Einführung in die Philosophie von Alfred Whitehead

Alfred Whitehead wurde mit dem Standardwerk „Principia Mathematica“ – welches er zusammen mit Freund Bertrand Russell schrieb – bekannt. Lesen Sie hier eine Einführung in das philosophische Werk dieses großen Denkers.

Einführung

Alfred North Whitehead (1861-1947) studierte und lehrte Mathematik am Trinity College in Cambridge. Zum mathematischen Lehrplan gehörte auch Physik. Dementsprechend promovierte Whitehead über Maxwell. Er unterrichtete auch Hydrostatik und behandelte Newton. Seine Kollegen betrachteten ihn als Dozent für angewandte Mathematik.

Alfred Whitehead Philosophie Einführung

Zusammen mit seinem Schüler, Kollegen und Freund Bertrand Russell (1872-1970) verfaßte er die Principia Mathematica. Darin ging es darum, die Mathematik logisch zu untermauern. Russell erzählt in seiner Autobiographie „Philosophie – Die Entwicklung meines Denkens“:

„Im großen und ganzen überließ Whitehead mir die philosophischen Probleme. Im Bereich der mathematischen Probleme entwickelte er den größten Teil unseres Symbolismus (soweit dieser vom Peanoschen abwich); ich konzentrierte mich auf den Bereich der unendlichen Folgen und Reihen, während Whitehead wiederum den größten Teil der übrigen Gebiete bearbeitete. Aber diese Arbeitsteilung galt immer nur für den ersten Entwurf […]. Man kann wohl sagen, daß es in den drei Bänden kaum eine Zeile gibt, die nicht als ein echtes Gemeinschaftsprodukt betrachtet werden dürfte.

Unser Hauptziel bei der Abfassung der Principia war der Nachweis, daß die gesamte reine Mathematik aus rein logischen Prämissen ableitbar ist und alle in ihr auftretenden Grundbegriffe sich rein logisch definieren lassen. Das stand natürlich im genauen Widerspruch zu Kant“ (S. 75).

Von 1924 bis 1937 unterrichtete Whitehead Philosophie an der Harvard University. Nach seiner Emeritierung hielt er noch Vorlesungen am Wellesley College, in Chicago und an der Harvard University.

Auf dem Ersten Internationalen Whitehead-Symposion 1981 berichtete Victor Lowe, wie schwierig es ist, irgendwelche biographischen Aussagen über Whitehead zu machen: Er führte kein Tagebuch und schrieb kaum Briefe. Die Briefe an seine Eltern und Brüder sind nicht erhalten. In seinem Testament ordnete er an, seine Briefe an seine Frau Evelyn und die an ihn gerichteten Briefe, Unveröffentlichtes und Buchmanuskripte zu vernichten. Von Zeitgenossen gibt es nur spärliche Erinnerungen.

In seiner Philosophiegeschichte „Denker des Abendlandes“ (1959) schrieb Russell, daß Whiteheads philosophische Schriften „oft sehr dunkel und schwer zu lesen“ seien. Die „metaphysischen Spekulationen Whiteheads“ seien ihm „ziemlich fremd“ (S. 402).

Am bekanntesten ist Whiteheads Beurteilung der abendländischen Philosophie in „Prozeß und Realität“ geworden, die zugleich den Schlüssel zu seinem eigenen Werk liefert:

„Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht. Damit meine ich nicht das systematische Denkschema, das seine Schüler in fragwürdiger Weise aus seinen Schriften destilliert haben. Vielmehr spiele ich auf den Reichtum an allgemeinen Ideen an, die sich überall in diesen Schriften finden. Seine persönlichen Begabungen, seine Erfahrungsmöglichkeiten in einer großen Phase der Zivilisation, seine Beerbung einer philosophischen Tradition, die noch nicht durch übertriebene Systembildung verhärtet war, haben seine Schriften zu einer unausschöpflichen Quelle des Ideenreichtums gemacht“ (S. 91f).

1. Protokolle der Cambridge Conversazione Society (1884-88)

Im Alter von 75 Jahren erzählte Whitehead Lowe, daß er seit dem Alter von 23 Jahren philosophierte. Lowe fand heraus, daß Whitehead im Mai 1884 in die Cambridge Conversazione Society gewählt wurde, deren „Apostel“ genannte Mitglieder jeden Samstag abend über einen Text diskutierten. Whitehead war von 1884-1888 aktives Mitglied.

Die Sitzungsprotokolle enthalten die Titel der diskutierten Texte, die Standpunkte der Teilnehmer in Form von bejahenden oder verneinenden Antworten der Teilnehmer zu Fragen und kurze Kommentare dazu.

Aus Whiteheads Antworten und Kommentaren geht hervor, daß er an die Existenz des Teufels und Gottes glaubte. Er dachte damals, daß man das Universum durch einen persönlichen Gott befriedigend erklären könne, d.h. daß Gott die Welt erschaffen habe. In seinen Kommentaren schrieb er, daß er Gott sehen und unsterblich sein wolle.

Lowe ergänzt, daß Whitehead später Agnostiker wurde und zu seinen Kindern Thomas North, Jessie Marie und Eric Alfred sagte, sie bräuchten nicht mehr beten. Er verkaufte seine theologischen Bücher. North empfand seinen Vater als trotzigen Atheisten, der eigentlich religiös sein wollte. North und Jessie dachten, daß Erics Tod im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs als Soldat des Royal Flying Corps ihren Vater wieder zum Theisten machte. North und Jessie blieben Agnostiker.

Auch ohne den Ersten Weltkrieg wäre Whitehead ein philosophischer Theist geworden, meint Lowe. Er habe sich weder der Church of England noch einer anderen Kirche angeschlossen. Er habe Gott nicht mehr als persönlichen Schöpfer, sondern als göttlichen Verwalter im Universum, als immergegenwärtige Harmonie betrachtet, die nicht strafe, sondern den Weg weise und behüte.

2. Wissenschaft und moderne Welt (1925)

Es handelt sich um eine Ausarbeitung und Ergänzung von acht Vorlesungen vom Februar 1925 (Lowell Lectures). Sie enthalten eine philosophische Kritik an der Wissenschaftsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert, insbesondere am materialistischen, mechanistischen Weltbild der Physik, das auf alle Disziplinen übertragen worden sei.

Whitehead hält die Wissenschaft für „eine antirationalistische Bewegung, die auf einem naiven Glauben beruhte“, den sie nie gerechtfertigt oder erklärt habe (S. 28). Sie sei „von Ideen“ ausgegangen, „die sie von der schwächsten Seite der nacharistotelischen Philosophien“ übernommen habe. Das sei in der Physik und Chemie einigermaßen gut gegangen, doch „der Fortschritt der Biologie und der Psychologie“ sei „wahrscheinlich durch die unkritische Annahme von Halbwahrheiten gehemmt worden“ (S. 29).

Erforderlich sei eine philosophische Grundlagenkritik und die Überwindung der Abstraktionssucht. „Diese Krankheit wird durch den Rückgriff auf die konkrete Erfahrung nicht vollständig geheilt“ (S. 30). Es brauche darüber hinaus den Vernunftgebrauch. „Der Glaube an die Vernunft ist das Vertrauen, daß sich die Dinge ihrer innersten Natur nach in einem Einklang befinden, der bloße Willkür ausschließt“ (S. 31). „Ich behaupte, daß Philosophie Kritik der Abstraktionen ist“ (S. 106). „Sie koordiniert die Wissenschaften“ und „konfrontiert“ sie „mit konkreten Tatsachen “ (S. 107).

Whitehead stellte die Erfahrung über Erklärungsversuche: Wer über das „konkrete Weltbild der Menschheit“ Aussagen machen wolle, komme nicht um die Auseinandersetzung mit der Literatur (vor allem Lyrik und Drama) herum (S. 93). „Meiner Ansicht nach müssen wir uns in letzter Instanz an die naive Erfahrung halten, und deshalb lege ich so großes Gewicht auf das Zeugnis der Dichtung“ (S. 109). „In gewissem Sinne muß alle Erklärung letzten Endes in Willkür enden“ (S. 113).

Darwin sei darin vorbildlich gewesen, nicht „über die direkten Belege hinauszugehen“, was seine Nachfolger und Parteigänger leider nicht beherzigt hätten (S. 135). Die Wissenschaft sei „von der Organisation gewöhnlicher Erfahrungen“ ausgegangen (S. 139).

Das mechanistische Weltbild sei unvereinbar „mit dem unerschütterlichen Glauben, daß die Welt der Menschen und der höheren Tiere aus Organismen aufgebaut ist, die sich selbst bestimmen“ (S. 94). Wer Erfahrungen leugne, „die nicht vom Körper kommen“, negiere „alle individuelle moralische Verantwortlichkeit“ (S. 96).

Beherzigenswert sind Whiteheads Gedanken über Erziehung und Bildung: „Meine eigene Kritik an unseren traditionellen Erziehungsmethoden geht dahin, daß sie viel zu viel mit intellektueller Analyse und mit dem Erwerb formalisierter Informationen zu tun haben.“ Die Schüler würden mit Abstraktionen konfrontiert, wobei die konkrete Anschauung zu kurz komme. Adam habe im Garten Eden die Tiere gesehen, bevor er ihnen Namen gab (vgl. Gen 2,19f). Im „traditionellen Schulsystem“ sei es umgekehrt (S. 230).

Whitehead spricht sich ausdrücklich gegen Gewalt und Gleichmacherei aus: „Das Evangelium der Gewalt ist mit einem sozialen Leben nicht vereinbar. […] Die Unterschiede zwischen den Nationen und Völkern sind notwendig, um die Bedingungen beizubehalten, unter denen eine Höherentwicklung möglich ist“ (S. 240).

3. Wie entsteht Religion? (1926)

Es handelt sich um vier Vorlesungen vom Februar 1926 in der King’s Chapel (Boston). Whitehead analysiert die „Faktoren in der menschlichen Natur […], die in ihrem Zusammenwirken eine Religion entstehen lassen“. Außerdem stellt er „den unausweichlichen Wandel der Religion im Zusammenhang mit dem Wandel des Wissens“ dar und macht darauf aufmerksam, „wie die Religion von unserer Auffassung jener beständigen Elemente abhängt, vermöge deren es in der Welt eine feste Ordnung gibt – beständige Elemente, ohne die es keine sich verändernde Welt geben könnte“ (S. 9).

Whitehead vergleicht die Dogmen der Religion mit den Dogmen der Physik. Erstere beruhen auf den „in der religiösen Erfahrung der Menschheit enthüllten Wahrheiten“, letztere auf den „in der Sinneswahrnehmung der Menschheit freigelegten Wahrheiten“ (S. 47). Das heißt: beide seien präzise Formulierungen von Erfahrungen.

Kritik von mir: Das ist leider nur die Schilderung eines Idealzustands, der in der Realität nicht gegeben ist. Ob nun die Überschreitungen der konkreten Erfahrungen in der Religion (vgl. die Trinitätsspekulationen) oder der Physik (vgl. die Urknallhypothese) größer sind, wage ich nicht zu entscheiden. Würfelt nun Gott (Einstein), oder tut er es nicht (Hawking)?

Gegenüber den Gottesbeweisen nimmt Whitehead folgende erkenntnistheoretische Haltung ein: „Kein Beweis, der bei Erwägungen über den Charakter der wirklichen Welt ansetzt, kann sich über die Wirklichkeit dieser Welt erheben. Er kann nur alle Faktoren aufdecken, die in der Welt als erfahrene enthüllt werden. Er kann, mit anderen Worten, einen immanenten Gott aufspüren, jedoch nicht einen ganz und gar transzendenten Gott“ (S. 56).

Die Metaphysik definiert Whitehead als „die Wissenschaft, die danach strebt, die allgemeinen Ideen zu entdecken, denen bei der Analyse von allem, was passiert, unerläßliche Relevanz zukommt“ (S. 66).

4. Kulturelle Symbolisierung (1927)

Dieses Werk basiert auf drei Vorlesungen, die Whitehead als Barbour-Page Lectures im April 1927 an der University of Virginia gehalten hat. Sie „können am besten in Beziehung zu einigen Teilen von Lockes Essay Concerning Human Understanding verstanden werden“ (S. 60).

Kurz zusammengefaßt: „Vollständige ideale Reinheit der Wahrnehmungserfahrung ohne jede symbolische Referenz ist praktisch für keinen Wahrnehmungsmodus erreichbar“ (S. 113). „Die in diesen Vorlesungen entwickelte Konzeption der Symbolisierung befähigt uns, zwischen instinktiver Aktion, Reflexhandeln und symbolisch konditioniertem Handeln zu unterscheiden“ (S. 136).

Ein konkretes Beispiel: Beim Militär „gibt es […] eine bestimmte Menge von Symbolen, um unter einer begrenzten Menge von Umständen einen automatischen Gehorsam herbeizuführen, und es gibt eine andere Menge von Symbolen, um ein allgemeines Gefühl der Wichtigkeit der erfüllten Pflichten hervorzurufen. Diese zweite Menge hält das ziellose Nachdenken davon ab, die automatische Reaktion auf die erste Menge zu untergraben“ (S. 134).

Allgemein formuliert: „Daher hat der soziale Symbolismus eine zweifache Bedeutung. Pragmatisch bedeutet er die Richtunggebung der Individuen zu spezifischen Handlungen. Theoretisch bedeutet er außerdem die vagen grundlegenden Gründe mit ihren emotionalen Begleitungen, durch die die Symbole ihre Macht erwerben, die bunte Menge in eine reibungslos ablaufende Gemeinschaft zu organisieren“ (S. 133).

5. Prozeß und Realität – Entwurf einer Kosmologie (1929)

Eine kurze Zusammenfassung von Whitehead selbst: „Diese Vorlesungen sollen ein verdichtetes Schema kosmologischer Ideen entfalten, ihre Bedeutung durch Gegenüberstellung mit den vielfältigen Erfahrungsinhalten entwickeln und schließlich eine angemessene Kosmologie ausarbeiten, in deren Rahmen alle Einzelthemen zu gegenseitigen Verbindungen finden. […] Am Ende sollte […] kein Problem von Raum und Zeit, der Erkenntnistheorie oder der Kausalität undiskutiert geblieben sein. Das Schema sollte alle Gattungsbegriffe entwickelt haben, die angemessen sind, um jeden möglichen Zusammenhang zwischen den Dingen auszudrücken“ (S. 23).

Unter „Prozeß“ versteht Whitehead „das erfahrende Subjekt selbst“ (S. 54). Man könnte den Titel der Vorlesungen also mit „Die Welt und ich“ paraphrasieren. Doch Whitehead schreibt auch, daß „die wirkliche Welt ein Prozeß und daß der Prozeß das Werden von wirklichen Einzelwesen ist“ (S. 64). Vor diesem Hintergrund könnte man den Titel mit „Die Welt als Entwicklung“ paraphrasieren.

Doch es geht Whitehead noch um mehr: Er will die Welt als Ausdruck von etwas interpretieren, das hinter oder über ihr liegt: „Die zeitlichen Dinge entstehen aufgrund ihrer Teilhabe an den ewigen Dingen. Zwischen beiden vermittelt etwas, das die Wirklichkeit des Zeitlichen mit der Zeitlosigkeit des Potentiellen verbindet“ (S. 92).

Es handelt sich um platonische Gedanken, die Whitehead aktualisieren will. Er nennt das „die Konstruktion einer organistischen Philosophie“ (S. 92). Whiteheads „Zeitlosigkeit des Potentiellen“ entsprechen bei Platon die Ideen.

Whitehead beschreibt Gott als „Poet der Welt“, der die Welt nicht schafft, sondern rettet. Er „leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Vision von der Wahrheit, Schönheit und Güte“ (S. 618). Auch das ist platonisch.

In seiner Einleitung zur Tagung über Whiteheads Prozeßphilosophie in Sigriswil (1987) nennt Reiner Wiehl „die Begriffe ‚Erfahrung‘ und ‚Geschichte'“ als „Schlüsselbegriffe dieser neuen Philosophie“. Durch sie habe sich Whiteheads „metaphysisches Denken von den alten Konzepten der Metaphysik“ entfernt, „die ein Ewiges und Bleibendes in allem Wechsel und einer Erkenntnis unabhängig von aller Erfahrung gesucht haben“ (in: Holzhey/Rust/Wiehl 12). „Es gibt hier keine Zentralperspektive, statt dessen zahllose, immer neu sich bildende und wieder vergehende Perspektiven und perspektivische Zusammenhänge“ (ebd. 14).

Michael Hampe stellt in seinem Aufsatz über „Whiteheads Metaphysik und das philosophische Selbstverständnis der Gegenwart“ (1990) fest, daß „Prozeß und Realität bisher so gut wie ohne Folgen in der philosophischen Entwicklung unseres Jahrhunderts“ geblieben ist. „Nur die theologische Forschung beachtete das Werk als Neuentwurf einer natürlichen Gotteslehre. Diese Tatsache der philosophischen Wirkungslosigkeit beruht auf dem reduzierten Verständnis von Metaphysik, das die philosophische Gegenwart kennzeichnet […]. Dieses reduzierte Verständnis von Metaphysik zeichnet sich vor allem durch seine Vagheit aus. Es hat den Begriff der ‚Metaphysik‘ zu einem Mittel der Denunziation des philosophischen Gegners gemacht“ (in: Hampe/Maaßen 12f).

6. Abenteuer der Ideen (1933)

Whitehead charakterisiert das Buch als „Studie über den Begriff der Zivilisation“ und als „Versuch zu verstehen, wie es zur Entstehung zivilisierter Wesen kommt.“ Den Titel interpretiert er doppelt:

  • Ideen fördern den Zivilisationsprozeß. Das ist für sie ein Abenteuer.
  • Für Whitehead ist es ein Abenteuer, „ein spekulatives Schema“ zu entwerfen, „das dem historischen Abenteuer als Erklärung dienen soll“ (S. 75).

Die vier Teile des Buchs handeln

  • vom Einfluß platonischer und christlicher Lehren auf die Gesellschaft;
  • vom Einfluß wissenschaftlicher Ideen auf die europäische Kultur;
  • von Erkenntnistheorie und
  • von Kunst (Zivilisation).

Ein „Aspekt des Abenteuers der Ideen“ ist die „Geschichte“ des „Wechselspiels zwischen Spekulation und Gelehrsamkeit“, anders ausgedrückt: „Blitze der Einsicht“ liefern „der gelehrten Arbeit neue Materialien“ (S. 231).

Die Bedeutung der Mathematik ist für Whitehead beschränkt: Sie „kann einem nur sagen, was aus den Dingen folgt, die man ohnehin schon glaubt. […] Es gibt keine gültigen Schlüsse, die von bloßen Möglichkeiten zu Tatsachen, mit anderen Worten: von der Mathematik zu den konkret in der Natur vorliegenden Verhältnissen führen“ (S. 257).

7. Philosophie und Mathematik (1947)

Es handelt sich um eine Sammlung von Vorträgen und Essays.

Thema des Vortrags Unsterblichkeit (1941) ist, in „welchem Sinne nun die schaffende Tätigkeit von den Werten Unvergänglichkeit erhält“ (S. 14).

Wir sehen: Whitehead gibt keine Auskunft über das Leben nach dem Tod, sondern schließt vom Endlichen auf den Begriff der Unendlichkeit. Das einzige, was „zeitlos und unvergänglich“ ist, ist für Whitehead die „Welt der Werte“ (S. 11).

Der Vortrag läuft darauf hinaus „zu zeigen, daß das Endziel des philosophischen Denkens nicht auf die exakten Feststellungen gegründet werden kann, die die Grundlage der Wissenschaft bilden“ (S. 33).

Whitehead zweifelt nicht nur daran, daß unsere Erfahrungen eine zulängliche Grundlage von Wissen abgeben, sondern behauptet sogar, daß wir keinen Satz aussprechen können, „der seinen Sinn restlos wiedergibt. Es gibt immer noch einen Hintergrund von Voraussetzungen, deren unendlicher Bereich einer Analyse unzugänglich ist“ (S. 31).

Das Ganze wirkt wie eine Variation über das sokratische Nichtwissen. Das kann auch Whiteheads mehrfache Abgrenzung von Platon nicht verbergen.

In Die Mathematik und das Gute (1941) schlägt Whitehead eine Brücke zwischen der Unendlichkeit, Werten und der Mathematik:

„Die abergläubische Scheu vor der Unendlichkeit war der Ruin der Philosophie. Das Unendliche hat keine Eigenschaften. Werte kann nur das Endliche geben, das die notwendige Vorbedingung jeder Wirksamkeit ist. Aktivität bedeutet das Entstehen von Strukturen, und die Mathematik befaßt sich mit der Untersuchung von Strukturen. Hier zeigt sich die Brücke zwischen der Mathematik und der Untersuchung des Guten und des Schlechten“ (S. 80).

8. Würdigung und Kritik

Die philosophischen Werke von Whitehead sind nicht nur schwer zugänglich, sondern auch noch unergiebig. Im vorliegenden Aufsatz habe ich versucht wiederzugeben, was mir etwas bedeutet hat. Die Lektüre der Sekundärliteratur hat den Radius des für mich Interessanten leider nicht vergrößert. Es ist, als ob Whitehead mit Worten Mathematik treibt. Was das mit der Wirklichkeit (die Whitehead auch noch in Frage stellt) zu tun hat, erschließt sich mir nicht. Es bleibt das Wortspiel eines Skeptikers, mit anderen Worten: eine metaphysische Begriffsdichtung.

© Gunthard Rudolf Heller, 2021

Literaturverzeichnis

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– Kulturelle Symbolisierung, herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Rolf Lachmann, Frankfurt am Main 2000

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– Abenteuer der Ideen, Einleitung von Reiner Wiehl, aus dem Englischen von Eberhard Bubser, Frankfurt am Main 2000

– Philosophie und Mathematik – Vorträge und Essays, übersetzt von Felizitas Ortner, Wien 1949

WHITEHEAD, Alfred North / RUSSELL, Bertrand: Principia Mathematica – Vorwort und Einleitungen, übersetzt von Hans Mokre, Frankfurt am Main 31994

Gunthard Heller

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