Gottfried Wagner: Wer nicht mit dem Wolf heult

Der Titel des Buchs von Gottfried Wagner (geb. 1947) ist womöglich an die Äußerung des Sängers Rudolf Bockelmann angelehnt, der auf die Frage, warum er Nationalsozialist geworden sei, antwortete, man müsse „‚doch mit den Wölfen heulen'“ (zit. n. F. Wagner 165). „Wolf“ war Hitlers Kosename in Bayreuth.

Gottfried Wagner identifiziert sich so sehr mit den Opfern des Holocaust, daß er die Klassifizierung der Juden (z.B. „Kunstjude“, S. 93; „Alibijuden“, S. 325; „Geltungsjude“, S. 384) auf die Wagners überträgt: „Vorzeige-Wagner“ (S. 31); „Nazi-Wagner“ (S. 169).

Kritik an Friedelind Wagner

Seiner Tante Friedelind wirft er vor, sie habe eine „unkritische Einstellung gegenüber Richard Wagners Antisemitismus“ gehabt (so die Formulierung im Vorwort von Ralph Giordano, S. 22).

Das stimmt so nicht: In „Nacht über Bayreuth“ zitiert Friedelind einen Brief ihres Vaters Siegfried Wagner aus dem Jahr 1921, in dem er sich gegen die Forderung wehrte, Juden aus dem Festspielhaus auszuschließen. Er schrieb u.a.: „Wenn die Juden gewillt sind, uns zu helfen, so ist das doppelt verdienstlich, weil mein Vater sie in seinen Schriften angegriffen und beleidigt hat“ (S. 147). „Bayreuth soll eine wahrhafte Stütze des Friedens sein“ (S. 148).

Daß Friedelind Gottfried zufolge „‚an Richard Wagners Unschuld in Sachen Antisemitismus'“ glaubte (S. 185), bedeutet wohl, daß sie ihm keine Mitschuld am Antisemitismus der Nationalsozialisten vorwarf.

Der Einfluß von Ralph Giordano

Giordano, der sich als „Pate dieses Buches“ bezeichnete (S. 19), weil er es anregte, zitiert aus dem Talmud, um seine Einstellung klarzumachen: Ein Mensch sei für die Untat eines anderen Menschen verantwortlich, wenn er zum Protest in der Lage war, ihn aber unterlassen habe.

Gottfried Wagner macht Ernst mit dieser Einstellung und betrachtet alle Deutschen als NS-Täter, insbesondere seinen Vater Wolfgang. Sich selbst sieht er als Nachkomme von „NS-Tätern“ (S. 379). Zusammen mit Abraham Peck und Steven Jacobs gründete er die „Post-Holocaust-Dialog-Gruppe“ (PHDG, S. 372) für „‚Kinder von Opfern und Kinder von Tätern'“ (S. 374).

Mit Peck verbinden ihn „gemeinsame geistige Orientierungen wie etwa […] Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Hannah Arendt“ (S. 376f). Er selbst sieht Fichte, Schelling und Hegel mit Karl Popper „als eine intellektuelle und moralische Katastrophe – die größte intellektuelle und moralische Katastrophe, von der die deutsche und die europäische Intelligenz jemals heimgesucht wurde“ (S. 310f).

Er fragt: Wie war es möglich, „daß ein hochentwickeltes Volk zu Verbrechern werden konnte“ (S. 301)?

Mit Giordano verbindet Gottfried Wagner nicht zuletzt die Einstellung gegenüber Wolfgang Wagner: Giordano interviewte ihn einmal und glaubte ihm kein Wort. „‚In dem Mann ist kein Humanum'“, sagte er. Gottfried Wagner erwiderte: „‚Sie sagen nur das, was ich seit meiner Kindheit weiß und erfahren habe'“ (S. 264).

Gottfried Wagner als Anti-Wagnerianer

Gottfried Wagner meint, die „Festspielidee Wagners und ihre Verwirklichung in Bayreuth“ würden „den Verlust von Realität und Humanität“ bedeuten. „In diesem Sinne bin ich als Urenkel Wagners ein Anti-Wagnerianer geworden. Ich wurde mir der Schwierigkeit bewußt, als ein Nachkomme Wagners mein Wissen über Wagner objektiv darzustellen“ (S. 360).

Es gibt noch eine zweite Schwierigkeit: Ähnlich wie ein Antisemit das Judentum nur schwerlich objektiv darstellen kann, kann m.E. ein Anti-Wagnerianer Wagner nur schwerlich objektiv darstellen. Um etwas zu erkennen, muß man sich ihm öffnen, mit andern Worten: es lieben.

Anhand dreier Opernaufführungen Richard Wagners illustriert Gottfried Wagner deren Politisierung:

  • Die Nationalsozialisten sahen 1943 in den „Meistersingern von Nürnberg“ die völkische Kunst, die den deutschen Soldaten die Kraft zum Kampf gegen den „destruktiven Geist des plutokratisch-bolschewistischen Weltkomplotts'“ gebe (S. 102).
  • Götz Friedrich inszenierte den „Tannhäuser“ 1972 mit einer Wartburggesellschaft, die den Landgrafen „mit Hitlergruß […] grüßte und später Tannhäuser in Nazimanier aus der Wartburg zu schmeißen versuchte“. Den Schlußchor mißverstand die „Mehrheit der Zuschauer […] als ‚Arbeiter- und Bauern-Gruß‘ des DDR-Regisseurs Friedrich“ (S. 104).
  • 1989 ließ Wolfgang Wagner im „Parsifal“ Kundry „im männlich-christlichen Gralsrittertempel überleben […]. Gegen alle Schriften und Regieanweisungen seines Großvaters verschwand Parsifal in der Menge der Gralsritter. Die mißverstandene Demokratisierung hatte zur Folge, daß es im Gral keine individuelle, sondern nur noch eine kollektive Verantwortung der Ritter gab“. 1994 bot in Wolfgang Wagners Inszenierung gar Kundry „als weiblicher Messias den Gralsrittern den Kelch zur Erlösung an“ (S. 283).

Die dahinterstehenden Gedanken sind klar: alle drei instrumentalisierten Wagner für ihre Zwecke. Für die Nationalsozialisten war die Musik von Wagner eine Kraftquelle, für Götz Friedrich gab es schon im Mittelalter Nationalsozialisten, und für Wolfgang Wagner durfte sich der Holocaust mit dem Tod Kundrys nicht wiederholen. Auch die Hierarchie der Gralsritter mußte aufgelöst werden, da sich Hitler mit der SS als Gralsritter umgeben hatte.

Man könnte fragen: Was wäre passiert, wenn Winifred Wagner Hitlers Heiratsantrag angenommen und auf ihr Bayreuther Erbe verzichtet hätte? Die beiden liebten einander, doch Winifreds Mann Siegfried hatte in seinem Testament verfügt, daß sie bei einer Wiederheirat enterbt würde.

Ist Wagner für den Holocaust mitverantwortlich?

Für Gottfried Wagner gibt es „‚ideologisch schon eine Linie von Wagners Artikel ‚Judenthum in der Musik‘ bis hin zu Hitler'“ (S. 168).

Anders ausgedrückt:

  • Wagner habe „mit seinen rassistischen Schriften und seinen Bayreuther Festspielen einen weltanschaulichen Teil zum Holocaust beigetragen“ (S. 255).
  • Er habe „selbst seinen Teil zum unauflösbaren Zusammenhang von Bayreuth, Theresienstadt und Auschwitz beigetragen“ (S. 279).
  • Es gebe historische „Zusammenhänge zwischen dem Antisemitismus seines Großvaters [Wolfgang Wagners Großvater Richard Wagner] und Hitler“ (S. 312).
  • Wagner „sei durch seine antisemitischen Hetzschriften mitverantwortlich für die Entwicklung von Bayreuth bis Auschwitz“ (S. 336).
  • Hartmut Zelinsky habe in seinem Aufsatz „Die ‚feuerkur‘ des Richard Wagner oder die ’neue religion‘ der ‚Erlösung‘ durch ‚Vernichtung'“ nachgewiesen, „daß Wagner mitverantwortlich für den Aufstieg Hitlers und den Nationalsozialismus in Deutschland war“, was Gottfried Wagner „1990 noch nicht glauben“ „konnte und wollte“ (S. 358f).

Meines Erachtens ist das übertrieben. In „Mein Kampf“ teilte Hitler zwar im Zusammenhang mit einer „Lohengrin“-Aufführung seine grenzenlose Wagnerbegeisterung mit. Doch seine Wandlung zum Antisemiten begründete er nicht mit dem (rassistischen) Antisemitismus Wagners, den er nicht einmal erwähnte, sondern mit seiner Aversion gegen liberale Presse, Sozialdemokratie, Marxismus und Dialektik. Er betonte, daß er gefühlsmäßig zur Toleranz neigte, solange er das Judentum lediglich als Religion betrachtete. Das bedeutet, daß er erst später zum rassistischen Antisemiten wurde.

Henry Picker, der „Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier“ herausgegeben hat, weiß nichts von Wagners Antisemitismus: „Hitler kannte Wagners Werk genau. […] Im übrigen hatte Richard Wagner für Hitler auch eine geistige Bedeutung. Denn er hatte im Nibelungen-Ring ein mythisches Leitbild für das deutsche Lebensschicksal geschaffen, das Hitler bejahte. Er hatte im Artus-Kreis (Parsifal, Lohengrin) die Möglichkeiten und Ideale menschlicher Ethik gestaltet. Und er hatte im ‚Rienzi‘ den römischen Volkstribunen so zeitlos dargestellt, daß Hitler – wie er uns sagte – bei einer Rienzi-Aufführung in Linz erstmals der Gedanke kam, auch so ein Volkstribun oder Politiker zu werden“ (Picker 130).

Über einen Besuch in Bayreuth auf eine Einladung der Bechsteins hin (1925) sagte Hitler 1942: „Ich wollte eigentlich nicht hin. Ich sagte mir, die Schwierigkeiten würden für Siegfried Wagner dadurch nur noch größer werden, er war ein bißchen in der Hand der Juden. […] Daß dieser Jude Schorr den Wotan gesungen hat, das hat mich so geärgert! Für mich war das Rassenschande!“ (Picker 159f)

„Aber die Frau [Winifred] Wagner hat immerhin Bayreuth – das ist ein großes Verdienst von ihr – mit dem Nationalsozialismus zusammengebracht. Denn Siegfried: Persönlich war er mir befreundet, politisch war er passiv. Die Juden hätten ihm das Genick abgedreht, er konnte nicht anders. Jetzt ist der Bann gebrochen: Es wird mehr von ihm aufgeführt. Diese Drecks-Juden haben es fertiggebracht, ihn kaputtzumachen“ (Picker 161).

Joseph Goebbels schwärmte in seinen Tagebüchern von Wagners Musik. So schrieb er über eine Aufführung der „Meistersinger“: „Die ewige Musik Wagners gibt uns allen neue Kraft und Spannstärke. Beim großen ‚Wacht auf!‘-Chor wird uns allen sehr weit ums Herz“ (22.11.1932).

Über den „Parsifal“: „Vier Stunden Gottesdienst. Mein größtes Opernerlebnis. Davor verblaßt alles. […] Parsifal ist das Genie der Moral. Das Ganze ist wohl etwas stark mystisch und wirkt deshalb auf uns berstende Großstadtmenschen nicht mehr so unmittelbar. Das aber liegt an uns, nicht am Parsifal. […] Ich bin am Ende ganz benommen“ (10.8.1928).

Über den „Tristan“: „Dieses herrliche Epos der Liebe. Wer wagt noch den Tristan langweilig zu nennen. […] Im letzten Akt sitze ich neben einer wunderbaren Frau, und wir erleben eine kleine Liebesfeier, ohne ein Wort, nur zwei Blicke, zwei Atemzüge. Danach ist sie fort. Ich suche! Wie im Traume komme ich nach unten. Tristan und diese Frau. […] Ich bin am Abend nicht mehr zu gebrauchen. Von peitschender Unruhe getrieben, laufe ich durch diesen köstlichen Nachtzauber. Bayreuth! Du große, unbesiegliche Liebe!“ (10.8.1928)

Über den „Tannhäuser“: „Wagners Tannhäuser hat meine Jugend erweckt. Ich war damals 13 Jahre alt. Daran denke ich jetzt. Die Kinder toben durch die Räume. Kinderlachen, wo ehedem Musik ward. Das ist alles dasselbe: Geschenke Gottes“ (8.5.1926). „Ich spiel so gern mit den Wagnerkindern. […] Dann tolle ich mit der Wagnerbagage eine Stunde im Heu herum. […] Ich geniere mich dann vor den Leuten“ (8.9.1926).

Über Wagners Antisemitismus steht nirgendwo etwas. Aber umgekehrt: „Wie groß und erhaben ist dagegen Wagner! Ein einsamer Riese. Ich weiß nun, warum die Juden ihn totreden möchten“ (3.2.1930). „Richard Wagner in Paris: welch eine Fülle von faustischem Idealismus, von Künstlerelend, von hartem Kampf um die bloße Existenz, von seelischer Qual und körperlicher Not. Ein deutscher Geist in die Lohnsklaverei eines schmierigen Juden (Schlesinger) gefesselt, zu den niedrigsten Brotarbeiten verdammt, ein wirklicher Künstler muß die M..arbeiten von Konjunkturjuden überarbeiten und für die Bestie Publikum zurechtstutzen. […] Wagner ist einer von denen, die dem Mutlosen immer wieder neuen Mut und neue Lebenskraft einflößen. Die Lektüre seiner Pariser Erinnerungen war für mich ein Stahlbad“ (25.7.1924).

Auch Weltanschauliches zitiert Goebbels von Wagner:

  • „‚Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tuen!'“ (8.5.1926)
  • Über Wagners „Mein Leben“: „Eine gute, lehrreiche und wohlgemeinte Biographie. […] Nacht und Tag, ein Plebejer und ein Edelmensch, ein Phrasenheld und ein Geistesheld. Widersinnige Unterschiede“ (23.7.1924). „So ein Buch sollte jeder junge Künstler, der an der Welt verzweifeln möchte, jedes Jahr lesen müssen. Das ist eine Quelle des Mutes, der Ausdauer, des Durchhaltens“ (28.7.1924). „Macht nicht mehr soviel Freude. Hat jetzt Geld genug und wenig gegen die Unbill zu kämpfen“ (30.7.1924). „Am Ende steht man erschüttert. Über diesem Leben hat ein nur scheinbar böses, in Wirklichkeit gütiges Geschick gewaltet. […] Wagner ist am sympathischsten als unentwegter Kämpfer und Dulder für seine Kunst und für den deutschen Gedanken. Darin kommt ihm wohl keiner gleich. […] Sein Kampf um die Kunst der Zukunft, um den deutschen Gedanken ist im tiefsten Grunde ein Kampf um etwas, was er vielleicht schon verloren hat.“ Wagner war für Goebbels ein großer Mensch, Beethoven ein Übermensch (31.7.1924).
  • Über Wagners „Kunst des Dirigierens“: „Für einen Musiker eine Fundgrube von Dirigentenfeinheiten“ (27.6.1924).

Ralf Georg Reuth, der Herausgeber von Goebbels‘ Tagebüchern, stellt in seinem Aufsatz „Glaube und Judenhaß als Konstanten im Leben des Joseph Goebbels“ (1/20-46) die Entstehung und Entwicklung von dessen Antisemitismus so dar: Goebbels erkannte, „daß der Materialismus die Wurzel allen Übels sei“ (1/27). Bestärkt wurde er darin durch Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“, dessen Pessimismus Goebbels allerdings ablehnte. „Seit 1922 begann Goebbels zwischen dem zunehmend verhaßten Materialismus und dem Judentum einen Zusammenhang herzustellen“ (1/27).

Im Sommer 1922 las Goebbels „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ von Houston Stewart Chamberlain, der die „Rassenlehre des Franzosen Gobineau […] ‚weiterentwickelt'“ hatte (1/29). „Goebbels sah in den Juden nun immer mehr die Verkörperung des Materialismus, des Bösen schlechthin, des ‚Anti-Christen‘ und damit die konkret Schuldigen am Übel dieser Welt“ (1/30).

Da er nicht nur unter den Kapitalisten, sondern auch unter den Kommunisten Juden fand, hielt er in der „Völkischen Freiheit“ vom 15.11.1924 den Marxismus für „‚eine jüdische Mache‘ […], ‚die darauf ausgeht, die rassebewußten Völker zu entmannen und zu entsittlichen'“ (1/30).

Also kein Wort von Wagner. Wie steht es mit Chamberlain, der seit 1908 Schwiegersohn von Cosima Wagner war? Harald Landry schreibt, den Gedanken Chamberlains, daß die Germanen „die Idee der Freiheit und der vor allem in Glaubensdingen autonomen Persönlichkeit in die Welt gebracht hätten“, könne man schon bei Goethe und Hegel finden (KNLL 3/856).

Neu sei lediglich Chamberlains Antisemitismus, für den er allerdings weiter keine Quelle nennt. Gobineau, „der ‚reine Rasse‚ als etwas Gegebenes betrachtet, nicht als etwas Aufgegebenes, zu Erkämpfendes, wird scharf kritisiert“ (KNLL 3/857). Über Wagners Antisemitismus steht nichts in dem Buch. Inbezug auf die (negative) Charakteristik der Juden beruft sich Chamberlain auf alle möglichen Autoren, nicht aber auf Wagner.

Alfred Rosenberg interpretierte in „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ Wagners „Tristan“ nicht als „Drama der Liebe“, sondern als „Drama der Ehre. Weil Tristan seine unüberwindliche Liebe zur Braut seines Königs und Freundes als ehrlos empfindet, deshalb hält er sich fern von ihr, deshalb will er dann den Todestrank trinken, als er die Unmöglichkeit erkennt, seiner Liebe Herr zu werden. Wie nun der ‚Treueste der Treuen‘ diesen Ehrbegriff, der sein ganzes Leben ausmacht, von sich wirft und sich seiner Leidenschaft ergibt, das ist das unerklärlich-ungelöste Rätsel, welches durch den Minnetrank symbolisiert wird. […] Tristan stirbt an seiner Tat, bewußt nimmt er den Tod auf sich und reißt seinen Verband von den blutenden Wunden. Er stirbt an der äußeren Verletzung eines ihm Unverletzlichen, Isolde aus Schicksalsverbundenheit mit ihm. Tristan stirbt an einem E h r e n konflikt, Isolde an L i e b e s gram.

Das ist germanisches ‚Schicksal‘ und germanische Lebensüberwindung durch die Kunst“ (S. 401f).

Für Rosenberg waren Wagners Musikdramen der „größte bewußte Versuch, mit allen Mitteln des Auges und Ohres diese Erhabenheit des Willens zu wecken“ (S. 427). „Wagner kämpfte gegen eine ganze verpöbelte Welt und siegte“ (S. 428). Sein gesamtes Werk sei „nichts anderes […] als eine einzige ungeheure Willensentladung“ (S. 432). Er habe „Leben gezeugt und das ist entscheidend“ (S. 433). Wagner habe das Wesentliche der abendländischen Kunst gezeigt, nämlich „daß die nordische Seele nicht kontemplativ ist, daß sie sich auch nicht in individuelle Psychologie verliert, sondern kosmisch-seelische Gesetze willenhaft erlebt und geistig-architektonisch gestaltet“ (S. 433).

Bei Wagner würden „jene drei Faktoren zusammenfallen, die jeder für sich einen Teil unseres gesamten künstlerischen Lebens ausmachen: das nordische Schönheitsideal, wie es äußerlich im Lohengrin und Siegfried hervortritt, gebunden an tiefstes Naturgefühl, die innere Willenhaftigkeit des Menschen in ‚Tristan und Isolde‘ und das Ringen um den Höchstwert des nordisch-abendländischen Menschen, Heldenehre, verbunden mit innerer Wahrhaftigkeit. Dieses innere Schönheitsideal ist verwirklicht im Wotan, im König Marke und im Hans Sachs (Parzival ist eine stark kirchlich betonte Abschwächung zugunsten eines Lehnwertes“ (S. 433f).

Hier ist einiges verschroben: Siegfried und Lohengrin sind charakterlich nicht vergleichbar – Siegfried steht am Anfang der Persönlichkeitsentwicklung und gerät auf die schiefe Bahn, Lohengrin steht am Ende seiner Entwicklung, wenn er auch unfrei geblieben ist. Auch die Gleichstellung von Wotan, Marke und Sachs ist schief. Wotan ist ein verlogener, machtgieriger Verbrecher; Marke ist hochanständig; Sachs ist manipulativ, wenn auch unterhalb der Schwelle zur Straftat. Daß Rosenberg mit dem Christentum Probleme hat, ist offensichtlich. Für Wagner war das Christentum kein „Lehnwert“, sondern ein echter Wert.

Als letztes „Ziel abendländischen Kunstschaffens“ nennt Rosenberg die Erweckung der „Kraft des Heroisch-Willenhaften“ (S. 434).

„Eine Kunst als Religion, das wollte einst Wagner. Er rang neben Lagarde als einziger gegen die ganze bürgerlich-kapitalisierte Welt der Alberiche und fühlte neben einer Gabe auch eine Aufgabe im Dienste für sein Volk. Er […] wollte eine andere Welt erschaffen und ahnte das Morgenrot eines neuen wiedererstehenden Lebens. Ihm standen entgegen eine gekaufte Weltpresse, ein sattes Spießbürgertum, ein ganzes ideenloses Zeitalter. Und ob viele in unserer Zeit den Formen des Bayreuther Gedankens fremd oder mitempfindend gegenüberstehen: für das damalige Geschlecht ist dieser Gedanke der echte Lebensquell inmitten einer sich bestialisierenden Zeit gewesen“ (S. 443f).

Rosenbergs Antisemitismus deckt sich zwar mit dem von Wagner, doch er nennt den Namen „Wagner“ nicht im Zusammenhang damit. Man könnte natürlich denken, die Nationalsozialisten hätten sich verschworen, Wagner nicht im Zusammenhang mit der Verfolgung der Juden zu nennen. Doch die einfachere Erklärung ist m.E., daß der Antisemitismus der Nationalsozialisten nicht durch die Lektüre der Schriften Wagners entstanden ist, sondern andere Quellen hat.

Laut Brigitte Hamann war Hitlers Wagnerbegeisterung seine Privatangelegenheit, kein Teil des Nationalsozialismus. Rosenberg, Goebbels, Göring, Streicher und zahlreiche NS-Organisationen seien gegen Wagner gewesen. Daß das für Rosenberg und Goebbels nicht stimmt, haben wir gesehen.

Nicholas Goodrick-Clarke, der die „okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus“ freigelegt hat, hat in sein Buch kein Kapitel über Wagner aufgenommen. Doch er schildert ein Initiationsritual des Germanenordens als „Synthese von rassistischer, freimaurerischer und wagnerianischer Inspiration“ (S. 117):

Bevor man als Novize teilnahm, mußte man einen Rassetest auf der Basis einer Schädelmessung ablegen. Man durfte nur im Anzug kommen. „Die Zeremonie begann mit leiser Harmoniummusik, während die Brüder den ‚Pilgerchor‘ aus Wagners ‚Tannhäuser‘ sangen.“ Bei Kerzenlicht erklärte der Meister den Novizen, deren Augen verbunden waren, „die ario-germanische und aristokratische Weltanschauung des Ordens, bevor der Barde das heilige Feuer (Kiefernadelessenz) entzündete und den Novizen Mäntel und Augenbinden abgenommen wurden. In diesem Augenblick hob der Meister Wotans Speer und hielt ihn vor sich, dieweil die beiden Ritter ihre Schwerter über ihm kreuzten. Eine Reihe von Rufen und Antworten, begleitet von Musik aus dem ‚Lohengrin‘, vervollständigte den Eid der Novizen. Ihre Weihe begleiteten Rufe der ‚Waldelfen‘, während die neuen Brüder im Gralshain rund um das heilige Feuer des Barden geführt wurden“ (S. 117f).

Als Grundlagen für Hitlers Antisemitismus nennt Goodrick-Clarke Hitlers „Erfahrungen in Wien“ und die Lektüre rassischer Broschüren. „Ein lokaler ideologischer Einfluß scheint ebenfalls absolut nicht undenkbar. Frühe Biographen Hitlers neigen dazu, ihre Ausführungen über dessen angebliche Quelle der Inspiration auf intellektuell respektable Schriftsteller in Sachen rassische Überlegenheit und Antisemitismus, wie Gobineau, Nietzsche, Wagner und Chamberlain, zu beschränken. Aber es gibt keinen Beweis, daß Hitler ihre wissenschaftlichen Arbeiten gelesen hat. Alles in allem ist es wahrscheinlicher, daß er Vorstellungen aus billigen und leicht zugänglichen Broschüren des damaligen Wien aufgriff, um seine eigenen dualistischen Ansichten und seine Fixierung auf Deutschland rational zu erklären“ (S. 168f).

Hitler sei begeistert gewesen „für Wagners ritterliche Darstellung des Grals, der ihn bewachenden Ritter und ihres Idealismus“ (S. 171). „Hitlers Interesse an Mythologie beschränkte sich vor allem auf die Ideale und Taten ihrer Helden und all deren musikalische Interpretation in den Opern Richard Wagners“ (S. 174).

Jonathan Carr relativiert Wagners Antisemitismus übrigens insofern, als er insgesamt über fünf „J“s schimpfte: Jesuiten, Journalisten, Juristen, Junker und Juden. „Eindeutig aber erblickte er in den Juden die schwerwiegendste Gefahr“ (S. 123).

Nun zu dem Aufsatz von Hartmut Zelinsky, auf den Gottfried Wagner sich beruft. Zelinsky wirft den heutigen Wagnerverehrern vor, sie würden den Antisemitismus Wagners ignorieren oder verharmlosen. Er behauptet, dieser Antisemitismus bilde „den zentralen ideologischen Hintergrund“ des „Rings“ und des „Parsifal“ (S. 80).

Das begründet er so:

  • Der Brand am Schluß des „Rings“ erinnere ihn an „Wagners Brand- und Zerstörungsphantasien“, die sich „gerade immer wieder an den Juden entzünden“ (S. 81).
  • Der „Parsifal“ hänge mit Wagners Regenerationsschriften (1879/81) eng zusammen, was man anhand der Tagebücher Cosima Wagners sehen könne. Außerdem zitiert er antisemitische Stellen aus den Tagebüchern von Cosima Wagner.

Doch das Entscheidende ist: In den Operntexten Wagners findet sich keinerlei Spur von Antisemitismus. Der „Ring“ handelt von germanischen Verbrechern, nicht von Juden. Im „Parsifal“ kommt Jesus nicht vor, und schon gar nicht als Arier. Das Christentum im „Parsifal“ mit dem Heiland als Erlöser bleibt im Rahmen der christlichen Gralsmythologie, die im Neuen Testament vorgebildet ist.

Kurz zusammengefaßt geht es um einen Reliquienkult (Abendmahlskelch und Lanze des Longinus), aus dem die Sehnsucht erwuchs, die verlorenen Reliquien wiederzufinden, um durch sie erlöst zu werden (vgl. das Buch von Konrad Burdach, s.u.).

Der Mythos von der erlösenden Kraft von Jesu Blut ist neutestamentlich (vgl. Mk 14,22-25//; Joh 6,53-58; Röm 3,25; 5,9; 1 Kor 10,16; 11,17-34; Eph 1,7; 2,13; Kol 1,20; Hebr 9,12; 10,19; 13,12; 1 Joh 1,7; Offb 1,5).

Daß die Christen antisemitisch waren, steht außer Frage. Das ist vergleichbar mit dem Antikatholizismus der Protestanten. In beiden Fällen wurde aus einer Reform der Lehrer (Jesus und Luther) eine Abspaltung der Schüler, die Feindseligkeiten nach sich zog (Judenverfolgung, Dreißigjähriger Krieg).

Zelinsky geht noch einen Schritt weiter: Aus Hitlers Wagnerbegeisterung sei die „Entschlossenheit“ entstanden, „Wagners ‚Wahn‘ in die Tat umzusetzen“ (S. 102). Doch was Zelinsky für diese These anführen kann, ist nur wenig: Bernhard Förster und Theodor Fritsch stehen beide nicht im Register von „Mein Kampf“. Die Briefe und Tagebücher von Cosima Wagner kannte Hitler nicht. Er begegnete ihr persönlich nicht, da sie sich weigerte, ihn zu empfangen. Hermann Bahr, Otto Weininger und Leopold von Schröder stehen beide nicht im Register von „Mein Kampf“. Wir sehen also nur, daß es damals relativ viele antisemitische Autoren gab. Woher Hitler seinen Antisemitismus hatte, habe ich weiter oben gezeigt.

Bleibt noch Hitlers Jugendfreund August Kubizek, der in seinem Buch „Hitler, mein Jugendfreund“ Hitlers Wagnerbegeisterung ein eigenes Kapitel widmet (S. 75-86). Das Wichtigste: „Von frühester Jugend bis zu seinem Tode hält er dem Bayreuther die Treue. […] Weil er durch die Gewalt seiner Phantasie, die Kraft seiner Hingabe alles, was ihn berührte, veränderte, schuf er sich auch ’seinen‘ persönlichen Wagner“ (S. 75).

Während Kubizek vom Dirigieren träumte, träumte Hitler davon, Theaterhäuser zu bauen. Als Zwölfjähriger hörte und sah er „Lohengrin“. Er interessierte sich für deutsche Sagen. „Nichts erschien ihm erstrebenswerter, als nach einem Leben voll kühner, weitreichender Taten, einem möglichst heroischen Leben, nach Walhalla einzuziehen und für alle Zeiten zu einer mythischen Gestalt zu werden“ (S. 82f).

„Er las mit fieberndem Herzen alles, was er über diesen Meister erlangen konnte, Gutes wie Schlechtes, Zustimmendes wie Ablehnendes. Insbesondere verschaffte er sich […] biographische Literatur über Richard Wagner, las seine Aufzeichnungen, Briefe, Tagebücher, seine Selbstdarstellung, seine Bekenntnisse. Immer tiefer drang er in das Leben dieses Mannes ein“ (S. 84).

Aus dieser Passage leitet Zelinsky ab, daß Hitler aus seiner Lektüre etwas über Wagners Antisemitismus erfahren hätte. Doch davon ist keinerlei Rede bei Kubizek. Das Ergebnis der Wagner-Lektüre faßte Hitler selbst so zusammen: „‚auch Richard Wagner ist es so ergangen wie mir. Zeit seines Lebens mußte er gegen die Verständnislosigkeit seiner Umwelt ankämpfen'“ (S. 84).

Kubizek kommentiert: „Für uns gliederten sich die Menschen nur in zwei Kategorien: Freunde und Gegner Richard Wagners. […] Adolf kannte keine größere Sehnsucht, als einmal nach Bayreuth, in den nationalen Wallfahrtsort der Deutschen, zu kommen, Haus Wahnfried zu sehen, am Grabe des Meisters zu verweilen und in dem von ihm geschaffenen Bühnenhaus die Aufführung seiner Werke zu erleben“ (S. 85).

Für Zelinsky ist es klar, daß der private Wagner sowie Wagner als Schriftsteller nicht zu trennen sind von Wagner als Dichter und Komponist. Doch gerade diese Trennung legen Wagners eigene Äußerungen nahe, wenn ihm seine eigenen Werke nach der Fertigstellung fremd vorkamen, wenn er sagte, daß er sie vergesse. Vor diesem Hintergrund kann man sogar seine und Cosimas Interpretationen der Operntexte als fremde Meinungen nehmen, fremd gegenüber den Inspiratoren von Wagners Werk in der geistigen Welt.

Wie sehr Zelinsky von seiner eigenen Interpretation beherrscht ist, sieht man daran, daß er Alberich mit Fafner verwechselt. Es ist eine Kleinigkeit, und doch zeigt sie, daß Zelinsky in Fafner keinen Juden sehen konnte, in Alberich dagegen schon. Handelt seiner Meinung nach doch der „Ring“ vom jüdischen Kapital.

Wagners persönlichen Umgang mit Juden sieht Zelinsky ganz zutreffend. Es ist schauderhaft, wenn man in Cosima Wagners Tagebüchern lesen muß, wie die Wagners über einen anwesenden Juden reden, als sei er abwesend. Andererseits kennen viele der Älteren das noch aus ihrer Kindheit von ihren Eltern her.

Bleibt noch der „Parsifal“ als Hauptschuldiger, mit dem laut Zelinsky „der aktive rassistische Bayreuther Antisemitismus, der in Wagners ‚Religionsstiftung‘ vorprogrammiert war“, begann (S. 102).

Doch der Parsifal handelt nicht vom Antisemitismus, sondern vom Gral. Der Gral ist etwas Christliches. Hitler lehnte das Christentum ab und wollte sogar in Bayreuth eine heidnische Version des „Parsifal“ auf die Bühne bringen. Er war also selbst in diesem Punkt geistig unabhängig von Wagner.

Wer den Weg zum Holocaust verstehen will, darf ihn nicht nur bei Wagner und den Wagnerianern suchen, sondern bei Dietrich Eckart und der von ihm praktizierten Schwarzen Magie, bei Georg Ritter von Schönerer und Karl Lueger, bei Georg Lanz von Liebenfels, Guido von List und Theodor Fritsch (den auch Zelinsky nennt).

Hitler interessierte sich für Okkultismus, Wünschelruten, Graphologie, Astrologie, Zahlenmystik, Hypnose, Vorahnungen, Zweites Gesicht und Somnambulismus. Er weihte seine Seele vor dem Speer des Longinus in der Schatzkammer der Wiener Hofburg einem geistigen Wesen, das er „Übermensch“ nannte (Orzechowski 93). Christlich formuliert: Hitler machte sich zum Werkzeug des Teufels.

Ernst Hanfstaengl meinte, Hitler sei in der Hand von Dämonen gewesen. Hermann Rauschning führte Hitlers Weg in den Abgrund auf seine Willensschwäche zurück, die dazu führte, daß er sich von dunklen, zerstörerischen Mächten besetzen ließ. Insofern war Hitler gerade das Gegenteil von Richard Wagner, der einen sehr starken Willen hatte und seine Opern in harter täglicher Arbeit schuf.

Konrad Burdach: Der Gral

Es handelt sich um eine wissenschaftliche Arbeit aus dem Jahr 1938, die Konrad Burdach 1899 zu schreiben begann. 1936 waren die beiden Kapitel 26 über Christian von Troyes und 27 über Robert von Borron fertig. Das letzte (28.) Kapitel über Wolfram von Eschenbach vollendete Burdachs Assistent Hans Bork, der außerdem die ganze Arbeit durchsah und auf den neuesten Stand brachte.

Burdach untersucht die Entstehung der Gralslegende, indem er die Eucharistieinterpretationen der Kirchenväter referiert. Der Grundgedanke ist, daß es eine Verbindung zwischen Jesu letztem Abendmahl und dem Speerstich des Longinus gebe, der prüfen wollte, ob Jesus am Kreuz schon gestorben war. Daß aus der Wunde Blut und Wasser flossen, betrachteten die Kirchenväter nicht als Lebenszeichen (Tote bluten nicht, da das Herz nicht mehr schlägt), sondern als Wunder, das Jesus zum unsterblichen Gott machte.

Man bekommt auch einen Einblick in die Interpretation des Alten Testaments durch die Kirchenväter. Sie fanden zum Beispiel im Quellwunder des Moses (er schlägt mit dem Stab gegen einen Felsen, und es kommt Wasser heraus) eine Art Urbild der Taufe.

Im Gral fließt alles zusammen: die Taufe, die Eucharistie (die Verwandlung von Brot und Wein durch Magie in den Leib und das Blut Christi), die Wiedergeburt (im Sinne einer spirituellen Erneuerung), das Wunder und die Wiederholung von Jesu Leiden (der Wein beim Abendmahl entspricht dem Blut Jesu am Kreuz). In der erweiterten griechischen Messe wird der Speerstoß am Opferbrot wiederholt.

Wie der Name „Longinus“ (= Longos) des römischen Soldaten entstanden ist, der Jesus am Kreuz in die Seite stach, bleibt offen. Burdach vermutet, daß er in den Pilatusakten nicht zum ersten Mal auftaucht. Er diskutiert eine Übernahme des Namens aus der „Geschichte des Judäischen Krieges“ von Flavius Josephus (V 7,3) oder einer Quelle, die schon Josephus vorlag. Außerdem denkt er an den Cäsar-Mörder Cassius Longinus als Typus, um eine „Gewalttat gegen den obersten, geheiligten Herrn“ zu bezeichnen (S. 232). Die Version, erst Longinus habe Jesus aus Mitleid vollends getötet, hält er für unbiblisch.

An einer Stelle vergißt sich Burdach, so daß er die Grenzen wissenschaftlicher Formulierungen überschreitet und man sich fragt, ob er hier einen Kotau vor dem Nationalsozialismus macht oder selbst ein Antisemit ist: „Wenn es etwas gibt, was das Christentum hassenswert machen könnte, so wäre es dies, daß es aus dem Marasmus jüdisch-hellenistischer Kulturmischung jene allegoristische Vergiftung so voll in sich eingesogen und nicht wieder ausgeschieden, sondern in die abendländische Welt eingeschleppt und hier durch die Jahrhunderte fortgepflanzt hat. Spuren davon zeigen sich schon in den rabbinischen Elementen der Evangelien und der Paulinischen Briefe“ (S. 57).

Doch wenn man sich andererseits klar macht, daß Hitler Wagners „Parsifal“ entchristlichen wollte, merkt man, wie mutig Hans Bork war, als er sich hinter Burdachs Grundüberzeugung stellte, daß die Gralssage ihre Wurzeln im Christentum hat.

Burdach unterscheidet in der Geschichte des Grals zwei Phasen:

  • den Reliquienkult (mit der üblichen Vervielfachung der Reliquien Abendmahlskelch, Speer und Kreuz samt Echtheitszweifeln) und
  • die Entstehung der Gralssage, nachdem im 10. Jh. die Araber die Grabeskirche Konstantins in Jerusalem zerstört und an derselben Stelle eine Moschee gebaut hatten.

Nachdem die Reliquien zerstört waren, wurden sie zur Idee, sozusagen zur „blauen Blume des Mittelalters“ (S. 129). Damit begann die Gralssuche der mittelalterlichen Ritter.

Hans Bork erklärt Wolframs zweite Quelle (Kyot, der ein Buch von Flegetanis über den Gral kannte) mit der muslimischen Gralsüberlieferung. Sie beginnt mit der fünften Koran-Sure (Verse 112-115), geht aber ebenfalls auf christliche Traditionen zurück, obwohl Wolfram den Gral für einen Stein hielt (vgl. zusätzlich Mt 14,13-21//; 15,32-39//; 21,42//; Apg 4,11; 10,9-16; Röm 9,32f; 1 Petr 2,4-8; Offb 2,17; 4,2f).

Zur Psychologie von Tyrannen

Gottfried Wagner brach vollständig mit dem „Bayreuther Wahnwitz“ (S. 147) und heiratete nach Italien. Als er zusammen mit seiner Frau Teresina und seiner Schwiegermutter Mamma Antonietta im Fernsehen sah, wie in Rumänien Waisenhauskinder mißhandelt wurden, reiste er mit Teresina nach Bukarest und adoptierte Eugenio.

Anhand des Buchs „Abbruch der Schweigemauer“ von Alice Miller suchte er zu verstehen, wie „nach Hitler und Stalin in einem europäischen Staat mit Wissen westlicher und östlicher Politiker und humanitärer Organisationen zwei Jahrzehnte lang derartige Verbrechen begangen werden konnten, ohne daß ein Aufschrei der Empörung erklang“ (S. 341).

Miller schreibt im Kapitel „Nicolae Ceauşescu – Monströse Folgen der Verleugnung elender Kindheit“, daß der rumänische Diktator sein Volk ähnlich mißhandelte, wie er selbst von seinen Eltern mißhandelt worden war. „Wie seine Eltern einst vorgaben, ihn in seinem Interesse zu schlagen, hat er nun behauptet, mit Hilfe von Freiheitsentzug, Wahrheitsunterdrückung, Gehirnwäsche, Erniedrigung und Verdummung alle Rumänen zu ‚erlösen'“ (S. 112).

So wie Ceauşescus Mutter mehr Kinder hatte, als sie ernähren und erziehen konnte, sollte es allen rumänischen Frauen gehen. „Der Tyrann hat sich für sein persönliches Schicksal stellvertretend an Tausenden von Müttern, Vätern und Geschwistern gerächt“ (S. 116).

„Doch diese Rechnung geht nicht auf. Was in der Kindheit schmerzlich vermißt wurde, läßt sich durch Verdrängung und die Erfüllung von Ersatzbedürfnissen nicht nachholen. Auch wenn die durch die erreichte Macht genährte Illusion ins Unermeßliche steigt, die Zahl der Opfer bleibt immer noch zu klein für die unbewußte, mörderische Wut des verletzten Kindes, das nie leben durfte“ (S. 123).

Zahlreiche Mütter starben an illegalen Abtreibungen oder daran, daß sie im Krankenhaus nicht behandelt wurden. „Begreiflicherweise waren die Waisenhäuser überfüllt, und dort suchte sich der Diktator bekanntlich die Kinder aus, um sie zu Männern für die ‚Securitate‘ zu erziehen. […] Die restlichen Kinder wurden in westliche kapitalistische Länder zur Adoption verkauft und die so eingebrachten Devisen für das luxuriöse Leben der Herrscherfamilie verwendet“ (S. 124).

© Gunthard Rudolf Heller, 2023

Literaturverzeichnis

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– Richard Wagner als Musikphilosoph I/II

– Richard Wagner als Musikinterpret

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– Richard Wagner als Revolutionär

– Richard Wagner als Dichter und Komponist I-IV

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Gunthard Heller

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