Einführung in die Philosophie Friedrich von Schillers – Teil 1

Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759-1805) wollte eigentlich Pfarrer werden und predigte als Kind gerne. Doch aus Angst vor Herzog Karl Eugen von Württemberg, der der Vorgesetzte seines Vaters war, und „aus Gehorsam gegen die Eltern“ studierte er auf der Karlsschule Jura (Schillers Schwester Christophine Reinwald, in: Biedermann 10).

Schiller Philosophie Einführung Von da an wurde er kränklich.
Später sattelte er um, studierte Medizin und verlor darüber "seinen Kinderglauben" (Burschell 20). Daß
er dichtete, mußte er geheimhalten, da der Herzog "kein
Freund der Dichtkunst war" (Karlsschüler Freiherr Wilhelm
von Hoven, in: Biedermann 17).


Seinen
ursprünglichen Berufswunsch nährte die Lektüre von
Klopstock. "Nicht selten wandelten ihn heilige Schauer und
gottesdienstliches Entzücken an; er ergoß sich oft in
Gebete, und hielt, auch in Gesellschaft, Andachtsübungen; aber
nie gesellte er sich zu den schwärmerischen Betbrüdern und
verschrobenen Kopfhängern, die unter dem Namen Pietisten
ebenfalls in der Akademie einige Jahre hindurch ihr Wesen trieben"
(Karlsschüler Johann Wilhelm Petersen, in: Biedermann 22).


(Die
1770 von Herzog Karl Eugen gegründete "Militärische
Pflanzschule" auf Schloß Solitude war ursprünglich
ein Waisenhaus. 1773 wurde daraus unter Zusammenlegung mit der
"Académie des Arts" (1761) die "Herzogliche
Militärakademie". 1775 erfolgte die Verlegung nach
Stuttgart. 1781 erhob sie Kaiser Joseph II. zur Universität und
nannte sie "Karls Hohe Schule" (Hohe Karlsschule). Schiller
studierte dort von 1773-80. 1794 wurde sie aufgelöst.) (MEL
13/474)


In
einer frühen Ode Schillers "zählte Satan alle seine
Erfindungen auf von Beginn der Welt bis auf heute, um das
Menschengeschlecht zu verderben, und die übrigen Teufel fielen
mit blasphemischen Chören ein" (Petersen, in: Biedermann
26f). Erst die Neigung zum Theater ließ Schillers "Hang
zur Gottesgelehrsamkeit" schwinden (Petersen, in: Biedermann
23).


Doch
Schiller war ein schlechter Schauspieler: Die Rolle des Clavigo
spielte er "abscheulich. Was rührend und feierlich sein
sollte, war kreischend, strotzend und pochend; Innigkeit und
Leidenschaft drückte er durch Brüllen, Schnauben und
Stampfen aus, kurz, sein ganzes Spiel war die vollkommenste
Ungebärdigkeit, bald zurückstoßend, bald
lachenerregend" (Petersen?, in: Biedermann 37).


Ähnliches
beobachteten Schillers Bekannte übrigens, wenn er dichtete: "In
ihrer äußeren Wirkung betrachtet, war die Begeisterung bei
Schiller in der Tat korybantischer Art. Wenn er dichtete, brachte er
seine Gedanken unter Stampfen, Schnaufen und Brausen zu Papier, eine
Gefühlsaufwallung, die man oft auch an Michelangelo während
seiner Bildhauerarbeiten bemerkt hat" (Petersen, in: Biedermann
25).


Karlsschüler
Georg Friedrich Scharffenstein, der Soldat wurde und bis zum General
aufstieg, urteilte über Schiller, er habe "ohnehin im
Grunde nur eine kurze Zeit seines Lebens ganz seinem Herzen, die
übrige Zeit nachher mehr seinen Lorbeeren gelebt" (in:
Biedermann 30).

Jakob
Friedrich Abel, Philosophieprofessor an der Karlsschule, berichtet
über Schillers Unterricht während des "sogenannten
philosophischen Kursus": "Schiller hörte bei Professor
Schwab, dem berühmten Gegner Kants und Reinholds und Verfasser
mehrerer Preisschriften Logik, Metaphysik und Geschichte der
Philosophie, bei mir Psychologie, Ästhetik, Geschichte der
Menschheit und Moral" (in: Biedermann 31).


Damit
sind wir beim Thema des vorliegenden Aufsatzes. Schillers
philosophische Schriften sind schwer zu lesen wegen des
Mißverhältnisses von hohem zeitlichem Aufwand und
dürftigem inhaltlichen Ergebnis. Erschwerend tritt hinzu, daß
man nicht recht in Kontakt mit dem Menschen kommt, der dahinter
steht. Es wirkt alles recht verkopft und gespreizt. Schillers "Beweise" (vgl. 5/581) nachzuvollziehen, würde umfangreiche Kommentare
erfordern, da schon jede einzelne Prämisse diskussionswürdig
ist.


So
beschränke ich mich hier in der Regel darauf, einen
Gesamteindruck von Schillers philosophischen Schriften zu vermitteln,
so daß der Leser weiß, um was es geht, und entscheiden
kann, welche Texte er selbst lesen will. Nur an einer Stelle in
Schillers Briefen "Über
die ästhetische Erziehung des Menschen" zeige
ich, inwiefern in seiner "Beweisführung" eine
Lücke klafft.

1.
Das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher

Der
Roman "Der
Geisterseher" (1787-89) für die Zeitschrift "Thalia" (hg. v. Schiller) blieb Fragment. Am 17.3.1788 schrieb Schiller an Körner, das
Werk werde "schlecht", es sei eine "Schmiererei",
die Zeit dafür aufzuwenden, sei Sünde. "Aber bezahlt
wird es nun einmal" (Briefe 165f). "Die Handlung ist
weitgehend frei erfunden", erinnert aber durch
den sizilianischen Magier an
"den Hochstapler und Geisterbeschwörer Alexander Graf
Cagliostro (1743-1795) […]; auch der Verdacht, der
Jesuitenorden betreibe die Konversion des Prinzen Friedrich Eugen zum
Katholizismus und wirke damit auf protestantische Erbfolge in
Württemberg ein, mag von Einfluß gewesen sein"
(Redaktion Kindlers Literaturlexikon, in: KNLL 14/926). Friedrich
Eugen hielt den Kontakt zu Geistern übrigens für möglich
und läßt von daher an den namenlosen protestantischen
Prinzen im "Geisterseher" denken, der ein rechter
Schwärmer ist.


Das
anschließende philosophische Gespräch handelt von "Willkür
und Planmäßigkeit der Geschichte" (KNLL 14/927).

2.
Geburtstagsreden

Gehört
allzuviel Güte, Leutseligkeit und große Freigebigkeit im
engsten Verstand zur Tugend?
Das
Thema dieser Geburtstagsrede Schillers für Franziska von
Hohenheim (1779), zuerst
Mätresse, später Frau des Herzogs, stammt
von letzterem.
Schiller beantwortet die Frage so: "Allzuviel
Güte und Leutseligkeit ist nicht Nachahmerin Gottes, nicht
Tugend. Sie ist aus Liebe entsprungen, aber ohne Weisheit vollbracht.
Tugend ist das harmonische Band von Liebe und Weisheit!" (5/246)


Die
Tugend in ihren Folgen betrachtet.
Es
handelt sich wieder um eine Geburtstagsrede für Franziska von
Hohenheim (1780). Schiller
definiert Tugend als Fähigkeit, "Geister
vollkommener zu machen
" (äußere
Folge der Tugend) "und
durch Vervollkommnung derselben selbst glückselig zu sein
" (innere
Folge der Tugend) (5/282).

3.
Dissertation

Philosophie
der Physiologie.
Von diesem
ersten Dissertationsversuch (1779) sind nur 11 Paragraphen erhalten.


§
1: Schiller hält das Universum für "das
Werk eines unendlichen Verstandes", der planmäßig
vorgegangen sei (5/250). Die Aufgabe des Menschen bestehe darin,
diesen Plan zu erkunden, aus ihm heraus den Schöpfer zu erkennen
und ihm gleich zu werden. Darin liege das höchste Glück.
Liebe sei "nichts
anderes als die Verwechslung meiner selbst mit dem Wesen des
Nebenmenschen" (5/251). Damit meint
Schiller nicht, daß Liebende Ich und Du nicht
auseinanderhalten können,
sondern eine psychische Kontinuität hinsichtlich der Empfindung von Lust und Schmerz.


Zwischen
Materie und Geist wirkt eine Kraft (§ 2), die Schiller "Mittelkraft" nennt (5/253). Er meint,
sie aus seiner Erfahrung beweisen zu können (§ 3). Zwischen
der Welt und der Mittelkraft befinden sich "mechanische
Unterkräfte", die von Schutzkräften
beschützt werden. Beide zusammen nennt Schiller "Bau",
"Bau und Mittelkraft
in Verbindung heißen wir Organ" (5/254; § 4). Daß
Schiller damit lediglich die Sinnesorgane meint, wird in § 5
klar. In § 6 bestimmt er den "Nervengeist" als Träger der
Mittelkraft (5/256), in § 7 stellt er eine Theorie darüber
auf, was beim Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen
(gemeint ist das Tasten) passiert.


§
8: "Vermittelst
dieser fünf Organe hat die ganze materielle Natur freien,
offenen Zugang zu der geistigen Kraft. […] Durch sie wirft die
äußere Welt ihr Bild in der Seele zurück. Und dies
ist nun der erste Grundpfeiler des geistigen Lebens; Vorstellung" (5/258). Sie
ist die Basis von "Überschauung,
Forschung der Kräfte, der Absichten". Mit Hilfe des Denkorgans
werden die Sinneseindrücke festgehalten (5/259).


Schiller
stellt drei Theorien über die Natur der Ideen im Denkorgan auf:
Sind sie "Eindrücke
in dem Kanal des Nervengeistes
",
"Bewegungen
des Nervengeistes
" oder "Schwingungen
saitenartig gespannter Fibern, deren Summe und Zusammenhang das
Denkorgan ausmacht
"? (5/260f) Charles Bonnet (1720-1793) habe leichtsinnigerweise diese drei
Theorien zu einer Hypothese verschmolzen, Schiller verwirft sie alle
drei.


In § 9
fragt er: "Sind
aber die materiellen Ideen der Phantasie immer in demjenigen Zustand
der Lebhaftigkeit, daß sie der Seele Vorstellungen machen
können, oder sind sie es nicht"? (5/262) Seine Antwort:
Nein. Begründung: Sonst müßte man ohne Unterbrechung
denken, auch wenn man schläft. Außerdem wäre in
diesem Fall das Denken chaotisch. Schlußfolgerung: Es muß
etwas geben, das die Ideen veranlaßt, Vorstellungen zu werden. Dieses Etwas sind Ideen,
die bereits im Denkorgan vorhanden sind und durch materielle Ideen
zum Klingen gebracht werden (Assoziation). Wie das genau vonstatten
geht, will Schiller gar nicht wissen, denn dieser Wissensdurst sei
krankhaft. Er selbst widerlege lieber falsche Theorien, als daß
er neue aufstelle.


Doch
wenn das Assoziationsprinzip richtig ist – wird dann "zuletzt
der Wille mechanisch bestimmt"? Sind wir dann noch frei?
(5/265) Das ist das Thema von § 10. Schillers Antwort: Die Seele
kann aufmerksam sein oder aber nicht. Auf diese Weise beherrscht und
schafft sie "Beweggründe" (5/266). Sie ist also
frei, aufzumerken oder nicht (erster Wille). Hat sie einmal
aufgemerkt, ist sie nicht mehr frei (zweiter Wille) – das
Handeln folgt nun mit logischer Konsequenz.


In
§ 11 behandelt Schiller das Empfinden. Da dem Menschen nach §
1 die Vollkommenheit bestimmt ist, darf er sich an nichts freuen, das
ihn verdirbt.


An
dieser Stelle bricht das Manuskript ab. "Die
Arbeit wurde wegen ihrer selbst für die damalige Zeit besonders
verwegenen Verbindung empirischer und spekulativer Gedankengänge,
wegen ihrer kecken Kritik an anerkannten Meistern wie A. v. Haller
und wegen ihres allzu schwungvollen, poetisch-bildhaften Stils
abgelehnt, freilich wurde zugleich die geistige Befähigung und
Selbständigkeit ihres Verfassers ausdrücklich anerkannt" (5/1082). Konsequenz:
Schiller mußte trotz
hervorragender Abschlußprüfung ein
weiteres Jahr die Schulbank drücken.


Versuch
über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit
seiner geistigen.
Schillers
zweite Dissertation (1780), die 27 Paragraphen umfaßt, verhalf ihm (zusammen mit
einer lateinisch abgefaßten Arbeit "Über
den Unterschied entzündlicher und fauliger Fieber")
zur Anstellung als Militärarzt. Es handelt sich um "eine
geschickte Komplilation der zeitgenössischen, recht primitiv
anmutenden Forschungsergebnisse auf dem Gebiet des psychophysischen
Parallelismus" (Burschell
24).


In
der an den Herzog gerichteten Vorrede weist Schiller auf die Harmonie
zwischen Philosophie und Medizin hin: "Diese
leihet jener von ihrem Reichtum und Licht; jene teilt dieser ihr
Interesse, ihre Würde, ihre Reize mit" (5/288).


In
der Einleitung (§
1)
sucht Schiller die Mitte zwischen zwei gegensätzlichen
Auffassungen: 1. Der Körper behindert den Geist bei seiner
Vervollkommung. 2. Die Verbesserung des Körpers leistet einen
Beitrag zur Vervollkommnung des Menschen.


Vollkommenheit
entsteht durch die Erstarkung, die mit der "Betrachtung
des Weltplans" einhergeht
(5/291). Dazu sind die
Sinnesorgane notwendig, die an den Körper gebunden sind. Dieser
wiederum wird erhalten durch Ernährung und Fortpflanzung (§
2).


§
3: Es
gibt zweierlei Körperkräfte: 1. physikalisch und chemisch
erklärbare (z.B. Bewegung); 2. unsichtbare (z.B. "Empfindlichkeit
der Nerven" und "Reizbarkeit
des Muskels")
(5/293).


§
4 und 5: Tierisches
Leben und Empfinden hat einen mächtigen Einfluß auf die
Seele und hindert den Menschen zu vergessen, "daß
er das unselige Mittelding von Vieh und Engel ist" (5/296).


Doch
das ist nicht alles (§
6).
Wenn die körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind, merkt
der Mensch, daß "’doch
noch für ihn etwas zu tun übrig bleibe’" (5/302).
Es wird ihm bewußt, daß in alltäglichen Handlungen noch etwas Höheres liegt
als etwa Stillung
des Hungers und Bequemlichkeit (§ 10; Schiller
zitiert hier Christian Garve). Noch
deutlicher sieht man das anhand der Entstehung der Kultur, wenn man
den Blick weg vom einzelnen Menschen auf die Menschheit als Ganzes
richtet: Der Körper ist "der
erste Sporn zur Tätigkeit; Sinnlichkeit die erste Leiter zur
Vollkommenheit
" (5/305f; § 11).


In den §§ 12 und
18 formuliert
Schiller das Gesetz, nach dem Körper und Geist zusammenhängen:
Sie unterliegen wechselseitigem Einfluß und verstärken
einander – sowohl zum Guten (z.B. Lust, Gesundheit) als auch
zum Schlechten (z.B. Unlust, Krankheit) hin. In den §§ 13-15, 17
und 19 führt Schiller das mit Beispielen näher aus.


Die §§ 16 und
20 bringen
Einwände:

  • "Aber
    auch der angenehme Affekt hat getötet, auch der unangenehme hat
    Wunderkuren getan?"
    (5/310)
    Schiller betrachtet beides als Ausnahmen unter bestimmten
    Vorausetzungen: Angenehme Affekte schaden, wenn sie zu stark sind,
    unangenehme Affekte nützen, wenn sie mäßig sind.
  • "Aber
    man hat tägliche Beispiele von Kranken, die sich voll Mut über
    die Leiden des Körpers erheben, von Sterbenden, die mitten in
    den Bedrängnissen der kämpfenden Maschine fragen: wo
    ist dein Stachel, Tod?
    "
    (5/315)
    Schiller gesteht das zu, erg änzt aber: "Eben
    diese ungewöhnliche Heiterkeit der tödlich Kranken hat
    mehrmalen auch eine physische Ursach zum Grunde […]; diese
    Heiterkeit ist bösartig"
    (5/316).
    Begr ündung: Die Schmerzempfindung fällt plötzlich weg,
    weil der Körper fast zerstört ist.

In § 21 weist
Schiller darauf hin, daß er psychische Krankheiten übergeht,
weil das zu weit führen würde. "Genug,
deucht es mich, ist es nunmehr bewiesen, daß die tierische
Natur mit der geistigen sich durchaus vermischet, und daß diese
Vermischung Vollkommenheit ist" (5/316).

Thema
von § 22 ist
die Physiognomik. Eine Zusammenfassung bringt die Überschrift: "Körperliche
Phänomene verraten die Bewegungen des Geists" (5/317).
Edle Affekte verschönern den Körper, unedle machen ihn
häßlich, besonders wenn sie andauern und zum Charakter
verhärten.

In § 23 betrachtet
Schiller die Notwendigkeit des Schlafs als Nachteil, weil er "uns
wenigstens den dritten Teil unsers Daseins raubt" (5/319).
Auch die Ermüdung paßt ihm nicht, wenn sie seinen
gedanklichen Höhenflug unterbricht. In § 24 tröstet
er sich theoretisch darüber hinweg: Da der Mensch ein aus Körper
und Geist gemischtes Wesen ist, sind beide notwendig: Lust und
Schmerz. In § 25 erklärt Schiller das näher: Zum
Körper gehört der Tod, auf den der Schmerz "abzielt" (5/321).
In § 26 interpretiert
er Ermüdung und Schlaf als Bremsen auf dem Weg zum Tod: "Unter
dem Schlaf ordnen sich die Lebensgeister wiederum in jenes heilsame
Gleichgewicht, das die Fortdauer unsers Daseins so sehr verlangt" (5/322).

§ 27: Der
Tod hindert uns am Mißbrauch des Körpers durch unsere
Freiheit. Durch die Verwesung werden seine Elemente anderen Zwecken
zugeführt. "Die
Seele fähret fort, in andern Kreisen ihre Denkkraft zu üben
und das Universum von andern Seiten zu beschauen" (5/324)
– also aus dem Jenseits. Sie hat das Leben auf der Erde zwar
noch nicht ausgeschöpft, doch vielleicht kommt sie ja wieder und
versteht dann die irdischen Verhältnisse besser – ein
Hinweis auf die Reinkarnationstheorie, die Schiller aus der Lektüre
der griechischen Klassiker vertraut war.

4.
Frühe philosophische Schriften

Der
Spaziergang unter den Linden.
Thema
dieses Dialogs zwischen den Einsiedlern Edwin und Wollmar (1782) ist
die Seelenwanderung als
Alternative zur Vorstellung, daß mit dem Tod alles aus ist, der
Optimismus als Alternative zum Pessismismus. Die überraschende
Ursache der beiden Auffassungen erfährt man ganz am Schluß:
Unter der Linde, unter der die beiden sich am liebsten unterhalten,
hat Edwin den ersten Kuß von Juliette bekommen, während
Wollmar dort von seiner Laura verlassen wurde.

Der
Jüngling und der Greis.
Dieser
Dialog (1782) wurde
wahrscheinlich von Scharffenstein entworfen und von Schiller
ausgearbeitet. Es prallen hier zwei Lebensgefühle aufeinander:
der Tatendrang des jungen Selim und die Genügsamkeit des alten
Almar.

Tugend,
Liebe, Freundschaft.
Die kurze
Abhandlung ist eine Beilage
zu Schillers Brief an Körner und dessen Frau Minna vom 7.8.1785, in dem er die beiden bat,
über ihrem Eheglück die Freundschaft zu ihm nicht zu
vergessen. In
der Abhandlung sagt die Freundschaft zu Jupiter über die Tugend
und die Liebe: "Mich
lassen sie stehen, wenn sie glücklich sind, aber sie suchen mich
auf, wenn sie leiden." Jupiter
versöhnt die drei: Die Tugend lehrt die Liebe die
Standhaftigkeit, die Liebe beglückt nur den Tugendhaften, die
Freundschaft steht zwischen ihnen und garantiert "die
Ewigkeit dieses Bundes" (5/335).

Der
bittere Hintergrund: Körners Vater, ein
protestantischer Pfarrer, der zum Superintendenten von Leipzig
aufgestiegen war, hatte sich
verbeten, daß der Sohn ihm seinen Freund vorstellte. Mehr noch:
Schiller durfte nicht einmal ins Haus des Vaters. Das Brautpaar
durfte ihn nicht zur Hochzeit einladen (Biedermann 129), die
erst nach dem Tod von Körners Vater stattfinden konnte, da er
auch die Braut ablehnte (Lahnstein 195).

Philosophische
Briefe.
Der 1786
veröffentlichte fragmentarische
Briefwechsel zwischen dem jugendlichen Julius (= Schiller) und seinem Lehrer Raphael (=
Körner, eventuell mit Zügen von Abel und Scharffenstein,
vgl. Gert Sautermeister in KNLL 14/937) handelt von dem Ringen des
ersteren um Weisheit. Raphael hat die naive Religiosität des
Julius mit seinen Argumenten zerstört. Jetzt empfindet er die
Vernunft lediglich als "Fackel
in einem Kerker", von
dem er vorher nichts wußte (5/341).
Seine Zweifel machen ihn unglücklich und mutlos. Raphael
verweist Julius auf sich selbst und appelliert an seine eigenen
heilenden Kräfte. Er habe durch seine Worte den natürlichen
Entwicklungsprozeß des Julius lediglich beschleunigt.

Darauf
schickt Julius dem Raphael ein Manuskript, das seine Theosophie
enthält (wahrscheinlich
schon 1779 entstanden, aber später überarbeitet). Es
ist "ein
philosophischer Essay […], der populärmetaphysische
Konzepte leibnizianischer (J. J. Spalding, Ch. Garve) und
hermetisch-theosophischen Ursprungs (J. F. Oetinger, J. H. Obereit)
aufnimmt und in der Idee der Entäußerung Gottes in seinen
Geschöpfen und der Wiederherstellung der göttlichen Einheit
durch die Liebe, mit der die geschaffenen Individuen zueinander
streben, gipfelt" (Wolfgang
Riedel, in: LPHW 556).

In
seinem Brief an Wilhelm Friedrich Reinwald vom 14.4.1783 vertieft
Schiller die Theosophie des Julius. Die entscheidenden Sätze: "Alle
Geburten unsrer Phantasie wären also zuletzt nur wir
selbst.
[…]
Liebe […] ist zuletzt nur ein glücklicher Betrug.
Erschrecken, entglühen, zerschmelzen wir für das fremde,
uns ewig nie eigen werdende Geschöpf? Gewiß nicht. Wir
leiden jenes alles nur für uns, für das Ich, dessen Spiegel
jenes Geschöpf ist. Ich nehme selbst Gott nicht aus. […]
Er erblickt sich,
sein großes, unendliches Selbst, in der unendlichen Natur
umhergestreut" (Briefe
45).

Körner
schrieb noch einen abschließenden Brief von Raphael an Julius,
der erst 1789 veröffentlicht wurde. Das Wichtigste: Statt der in
Schulen üblichen "Unterjochung
des Geistes" will
Raphael den Julius "zu
einer höhern Freiheit
des Geistes
" führen,
die ihn von irgendwelchen einseitigen philosophischen Systemen
unabhängig macht (5/1099).

"Alles
kam darauf an, Dich auf den Wert des Selbstdenkens aufmerksam zu
machen, und Dir Zutrauen zu Deinen eignen Kräften einzuflößen.
[…] Daß ein System wie das Deinige die Probe einer
strengen Kritik nicht aushalten konnte, darf Dich nicht befremden.
Alle Versuche dieser Art […] hatten kein andres Schicksal" (5/1100).

Die "demütigenden
Wahrheiten von den Grenzen des menschlichen Wissens" will
Raphael dem Julius noch ersparen. "Alles
zu entfernen, was Dich im vollen Genusse Deines Daseins hindert, den
Keim jeder höhern Begeisterung – das Bewußtsein des
Adels Deiner Seele – in Dir zu beleben, dies ist mein Zweck" (5/1101).

"Träges
Anstaunen fremder Größe
kann nie ein höheres Verdienst sein. Dem edleren Menschen fehlt
es weder an Stoffe zur Wirksamkeit noch an Kräften, um selbst in
seiner Sphäre Schöpfer zu
sein. Und dieser Beruf ist auch der Deinige, Julius. Hast Du ihn
einmal erkannt, so wird es Dir nie wieder einfallen, über die
Schranken zu klagen, die Deine Wißbegierde nicht überschreiten
kann" (5/1102).

5.
Historische Schriften

Geschichte
des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung.
Es handelt sich um den
ersten und einzigen Band (1788) eines auf sechs Bände
angelegten Werks. Schiller beginnt mit der Besetzung der Niederlande
durch die Römer und behandelt hauptsächlich "die
politischen Ereignisse von der Einsetzung der Inquisition (1522) bis
zur Abreise der Herzogin von Parma aus den Niederlanden (1567)". Er "ist
darin der Geschichtsphilosophie des frühen 18. Jahrhunderts
verpflichtet, daß er eine Gesetzmäßigkeit in den
historischen Abläufen zu erkennen glaubt; diese wiederum werden
freilich häufig genug vom Zufall in Gang gesetzt" (Hans-Wolf Jäger, in:
KNNL 14/928).

Jäger
faßt Schillers Thesen folgendermaßen zusammen:

  • Geographie, Umwelt und durch Freiheit ermöglichter Wettbewerb
    bedingen das Niveau einer Kultur.
  • Zensur verhindert den Fortschritt am meisten.
  • Das Naturrecht erlaubt den Aufstand gegen die Unterdrücker.

Was
heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?
Schillers Antrittsvorlesung
als Geschichtsprofessor in Jena am 26. und 27.5.1789 "beschäftigte
sich ausführlich mit dem Unterschied zwischen dem
‚Brotgelehrten‘ und dem ‚philosophischen Kopf’" und der Möglichkeit,
Ordnung in "die
Bruchstücke des historischen Wissens" zu bringen, d.h. sie als
System darzustellen (Helmut
Koopmann, in: KNLL 14/953).

Schiller
hält hier die Wahrheit für das größte Geschenk,
das ein Mensch einem anderen machen kann. Leider ist der
Brotgelehrte, der seine Wissenschaft für Geld, Ehre, gute Presse
und Gunst der Fürsten treibt, dafür nicht geeignet: Er regt
sich über Reformationen auf und blockiert wissenschaftliche
Revolutionen. "Je
weniger seine Kenntnisse d u r c h s i c h s e l b s t ihn
belohnen, desto größere Vergeltung heischt er von außen" (10/242).
Dadurch stellt er sich auf eine Stufe mit dem Tagelöhner und
offenbart seine sklavische Gesinnung.

Dagegen
stellt der philosophische Kopf die Wahrheit über sein eigenes
Gedankengebäude. Er anerkennt die Verdienste anderer und fühlt
sich durch die wissenschaftliche Tätigkeit selbst angespornt und
belohnt.

Etwas
über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der
mosaischen Urkunde – Uebergang
des Menschen zur Freiheit und Humanität
(1790) gehört
zu Schillers universalhistorischen Vorlesungen in Jena. Schiller
versucht hier das, was in der Bibel fehlt, mit seiner eigenen
Vernunft zu füllen. Dabei stellt er die elterliche und eheliche
Liebe über den gesellschaftlichen Umgang, der nur dem Vergnügen
dient. Er räsoniert über Ackerbau und Viehzucht, den ersten
Mord, die Monogamie, die Entstehung der Schere zwischen Armen und
Reichen, den Ehebruch der Herren mit den Mägden und die
Entstehung von Räubern und Tyrannen aus den Bastarden. Er denkt,
daß der erste König "ein
Usurpator war, den nicht ein freiwilliger, einstimmiger Rauf der
Nation (denn damals war noch keine Nation), sondern Gewalt und Glück
und eine schlagfertige Miliz auf den Thron setzten" (10/270).

Die
Sendung Moses
(1790), ebenfalls eine von Schillers universalhistorischen Jenaer
Vorlesungen, macht durch ihren Antisemitismus betroffen.

Schiller
nimmt sich vor, "gerecht" gegen
die Hebräer zu sein (10/271). Was das bei ihm heißt, sieht
man anhand des
folgenden:
Die Juden seien unwürdig und verworfen, unrein und gemein, von
der Vorsehung gebrochen, seit ihre Mission, nämlich die
Etablierung des Monotheismus, erfüllt sei. Die Ägypter
hätten die Hebräer als Nomaden verabscheut und
sie durch ihre Versklavung zum rohesten, bösartigsten,
verworfensten Volk auf der ganzen Erde gemacht. Die Hebräer
seien verwildert, seien erbittert, verzagt, ehrlos und entschlußlos
gemacht worden, sie seien verdummt und verwahrlost geworden, "endlich
fast bis zum Tier herunter gestoßen" worden
(10/273).

Moses wird
bei Schiller zu
einem in die ägyptischen Mysterien Eingeweihten, der sein
Initiationswissen von dem Schöpfer Jao für die
Fassungskraft der Hebräer herabtransponiert und in einen
Nationalgott namens Jehovah verwandelt, den
Gott der hebräischen Patriarchen.
Dieser stürzt die andern Götter und unterwirft die andern
Völker sowie die Natur.

"So
rettete er in dem Bild, worin er ihn den Hebräern vorstellte,
die zwei wichtigsten Eigenschaften seines wahren Gottes, die Einheit
und die Allmacht, und machte sie wirksamer in dieser menschlichen
Hülle. […]

Freilich
ist es nur ein neuer Irrglaube, wodurch er den alten stürzt;
aber dieser neue Irrglaube ist der Wahrheit schon um vieles näher,
als derjenige, den er verdrängte" (10/284).

Die
Wahrheit wäre Schiller zufolge der Gott der Philosophen gewesen.
Doch mit dem hätten die Hebräer seiner Meinung nach nichts
anfangen können. Der
Sinn des Unternehmens: Moses habe die unwürdigen und unfähigen Hebräer "wieder
in die Menschenrechte einsetzen", ihnen "Hoffnung,
Zuversicht, Heldenmut, Enthusiasmus" einflößen wollen (10/282). Moses
sei also nicht von Jahwe (Jehovah) berufen worden, sondern habe sich
in der Wüste einen Plan zur Befreiung der Hebräer
ausgedacht. Die hätten das alles nur glauben, nicht mit Hilfe
der Vernunft erkennen können.

Die
württembergischen Bürger hatten aus zwei Gründen
Vorurteile gegenüber den Juden: Erstens waren
Hof und Karlsschule eher tolerant
bis liberal-humanistisch
eingestellt, zweitens hatte Joseph Süß Oppenheimer im
Auftrag Herzog Karl Alexanders von Württemberg, dem Vater von Herzog
Karl Eugen, das Volk
ausgepreßt. Schiller
schätzte wie seine Lehrer Lessings "Nathan
der Weise" und Moses Mendelssohn, den Kant
1777 nach
einer Vorlesung per
Handschlag begrüßt
und umarmt
hatte, nachdem seine Studenten ihn unbekannterweise
verh öhnt
und verspottet, wegen ihm geschnalzt, gepfiffen und gestampft hatten
(vgl. Keller 402f).

Der
jüdische Bandit Spiegelberg in Schillers "Räubern" ist
ein ziemlich übler
Bursche – doch im 18. Jahrhundert "gab
es jüdische Räuberbanden" (Lahnstein
138).

Als
Schiller 1782-83 in
Bauerbach (Thüringen) wohnte, lernte er viele Juden kennen. Er schätzte es,
daß sie wöchentlich die Synagoge besuchten, während
die Christen nur ab und zu einem Gottesdienst in
einer schuppenähnlichen Kirche beiwohnten. Ein
jüdischer Hausierer namens Mattich
wurde zu Schillers Partner beim Kartenspielen und Spazieren – gegen
den Widerstand von Mattichs Frau, die Schiller für einen
Nichtsnutz (Chattes)
hielt.
Gesprächsthemen waren die Religion, Lokales und Anekdoten. Aus
letzteren machte Schiller ab und an eine Ballade. Dem betrunkenen
Juden Jonas
Oberländer rettete Schiller das Leben, als er in einem
Wassergraben lag. "Der
Mann ist steinalt geworden und hat zeitlebens den Dichter als seinen
Retter gepriesen" (Lahnstein
138).

Goebbels
nahm Schiller übrigens "vor
dem Vorwurf, ‚liberaler Humanist‘ zu sein, in Schutz: ‚Hätte
Schiller in dieser Zeit gelebt, er wäre zweifellos der große
dichterische Vorkämpfer unserer Revolution [gemeint
ist die nationalsozialistische Machtergreifung] geworden.‘
Wo freilich der Vorkämpfer Rezepturen für den Tyrannenmord
lieferte oder allzu arg in Freiheit schwelgte, zeigte seine
Beliebtheit Lücken: ‚Die Verschwörung des Fiesco‘ und ‚Don
Carlos‘ waren ‚unerwünscht‘, ‚Wilhelm Tell‘ am Ende sogar
verboten" (Heiber
175).

Die
Gesetzgebung des Lykurgus und Solon
(1790).
Bei seiner Kritik an Lykurg, dem Gesetzgeber Spartas, befolgt
Schiller folgende Grundsätze: "Alles
darf dem Besten des Staats zum Opfer gebracht werden, nur dasjenige
nicht, dem der Staat selbst nur als ein Mittel dient. Der Staat
selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung,
unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und
dieser Zweck der Menschheit ist kein andrer, als Ausbildung aller
Kräfte des Menschen, Fortschreitung" (10/297), "Fortschreitung
des Geistes" (10/299).

Solon,
der Athen die Gesetze gegeben hat, mißt Schiller daran: "Das
edelste Vorrecht der menschlichen Natur ist, sich selbst zu bestimmen
und das Gute um des Guten willen thun. Kein bürgerliches Gesetz
darf Treue gegen den Freund, Großmut gegen den Feind,
Dankbarkeit gegen Vater und Mutter zwangsmäßig gebieten;
denn sobald es dieses thut, wird eine freie moralische Empfindung in
ein Werk der Furcht, in eine sklavische Regung verwandelt" (10/310).

Das
Ergebnis liegt auf der Hand: Lykurg genügt Schillers Anforderung
nicht, Solon aber schon. "Um
den atheniensischen Gesetzgeber steht die Freiheit und die Freude,
der Fleiß und der Ueberfluß – stehen alle Künste
und Tugenden, alle Grazien und Musen herum, sehen dankbar zu ihm auf
und nennen ihn ihren Vater und Schöpfer. Um den Lykurgus sieht
man nichts als Tyrannei und ihr schreckliches Gegenteil, die
Knechtschaft, die ihre Ketten schüttelt und dem Urheber ihres
Elends flucht" (10/313). Doch
Schiller vergißt auch den Undank Athens "gegen
seine größten Männer" und
die "Grausamkeit
gegen seine überwundenen Feinde" nicht
(10/314).

Ueber
Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter
(1790).
In diesem Aufsatz, einem Teil der Einleitung zur "Allgemeinen
Sammlung Historischer Memoires vom zwölften Jahrhundert bis auf
die neuesten Zeiten", fragt
Schiller, ob das Mittelalter mit seinen Gewalttätigkeiten der
kürzeste Weg zum Ziel der modernen Menschenfreiheit war. War es
gar "eine
n o t w e n d i g e Bedingung unserer bessern Zeiten?" (11/7). Schillers Antwort ist bejahend: "Die
lange Waffenübung des Mittelalters hatte dem sechzehnten
Jahrhundert ein gesundes, starkes Geschlecht zugeführt und der
Vernunft, die jetzt ihr Panier entfaltet, kraftvolle Streiter
erzogen" (11/9).
Doch andererseits verneint er einen willentlichen Einfluß der
Menschen auf die Geschichte: "Wie
anders säet der Mensch, und wie anders läßt das
Schicksal ihn ernten!" (11/13)

In
seiner Geschichte
der Unruhen in Frankreich, welche der Regierung Heinrichs IV.
vorangingen
aus
der zweiten Abteilung der Historischen Memoires (1791/92) stellt
Schiller fest, "daß
keine Kriege zugleich so ehrlos und so unmenschlich geführt
werden, als die, welche Religionsfanatismus und Parteihaß im
Innern eines Staats entzünden. […] Die Gefühle für
Gerechtigkeit, Anständigkeit und Treue, welche sich auf
anerkannte Gleichheit der Rechte gründen, verlieren in
Bürgerkriegen ihre Kraft, wo jeder Teil in dem andern einen
Verbrecher sieht und sich selbst das Strafamt über ihn zueignet" (11/80f).

Geschichte
des dreißigjährigen Krieges
(1791-93). Peter Lahnstein kritisiert aus heutiger
Sicht Schillers "betont konfessionelle Sicht der Ereignisse. Im
Ringen der Mächte waren die konfessionellen Motive selten mehr
als drittranging; das Volk allerdings hat den dreißigjährigen
als einen Konfessionskrieg empfunden" (S. 293).

Doch
gleich zu Beginn seines Buchs schränkt Schiller die Bedeutung
der Religion für den Krieg (1618-48) ein: "Durch sie allein
wurde möglich, was geschah, aber es fehlte viel, daß es f
ü r sie und ihrentwegen unternommen worden wäre. Hätte
nicht der Privatvorteil, nicht das Staatsinteresse sich schnell damit
vereinigt, nie würde die Stimme der Theologen und des Volks so
bereitwillige Fürsten, nie die neue Lehre [der Reformation; Anm.
v. mir] so zahlreiche, so beharrliche Verfechter gefunden haben"
(9/4f). Kurz: Die Regierenden kämpfen für sich, d.h. für
ihre Macht und ihr Land, doch das Volk "glaubte für die
Wahrheit sein Blut zu vergießen" (9/5).

Als
Kriegsursache gelten heute "ständische und religöse
Auseinandersetzungen im Reich" (MEL 7/208), als Kriegsanlaß
der Aufstand in Böhmen wegen der Verletzung der im
Majestätsbrief vom 9. Juli 1609 den Ständen garantierten
Rechte auf freie Ausübung der Religion, auf freien Bau von
Kirchen und Schulen und auf protestantische Verteidiger
("Defensoren") (MEL 15/484).

Schiller
stellt das genauso dar, nur etwas ausführlicher: Neben den
genannten Punkten führt er noch die Gleichberechtigung der
Protestanten an, die die Universität Prag und eine eigene
Verwaltungsbehörde ("Konsistorium") bekamen. "Alle
Kirchen, die sie zur Zeit der Ausstellung dieses Briefes in Städten,
Dörfern und Märkten bereits inne haben, sollen ihnen
bleiben, und wenn sie über diese Zahl noch neue erbauen lassen
wollten, so soll dieses dem Herren- und Ritterstande und allen
Städten unverboten sein. Diese letzte Stelle im Majestätsbriefe
ist es, über welche sich nachher der unglückliche Streit
entspann, der Europa in Flammen setzte" (9/27).

Als

Erzherzog Ferdinand (1578-1637), seit 1617 König von Böhmen,
die Kirche in Klostergrab abreißen, die Kirche in Braunau
sperren und Unruhestifter gefangensetzen ließ, wurden
Abgeordnete nach Prag geschickt. Der König gab in einem
Briefwechsel nicht nach und betrachtete die Protestanten als
Gesetzesbrecher und Rebellen. Da eine Empörung gegen den König
noch zu gewagt erschien, richteten die Protestanten ihre Aggression
gegen dessen Statthalter Martiniz und Slawata und deren Sekretär
Fabricius: Am 23. Mai 1618 warfen sie die drei aus einem Fenster des
Hradschin "achtzig Fuß tief in den Schloßgraben
hinunter." Da die drei weich auf einem Misthaufen landeten,
passierte ihnen nicht einmal etwas. Schiller kommentiert: "Ueber
eine so seltsame Art zu exequieren verwunderte sich die ganze
gesittete Welt, wie billig; die Böhmen entschuldigten sie als
einen landüblichen Gebrauch und fanden an dem ganzen Vorfalle
nichts wunderbar, als daß man von einem so hohen Sprunge so
gesund wieder aufstehen konnte" (9/52).

In
der Folge stellten die protestantischen Böhmen ein Heer auf und
weigerten sich, dem 1619 zum Kaiser gewählten Ferdinand II. zu
huldigen. Dabei wurden sie von den Niederländern unterstützt.
Sie erklärten Böhmen für unabhängig, setzten
Ferdinand ab und wählten Friedrich V. zum König. "Dessen
Wahlannahme weitete den Böhmischen Aufstand zur Reichssache
(Bündnis Ferdinands mit der Liga) und löste den
Dreißigjährigen Krieg aus" (MEL 4/444).

Schillers
positive Beurteilung des Westfälischen Friedens hält
Lahnstein für "des Nachdenkens wert" (S. 293).

6.
Briefstellen über Kant

Die
Lektüre von Kants "Kritik
der Urteilskraft" riß
Schiller hin und weckte in ihm das Verlangen, sich "nach
und nach in seine Philosophie hineinzuarbeiten"
– so schrieb er am 3.3.1791 an Christian
Gottfried Körner (Briefe
256). Schillers Begeisterung hielt an. So heißt
es im Brief vom 1.1.1792, ebenfalls an Körner, er befasse sich eifrig mit Kant und werde nicht
ruhen, bis er ihn verstanden habe, auch wenn das drei Jahre dauere. "Übrigens
habe ich mir schon sehr vieles daraus genommen und in mein Eigentum
verwandelt. Nur möchte ich zu gleicher Zeit gerne Locke, Hume
und Leibniz studieren. Weißt Du mir von Locke keine brauchbare
Übersetzung?" (Briefe 270)

Hinsichtlich
des Geschmacks, den Kant für eine empirische Angelegenheit
hielt, war Schiller allerdings anderer Ansicht. So schrieb er am
25.1.1793 an Körner: "Aber
eben von dieser Unvermeidlichkeit des Empirischen, von dieser
Unmöglichkeit eines objektiven Prinzips für den Geschmack
kann ich mich noch nicht überzeugen" (Briefe 276).

Zum
Prinzen von Schleswig-Holstein-Augustenburg meinte Schiller am
9.2.1793: "Anstatt
seine Gefühle nach Grundsätzen zu prüfen und zu
berichtigen, prüft man die ästhetischen Grundsätze
nach seinen Gefühlen.

Dies
ist der Knoten, dessen Auflösung leider selbst Kant für
unmöglich hält" (Briefe 278). Ein wenig
später im selben Brief fährt Schiller fort: "Diese
fruchtbare Philosophie […] gibt nach meiner gegenwärtigen
Überzeugung die festen Grundsteine her, auch ein System der
Ästhetik zu errichten, und ich kann es mir bloß aus einer
vorgefaßten Idee ihres Schöpfers erklären, daß
er ihr nicht auch noch dieses Verdienst erwarb. Weit entfernt, mich
für denjenigen zu halten, dem dieses vorbehalten ist, will ich
wenigstens versuchen, wie weit der entdeckte Pfad mich führt" (Briefe 279).

Nun,
dieser Pfad führte zu Schillers ästhetischen Schriften
(vgl. d. nächste Kapitel).

Auch
von Kants Schriften zur Religion war Schiller beeindruckt. So schrieb
er am 28.2.1793 an Körner: "Kant
[…] liebt sehr, Schriftstellen einen philosophischen Sinn zu
geben. Es ist ihm […] nicht sowohl darum zu tun, die Autorität
der Schrift dadurch zu unterstützen, als vielmehr die Resultate
des philosophischen Denkens dadurch an die Kindervernunft anzuknüpfen
und gleichsam zu popularisieren. […] Aber ob er überhaupt
wohl daran getan hat, die christliche Religion durch philosophische
Gründe zu unterstützen, zweifle ich sehr" (Briefe 280).

Noch
am 23.8.1794 schrieb Schiller an Körner: "Das
Studium Kants ist noch immer das einzige, was ich anhaltend treibe,
und ich merke doch endlich, daß es heller in mir wird" (Briefe 300). Gegenüber
Goethe äußerte Schiller sich dahingehend, Herder habe ihm
widersprochen und könne ihm seinen "Kantischen
Glauben, wie es scheint, nicht verzeihen" (Briefe 317). "Herder
haßt Kanten, wie Du wissen wirst", hatte Schiller schon am
24.7.1787 an Körner geschrieben (Briefe 126).

Schiller
hielt Herder in seinem Brief an Körner vom 1.5.1797 übrigens
für eine "ganz
pathologische Natur": Er sei feige, neidisch "auf
alles Gute und Energische und affektiert, das Mittelmäßige
zu protegieren. […] Gegen Kant und die neusten Philosophen hat
er den größten Gift auf dem Herzen, aber er wagt sich
nicht recht heraus, weil er sich vor unangenehmen Wahrheiten
fürchtet, und beißt nur zuweilen einen in die Waden" (Briefe 457).

Am
21.11.1794 an Friedrich von Hoven: "Seitdem
ich wieder in Jena bin, habe ich mich sehr mit Kantischer Philosophie
abgegeben und mich sehr wohl dabei befunden. Fichte interessiert mich
auch sehr."
Er sei "nach
Kant […] gewiß der größte spekulative Kopf in
diesem Jahrhundert" (Briefe 319).

Im
Brief an Goethe vom 7.1.1795 war die Begeisterung für Kant dann
abgekühlt: "So
viel ist indes gewiß, der Dichter ist der einzige wahre Mensch,
und der beste Philosoph ist nur eine Karikatur gegen ihn" (Briefe 324). Am 29.6.1795
schrieb Schiller an Friedrich Jacobi: "Da,
wo ich bloß niederreiße und gegen andre Lehrmeinungen
offensiv verfahre, bin ich streng kantisch; nur da, wo ich auf baue,
befinde ich mich in Opposition gegen Kant. Indessen schreibt er mir,
daß er mit meiner Theorie ganz zufrieden sei; ich weiß
also doch noch nicht recht, wie ich gegen ihn stehe" (Briefe 341). Am
21.12.1795 teilte er Körner mit, er habe Kants Schrift "Zum
ewigen Frieden" "noch
nicht gelesen (Deine Bemerkungen darüber sende mir ja). […]
Ich lese jetzt überhaupt sehr wenig" (Briefe 385).

Nachdem
Goethe am 19.12.1798 Kants "Anthropologie" als unerquicklich
verworfen hatte, weil man sich von dessen Standpunkt "immer
im pathologischen Zustande" sehe, meinte Schiller in
seiner Antwort vom 22.12.1798: "Ich
bin sehr verlangend, Kants ‚Anthropologie‘ zu lesen. Die
pathologische Seite, die er am Menschen immer herauskehrt und die bei
einer Anthropologie vielleicht am Platze sein mag, verfolgt einen
fast in allem, was er schreibt, und sie ists, die seiner praktischen
Philosophie ein so grämliches Ansehen gibt" (Briefe 516).

Link zum Teil 2: Friedrich Schiller – Philosophie Einführung

Gunthard Heller