstreibern, den reaktionären Junkern und Pfaffen, den Ausbeutern und Menschenschindern Argumente“ (S. 155). Sie breche ungefestigten Menschen noch mehr das Rückgrat als Religion und Theologie und würde sie in der Abwendung von der Wirklichkeit bestärken.

Probleme der Begutachtung des KZ-Traumas

K. R. Eissler fragt: „Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?“ (1963)

Der Hintergrund sind Schadensersatzprozesse von Opfern, die in den USA leben, vor deutschen Gerichten. Amerikanische Psychiater schreiben in ihren Gutachten in der Regel, daß die Leiden der Opfer von ihrer Verfolgung durch die Nationalsozialisten herrühren, während deutsche Psychiater behaupten, diese Leiden seien anlagebedingt. Die Folge: Die Klage wird abgewiesen oder der Entschädigungsanspruch wird verringert.

Auf die Frage verminderter Erwerbsfähigkeit und auf Fragen der Diagnostik geht Eissler nicht ein. Denn Diagnosen würden „in den meisten Fällen mehr von der Schule, aus der der Psychiater stammt, als von den Eigentümlichkeiten des Falles abhängen“ (S. 160).

Eissler kritisiert das materialistische Denken vieler Gutachter und Richter, die „die Geltung nichtkörperlicher Werte“ verleugnen. „Sie glauben anscheinend ernsthaft, daß ein voller Magen die richtige Medizin für eine tiefe Trauer ist“ (S. 189). „Tatsache ist, daß, wenn jemand ein Haus oder eine Fabrik verloren hat, sein Schaden als größer angesehen wird, als wenn er seine Kinder verloren hat“ (S. 197).

Er kritisiert auch die Inflation des Schizophreniebegriffs in den USA und vermutlich Mitteleuropa, „da bizarres Verhalten oder ungewöhnliche Symptome allein schon zu seiner Anwendung führen. Dies ist natürlich mit dem, wasBleulerim Sinne hatte, unvereinbar“ (S. 199).

Eugen Bleuler (1857-1939) ersetzte Kraepelins DiagnosebegriffDementi praecoxdurch die Bezeichnung „Schizophrenie(= Spaltungsirresein) […], weil ihm die elementarsten Störungen in einer mangelhaften Einheit, in einer Zersplitterung und Aufspaltung des Denkens, Fühlens und Wollens und des subjektiven Gefühls der Persönlichkeit zu liegen schienen. Es schien ihm nicht, daß man aus den Gemeinsamkeiten der Symptomatologie und des Verlaufes schon auf eine Krankheitseinheit schließen dürfte; deshalb sprach er nicht voneinerKrankheit Schizophrenie, sondern von einerGruppe von Schizophrenien“ (Bleuler 356).

Eissler weist darauf hin, „daß die Widerstandskraft gegen psychotische Erkrankungen durch die Umwelt gestärkt oder geschwächt werden kann. Die Reduktion des Abwehrpotentials durch die psychische und körperliche Mißhandlung im Konzentrationslager kann nicht geleugnet werden“ (S. 199). Doch von Schizophrenie „sollten wir doch nur sprechen, wenn wir sicher sind, daß auch ein endogener Faktor wesentlich beteiligt ist“ (S. 200).

Er führt auch ein psychiatrisches Paradoxon an: „Von der Beobachtung eines Falles her erscheint es mir möglich, daß eine bestimmte Form der Schizophrenie im Konzentrationslager relativ symptomfrei wurde, daß solche Kranke sich also im Zustand größter Gefahr psychisch erholen mögen. Ich habe eine ähnliche Beobachtung bei einem ehemaligen Soldaten gemacht. […] Beide Personen entwickelten natürlich ihre früheren Symptome wieder, sobald sie sich außerhalb der Gefahr befanden“ (S. 192).

Laut Eissler „stimmen eigentlich fast alle darin überein, daß die Religion einen besonderen Schutz gegen die Neurose bietet.“ Doch „der Durchschnittsmensch“ bedürfe „eines Minimums an Wohlergehen […], um seine religiöse Einstellung zu bewahren“ (S. 185). Tatsächlich haben manche KZ-Überlebende ihre Religion verloren.

Seine eingangs gestellte Frage beantwortet Eissler nicht konkret, sondern nur allgemein: Er nimmt an, daß es eine obere „Grenze der Belastungsfähigkeit durch Traumen“ gibt (S. 205).

Ilse Grubrich-Simitis faßt die „Extremtraumatisierung im Konzentrationslager“ zusammen. Ich reduziere ihre Aufzählung auf Stichwörter: Isolation, Trennungsangst, „Miterleben von Folter und Mord“, Todesangst, Reinfantilisierung durch das Versagen der Eigeninitiative, Aufhebung der Privatsphäre, des Kausalitätsprinzips und der Zeitmessung, „permanente Entwürdigung und Erniedrigung als zu vernichtende Minorität“ (S. 215).

Auf eine Formel gebracht: „wo Ich war, sollEswerden“ (S. 216) – so stellten die Nationalsozialisten Freuds Psychoanalyseziel auf den Kopf.

Lutz Rosenkötter bemerkt, daß die Psychoanalyse „totalitären Regimen im allgemeinen verdächtig oder unannehmbar“ sei (S. 237). Anhand von Fallskizzen kommt er zu dem Schluß, „daß es ein spezifisches ‚Nazi-‚ oder ‚Verfolger-Syndrom‘, etwa vergleichbar dem erschütternden Überlebenden-Syndrom, […] nicht gibt“ (S. 247).

Rosenkötter verweist auf Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921). Dort werde „die korrumpierende Deformation des Über-Ichs“ beschrieben, „die durch große Gruppen und idealisierte Führergestalten bewirkt werden kann“ (S. 237).

Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse

Im folgenden fasse ich diesen Text (Freud XIII 71-161) zusammen. Freud beginnt mit einem Auszug aus Le Bons „Psychologie der Massen“. Er stellt fest, daß unter dem Einfluß einer Gruppe der einzelne Mensch unerwartet „fühlt, denkt und handelt“ (XIII 76). Doch Le Bon beantworte die Frage, was „die Individuen in der Masse zu einer Einheit“ verbinde, nicht (XIII 77).

Freud erklärt das veränderte Verhalten im Rahmen der Masse damit, daß sie ihm erlaubt, „die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen.“ Konkret: alles Böse tritt zutage, Gewissen und Verantwortlichkeitsgefühl treten zurück (XIII 79). Die Gruppenmitglieder stecken einerseits einander an, unterliegen andererseits der Suggestion eines Hypnotiseurs, den Le Bon zunächst nicht nennt, aber später als Führer bezeichnet.

Inhaltlich besiegen Phantasien und Illusionen die Wahrheit. Das ist laut Freud charakteristisch für Neurosen. Er stimmt mit Le Bon insofern überein, als beide das Unbewußte betonen. Doch insgesamt bringe Le Bon nichts Neues und sei auch nicht unwidersprochen geblieben. Manche meinen, „daß es überhaupt erst die Gesellschaft ist, welche dem Einzelnen die Normen der Sittlichkeit vorschreibt“ (XIII 89).

Freud erklärt den Widerspruch damit, daß sich Le Bon auf vorübergehende, revolutionäre Massen beziehe, seine Gegner aber auf lange andauernde, stabile Massen. Mc Dougall weise inThe Group Mindauf verschiedene Grade der Organisation hin, um den Widerspruch zu erklären. Das Denken werde in der Masse gehemmt, die Affekte würden gesteigert.

Die „seelische Wandlung des Einzelnen in der Masse“ (XIII 95) erklärt Freud mit der Libido (Liebeskraft, Sexualtrieb, Eros; XIII 99). Es seien Liebesbeziehungen oder Gefühlsbindungen, die „das Wesen der Massenseele ausmachen.“ Der Eros sei die Macht, die die Masse zusammenhalte (XIII 100).

Er unterscheidet zwei Arten von Massen: solche mit und solche ohne Führer. In der Kirche ist Christus der Führer, „in der Armee der Feldherr“ (XIII 102). Gläubige und Soldaten fühlen sich von ihrem Oberhaupt wie von einem Vater geliebt. Es besteht eine libidinöse Bindung zum Oberhaupt und zu den Glaubensgenossen bzw. Kameraden. Doch der einzelne Mensch sei unfrei. Wenn sich die libidinösen Bindungen lockern oder eine außergewöhnlich große Gefahr droht, bricht Panik aus, und jeder sorgt für sich selbst.

Freud unterscheidet auch mehrere Arten von libidinösen Bindungen. Als die „früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person“ betrachtet er die Identifizierung des kleinen Jungen mit dem Vater und die sexuell gefärbte Anlehnung an die Mutter (XIII 115). Beim kleinen Mädchen sei es umgekehrt. Homosexuelle identifizieren sich Freud zufolge mit ihrer Mutter und suchen im anderen Mann ein Kind, das sie „lieben und pflegen“ können, wie sie es von ihrer Mutter kennen (XIII 119).

„Es scheint gesichert, daß sich die homosexuelle Liebe mit den Massenbindungen weit besser verträgt […]; eine merkwürdige Tatsache, deren Aufklärung weit führen dürfte“ (XIII 159). Diese Feststellung hat wohl damit zu tun, daß in Kirche und Heer „für das Weib als Sexualobjekt kein Platz“ sei. „Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Weib bleibt außerhalb dieser Organisationen“ (XIII 158).

Bei der Verliebtheit unterscheidet Freud die asexuelle Schwärmerei und die sexuelle Begierde. Die Beurteilung der Geliebten werde durch Idealisierung verfälscht. „Von der Verliebtheit ist offenbar kein weiter Schritt zur Hypnose.“ Die „hypnotische Beziehung“ sei „eine Massenbildung zu zweien“ (XIII 126).

Doch die Beschreibung libidinöser Bindungen reicht nicht aus, um Massenphänomene zu erklären. Der Mangel an Eigeninitiative sei ein Zeichen von Regression auf die Stufe von Wilden oder Kindern. Der Herdentrieb oder Herdeninstinkt bedeute nicht nur den Zusammenschluß, sondern auch die Ablehnung alles Neuen und Ungewohnten.

Hier beruft sich Freud aufInstincts of the Herd in Peace and War(London21916) von W. Trotter. Freud kritisiert, daß Trotter die Rolle des Führers der Masse vernachlässige, ohne den sie unbegreiflich bleibe. Deshalb spricht er nicht von der Herde, sondern von der Horde.

Freud betrachtet religiöse Illusionen als Neurosenschutz. Neurotiker werden von der Masse ausgeschlossen und ersetzen sie durch eine „eigene Phantasiewelt“, eine Privatreligion oder ein Wahnsystem (XIII 160). Die Neurose habe „mit Hypnose und Massenbildung“ die Regression gemeinsam, welche bei der Verliebtheit nicht stattfinde (XIII 161).

Zur Psychologie des Faschismus

Lohmannstellt fest, „wie wenig das ‚Phänomen Faschismus‘ von uns rational und emotional bewältigt ist“ (S. 253). Er kommentiert „Die psychologische Struktur des Faschismus“ (1933/34) von Georges Bataille, der „die vom Faschismus mobilisierten destruktiven Regungen als die Wiederkehr eines Verdrängt-Unbewußten“ auffaßt. „Bataille zufolge ist der Faschismus die gewaltsame, sadistisch-imperative Wiederkehr des verdrängten Wunsches nach Souveränität“ (S. 255). „Insofern ist für Bataille der Faschist ein Rebell wie der Kommunist“ (S. 256).

Ist der Faschismus „auch gegenwärtig [1979] eine latente Bedrohung für die hochindustrialisierten Gesellschaften Westeuropas“?, fragt Lohmann (S. 257). Er vermutet, daß „stumpfsinnige Arbeits- und lustlose Freizeitwesen“, die den Rausch suchen, aber in Depression enden, „womöglich einen ’neuen Faschismus'“ ausbrüten. Die Alternative wäre eine „Subversion im Dienst des Lebendigen“ (S. 258).

Anhand einer Rezension von Raul Hilbergs „Gesamtgeschichte des Holocaust“ (1961) spricht Lohmann das Problem an, „in welchem Verhältnis die Täter zu ihren Opfern standen und wie sie mit ihren eventuell vorhandenen moralischen Skrupeln psychologisch fertig wurden. […] Der erfolgversprechende Weg […] bestand in einem umfassenden Rationalisierungsangebot an die Täter“ (S. 262).

Die tatsächlichen Sachverhalte wurden durch Sprachregelungen verschleiert. Dadurch, daß man „an die Theorie einer gleichsam angeborenen ‚jüdischen Kriminalität'“ glaubte, war es möglich, „den Vernichtungsprozeß in eine Art gerichtliches Verfahren zu verwandeln; man konnte sich auf ‚höhere Befehle’berufen; man konnte geltend machen, daß man nicht aus persönlichen Motiven wie Habsucht oder Sadismus handelte; man konnte subjektiv der Meinung sein, daß die eigene Handlung noch harmlos sei, gemessen an denen anderer Personen und Instanzen; man wußte, daß man nur ein winziges Rädchen in einer gewaltigen Maschine war, gegen die ohnehin nichts auszurichten war; und am Schluß war einem klar, daß Leben schlechthin ein Kampf ist, bei dem der eine siegt und der andere untergeht“ (S. 263).

Lohmann betrachtet den „Terrorstaat der Nazis“ als institutionalisierten „Ausnahmezustand“ im Hinblick auf Justiz, Wirtschaft, Politik, Militär und Moral. Nur dadurch, daß man „moralische Gültigkeit und Verbindlichkeit“ außer Kraft setzte, wurde „die Verfolgung und Vernichtung von Juden, Zigeunern, Homosexuellen möglich“, die man „mit dem Stempel des Natürlichen und Normalen“ versah (S. 263f).

Als Fazit aus Hilbergs Buch zieht Lohmann die Einsicht, daß der Holocaust mit Hinweisen auf Kapitalismus, Faschismus oder deutsches Wesen nicht erklärbar sei. Er vermutet, daß es darum geht, „die Herrschaft von Ignoranz und Abstumpfung, die sich wie ein undurchdringlicher Panzer um Köpfe und Herzen der Menschen legt, in ihrer Wirkungsmacht zu erkennen. Sie ermöglicht es den Individuen, sich psychisch zu entlasten, sich aus der Verantwortung zu stehlen, wo das Gegenteil von Ignoranz: Verantwortungsbereitschaft gefragt wäre“ (S. 264).

„Wo der Massenmord zum Verwaltungsakt wird, wo die Verantwortung für das Massaker unter hochspezialisierten Experten arbeitsteilig aufgespalten wird, wo die Entfernung zwischen Täter und Opfer so immens groß geworden ist, daß er der Erstere das Letztere weder sieht noch schreien hört, wo dank der geräuschlosen Effizienz des Tötens gar nicht mehr wahrgenommen werden kann,daßgetötet wird – da erscheint der Appell an die individuelle Verantwortungsbereitschaft als von vornherein aussichtslos und obsolet“ (S. 265).

Raul Hilberg: Über die psychologischen Probleme des Holocaust

Hilberg begann Ende 1948 mit der Arbeit an seinem Buch, das 1961 unter dem TitelThe Destruction of the European Jewsin Chicago erschien. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Die Vernichtung der europäischen Juden“ (1982) stellt eine korrigierte und ergänzte Fassung dar.

Im Kapitel „Psychologische Probleme“ (S. 1076-1099) stellt Hilberg fest, daß sich nur die administrativen Probleme lösen ließen, die psychologischen nicht. Die Nationalsozialisten mußten sich ständig mit ihnen auseinandersetzen und konnten sie höchstens kontrollieren. Die Frage war: Wie konnte man verhindern, daß die Mörder roh und nervenkrank wurden?

Einerseits bestand die Gefahr „von Plünderungen, Folterungen, Orgien und Greueltaten“ (S. 1076), die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen, „das ganze ‚hehre‘ Werk in Mißkredit bringen“ und die Verwaltung zersetzen konnten. Deshalb bestrafte Himmler nichtautorisierte Diebstähle und Morde, es sei denn, der Mörder hatte aus idealistischen Motiven gehandelt und die Aufrechterhaltung der Ordnung nicht gefährdet. Aufgrund dieser Verbote meinte Himmler, der Holocaust habe bei den Tätern keinen psychischen Schaden hinterlassen.

Andererseits blieb bei den Tätern ein Unbehagen zurück, da sie eben doch moralische Skrupel empfanden. Allerdings gab es bei den deutschen Tätern im Gegensatz zu den italienischen „nur wenige Zögernde und so gut wie gar keinen Deserteur“ (S. 1080). Hilberg erklärt das mit dem Unterdrückungsmechanismus und dem Rationalisierungssystem der Deutschen.

Der Vernichtungsprozeß wurde mit allen Mitteln vertuscht: Erkundigungen wurden nicht beantwortet, Gerüchte wurden erstickt, Photographien wurden vernichtet, Gespräche darüber galten als taktlos, im Schriftverkehr wurden Euphemismen für Mord (z.B. Lösung der Judenfrage, Hinrichtung, Endlösung, Wiederherstellung „‚gesunder Lebensverhältnisse'“, „‚Reinigungsvorgang'“, S. 1093) und Diebstahl (Verwertung) verwendet. Wer etwas wußte, mußte mitmachen. Weigerte er sich oder versäumte es, seinen Mund zu halten, wurde er verhaftet. Als Frau Schirach sich bei Hitler darüber beschwerte, daß nachts Juden in Amsterdam zusammengetrieben wurden, meinte Hitler, sie solle „nicht so sentimental […] sein“ (S. 1084).

Da die Vertuschung der Morde nicht funktionierte, wurden sie psychologisch gerechtfertigt (rationalisiert): Die Juden wurden als schlechte Menschen hingestellt, deren Ermordung verdienstlich und moralisch gerechtfertigt sei. Sie würden die Welt beherrschen und Deutschland vernichten wollen. Davor schütze nicht einmal das Völkerrecht. Die Juden seien Spione, Rebellen, Partisanen, Saboteure, Diebe, Massenmörder und Erbkriminelle. Kurz: Sie seien „Ungeziefer“ (S. 1093).

Hilberg kommentiert: „Mit Hilfe dieser Theorie verwandelte sich somit im Hinterkopf der Täter der Vernichtungsprozeß in eine Art Präventivkrieg“ (S. 1091). „In letzter Konsequenz führte diese Theorie also dazu, es als strafbare Handlung einzustufen, Jude zu sein“ (S. 1092).

Die Propagandaliteratur wurde nicht nur von Broschüren- und Flugblatt-Schreiberlingen, sondern auch von der Presse, Ministerien, Forschungsinstituten und Doktoranden gefüttert. Ein Schauprozeß gegen Herschel Grynszpan, der 1938 Ernst vom Rath, den Legationssekretär an der deutschen Botschaft in Paris, ermordet hatte, was als Vorwand für die Reichskristallnacht diente, fiel allerdings aus, da man fürchtete, Grynszpan könnte die angebliche Homosexualität des Ermordeten zur Sprache bringen.

Feindliche ausländische Politiker galten als „Juden, Halbjuden oder mit Juden verheiratet“ oder von Juden beeinflußt. Streicher behauptete öffentlich, daß in den Adern von Papst Pius XI. jüdisches Blut fließe. Dagegen galten freundliche ausländische Politiker als frei von jüdischem Einfluß.

Bürokraten rechtfertigten den Zusammenhang ihrer Schreibarbeit mit den Morden mit ihrer Gehorsamspflicht. Falls es keine direkten Befehle gab, wurden sie eben erfunden. Die Bürokraten distanzierten sich von persönlicher Rachsucht und sprachen lieber von der Erfüllung ihres Schicksals.

Doch sie umgingen auch manche Befehle, indem sie sich mit Gefälligkeiten gegenüber Juden weißwuschen und vom Antisemitismus distanzierten. Himmler beklagte, daß von den „‚braven 80 Millionen Deutschen […] jeder […] seinen anständigen Juden'“ habe (S. 1097).

Hilberg kommentiert: „Aber selbst wenn Himmler diese Interventionen als Ausdruck falschverstandener Menschlichkeit interpretierte, waren sie ein notwendiges Mittel bei dem Versuch, eine der wichtigsten Rechtfertigungen für bürokratisches Handeln – die Pflicht – auf festen Grund zu stellen. Erst nachdem man ‚alles Menschenmögliche‘ getan hatte, konnte man sich ruhigen Gewissens seinem Vernichtungsauftrag widmen“ (S. 1097).

Eine weitere Rationalisierungsmethode bestand darin zu sagen, daß man ja nicht selbst die Schmutzarbeit mache. Wenn man eine moralische Grenze überschreiten mußte, wurde sie eben verschoben, immer weiter, so daß man sie nie erreichen konnte. Außerdem fühlten sich die Beteiligten durch ihre Mittäter quasi entschuldigt. Sie waren ja nur kleine Rädchen ohne Macht: Wenn ich es nicht tue, tut es jemand anders.

Die „Dschungeltheorie“ hält Hilberg für die „verlogenste“ aller Rationalisierungen: Den Kampf gebe es auch in der Natur. Wer nicht kämpfe, müsse sterben (S. 1099).

© Gunthard Rudolf Heller, 2024

Literaturverzeichnis

BLEULER, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie, umgearbeitet von Manfred Bleuler, Berlin/Heidelberg/New York 1966

ENZYKLOPÄDIE DES NATIONALSOZIALISMUS, hg. v. Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß, München31998

FREUD, Sigmund: Gesammelte Werke, 19 Bände, Frankfurt am Main 1999

HILBERG, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bände, Frankfurt am Main 1997

HITLER, Adolf: Mein Kampf, o.O. o.J.

KLEE, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Koblenz 2013

LE BON, Gustave: Psychologie der Massen, Stuttgart 1968

LOHMANN, Hans-Martin (Hg.): Psychoanalyse und Nationalsozialismus – Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas, Frankfurt am Main 1984

LUTHER, Martin: Schriften wider Juden und Türken, München 1938

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich91980/81

PADBERG, Magdalena: Das Leben der Elsa Brändström, Hamburg 1968

ICKER, Henry: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Berlin21997

Gunthard Heller

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