Ein Philosoph und seine Dichter – Heidegger, Hölderlin und Thelema

Anmerkung

Der folgende Vortrag wurde auf einem Fest der Thelema Society im Jahre 2005
gehalten. Der Verfasser ist selbst Thelemit und daher wird im Text häufig von
Thelema bzw. Thelemiten die Rede sein. Bei Thelema handelt es sich um eine spirituelle
Geistesrichtung, die Philosophie, Religion, Magie, Selbsterfahrung und Kunst
miteinander verbindet. Sie geht zurück auf den englischen Magier Aleister Crowley,
der 1904 von einer Wesenheit namens Aiwass das Liber Legis (Buch des Gesetzes)
channelte, in dem drei ägyptische Götter die Prinzipien eines neuen Zeitalters
in poetischer Sprache darlegen.

Für den Thelemiten stellen diesen Prinzipien keine dogmatisch geglaubten Wahrheiten
dar, sondern sind der Ausgangpunkt für Reflektion und Sinnsuche im eigenen Leben.
Die Kernaussagen des Buches verweisen auf die Einzigartigkeit und Selbstverantwortlichkeit
des Menschen, auf Freiheit, Lebenskunst und Persönlichkeitsformung, auf einen
neuen Umgang mit Gemeinschaft und auf die Möglichkeit von Unsterblichkeit. Letzteres
wird im ersten Teil des Textes eine Rolle spielen.

Vortrag

Die Beschäftigung des großen deutschen Denkers Martin Heidegger
mit dem großen deutschen Dichter Friedrich Hölderlin erschließt
uns eine ganz eigene Betrachtungsweise auf das Thema der Selbsterschaffung:
– es ist die Frage nach dem Dichten der eigenen Vision, nach dem Dichten eines
Fundamentes, eines Sinns für unser Leben und nach dem Dichten, das uns
gleichzeitig auf ein höheres Niveau heben kann, das also unsere eigene
momentane Persönlichkeit in einem schöpferischen Akt zu übersteigen
vermag, auf das wir als ein ganz Anderer daraus hervorgehen.

Dichten ist die Quelle der Freiheit. Freiheit verstehe ich hier als die Fähigkeit,
seine eigensten Möglichkeiten furchtlos zu erkennen, zu ergreifen und in
einem Willensakt schließlich zu verwirklichen. Welche Möglichkeiten
ich aber überhaupt mir selbst zu erschließen im Stande bin, das wird in
erster Linie von meiner Kreativität, von meiner Phantasie abhängen.
Dichten aber kann nicht sein, ohne das diese Phantasie in Bewegung gesetzt wird.
Dichten erschließt mir ungeahnte Möglichkeiten, die das Selbstverständliche
transzendieren – eine wesentliche Dichtung ist immer ein Sprung in das ganz
Neue. Darin gleicht sie der Philosophie.

Wo also liegt das existenziell Wichtige der Dichtung für das Dasein der
Menschen? Ist Dichtung mehr als ein unverbindliches Spiel? Ist sie am Ende ein
Spiel mit dem Feuer und damit eine Form des Nietzscheanischen Mottos „Lebe
gefährlich“? Der folgende Text behandelt interpretierend die Antwort,
die Heidegger und Hölderlin auf diese Fragen gegeben haben.

Dichtung und Unsterblichkeit

Heidegger stieß schon in seiner Gymnasialzeit auf ein kleines Büchlein
mit einer Auswahl der Hymnen Hölderlins. Aber erst in den dreißiger
Jahren wagte er sich an die Erläuterung einzelner Gedichte. Dabei verfolgte
er weder literarhistorische Absichten noch wollte er die Struktur der Gedichte
sezieren. Vielmehr ging es ihm darum, „auf das Wort der Dichtung zu hören“
und dieses damit in die Bewußtheit der denkerischen Auseinandersetzung
zu bringen.

Denn auch für Heidegger ist Dichtung nicht das unverbindliche Spiel mit
Worten, sondern im höchsten eigentlichen Sinne die Gründung einer
neuen Wahrheit – zumindest aber die Sichtbarmachung eines Aspektes des
Daseins, der bislang verborgen blieb. Für das Erstere ist ihm Hölderlin
das ausgezeichnetste Beispiel – für letzteres führt er die Duineser
Elegien Rainer Maria Rilkes an. Vor allem in seinen späteren Hymnen gründet
Hölderlin ein neues Verhältnis von Mensch und Gott, während Rilke
mit seiner Verherrlichung und Sehnsucht nach der tierischen Lebensform in den
Elegien die Konsequenz einer langen metaphysischen Bestimmung des Menschen als
animal rationale zieht.

Die Seinsvergessenheit rückt in das Blickfeld dessen, der auf das Wort
der Dichtung zu hören vermag – einmal indem sie wie bei Rilke deutlich,
ja kraß vollzogen wird und im anderen Fall durch den Versuch, sie mit
einem neuen Anfang zu überwinden.

Hölderlins Hymnen sind für Heidegger das, was für Thelemiten
das Liber Legis darstellt – heilige Worte, mit denen etwas ganz Neues,
Aufregendes beginnt, ein neues Denken, ein neues Wohnen des Menschen auf der
Erde, eine neue Begegnung von Mensch und Gott. Dichtung wird zum Wagnis, zum
Sprung, das eine neue Wahrheit zu gründen vermag oder aber zu Wahnsinn
und Tod führen kann.

Hölderlin selbst verbrachte die Hälfte seines Lebens in geistiger
Umnachtung. In die unwesentliche Normalität zurückzukehren, das Neue
zurückzuweisen und zu ignorieren, verbleibt freilich noch als die dritte
wenn auch selbstbetrügerische Wahlmöglichkeit. Freilich öffnet
sich die Chance einer Gründung nur demjenigen, der auf das Wort der Dichtung
hört, d.h. sie existenziell ernst nimmt. Aber wer sich wie wir auf das
Liber Legis als sein Gesetz beruft, der hat damit explizit ausgesprochen, das
er genau dieses tun wird. Denn das Liber Legis ist offensichtlich eine Dichtung.

Lassen wir Heidegger in eigenen Worten sagen, was er als das Wesen der Dichtung
sichtbar machen will: „Hölderlins Hymne ‚Andenken'“, S.
6 f.:

„Wenn wir uns aufmachen, das in Hölderlins Dichtung Gedichtete
zu denken, dann trachten wir bei solchem Versuchen auch nicht darnach, das vor
die Anschauung zu bringen, was Hölderlin im ersten Sagen seiner Dichtung
bei sich selber vorgestellt hat. Das wird keine Forschung je erkunden und kein
Denken je ersinnen können. Gesetzt sogar, dieses Unmögliche wäre
möglich, angenommen also, wir könnten uns genau in den damaligen Umkreis
der Hölderlinschen Vorstellungen zurückversetzen, dann wäre so
in keiner Weise verbürgt, daß wir hiermit das denken, was Hölderlins
Wort dichtet. Denn das Wort des wahrhaften Dichters dichtet jedesmal über
das eigene Meinen und Vorstellen des Dichters hinaus.

Das dichtende Wort nennt Solches, was über den Dichter kommt und ihn
in eine Zugehörigkeit versetzt, die nicht er geschaffen, der er selbst
nur folgen kann. Das im dichtenden Wort Genannte steht niemals wie ein überschaubarer
Gegenstand vor dem Dichter. Das Gedichtete nimmt den Dichter nicht nur in eine
sein Wesen wandelnde Zugehörigkeit. Das Gedichtete birgt sogar selbst noch
in sich ein Verschlossenes, was über die Kraft des Wortes geht. Das Wort
des Dichters und das in ihm Gedichtete überdichten den Dichter und sein
Sagen. Wenn wir dies von „der Dichtung“ behaupten, meinen wir überall
nur die wesentliche Dichtung. Sie allein dichtet Anfängliches; sie allein
entbindet Ursprüngliches zu seiner eigenen Ankunft.“

Durch
den Dichter spricht also mehr, als er selbst ist. Er bleibt sich selbst unbekannt,
die Fremde beginnt im Dichter selbst. Ganz wie Münchhausen versteht er
es, sich selbst am eigenen Haarschopf aus dem Sumpf der Seinsvergessenheit zu
ziehen und der sinnlos gewordenen entzauberten Welt wieder ein Lied zu entlocken.
„Ach, wir kennen uns wenig, denn es waltet ein Gott in uns“, ruft
Hölderlin aus. Und Hadit antwortet im Liber Legis: „Ich sehe dich
die Hand und die Feder hassen, aber ich bin stärker. Wegen mir in dir,
den du nicht kanntest. Und warum? Weil du der Wissende warst und ich.“

Im Dichter waltet also der Gott selbst, weswegen er fähig ist, etwas zu
erschaffen, das seine augenblickliche Persönlichkeit weit übersteigt.
Für Hölderlin stellt das Fest das ausgezeichnete Ereignis dar, in
dem Mensch und Gott eine heilige Hochzeit feiern, um den Halbgott zu gebären,
der die heiligen Worte den Menschen übermittelt. Der Halbgott aber ist
der Dichter.

Hölderlin redet davon, das die Dichter barhäuptig unter dem Gewittern
Gottes stehen. Sie riskieren sich damit immer selbst – mit jedem wesentlichen
Gedicht, jedem abgerungenen Wort. Wer beispielsweise Benns Aufzählung (im
Essay „Das Genieproblem“) der Süchte, Anomalien, Perversionen
und Psychosen der Dichter kennt, weiß, das es sich hier nicht um eine
poetische Metapher, sondern um eine reale Erfahrung im Leben dieser Dichter
handelt.

Benn stellt schließlich die Frage: gab es je ein normales Genie? Wir
dürfen fragen: gab es je einen bürgerlich im normalen Leben eingerichteten
Menschen, der eine neue Lebensform erschuf? Vielleicht Goethe, aber er steht
damit schon vereinzelt da.

Faktisch lebt der Dichter und der Neugründer immer am Rande eines Abgrundes
– er springt und gründet oder er springt und stürzt. Diese Tragik
gehört zum Leben der „Erstlinge“ (Nietzsche), die sich opfern
und untergehen.

Aber anders ist auch Unsterblichkeit nicht zu haben, wie sie im Liber Legis
beschrieben wird („Der Tod, oh Mensch, ist Dir verboten“). Ein Mensch
als ein wirkliches Einzelwesen – wie der Philosoph Whitehead es bezeichnet
– ist das Ergebnis einer langen Kette der Vererbung, die von anderen Einzelwesen
gebildet wird.

Das Individuum konkretisiert etwas Kreatives, etwas Neues im Universum. Und
seine Erfahrung erbt wieder ein anderes Einzelwesen. Will er nun unsterblich
sein, individuell und nicht nur objektiv unsterblich sein, muß er in jedem
Moment etwas Neues im Universum konkretisieren. Er versagt sich selbst eine
letztendliche Erfüllung, die das Aufhören der Lebensspannung bedeuten
würde. Jeden Moment oder zumindest in den großen Augenblicken seines
Lebens muss der Unsterbliche sich neu dichten.

Er versteht es, an die eigene Vergangenheit immer wieder anzuknüpfen und
das heißt sich ständig zu erinnern. Ansonsten wird er von anderen
Einzelwesen geerbt – z.B. vom Ungeheuer des altägyptischen Totengerichtes
oder von den Würmern oder von seinem leiblichen Kind oder von einer Datenbank
oder… Meinetwegen auch von der Menschheit…

Nur wer sich selbst zu dichten vermag, wird unsterblich sein können.

Die Berufung des Dichters

Gehen wir nun auf den Beruf des Dichters näher ein. 1936 veröffentlichte
Martin Heidegger in der Zeitschrift „Das innere Reich“ den Aufsatz
„Hölderlin und das Wesen der Dichtung“. An fünf Leitworten
Hölderlins stellt Heidegger dar, welche Rolle die Dichtung für den
Menschen spielen kann und was sie an Möglichkeiten für ihn eröffnet.
Für Heidegger ist Hölderlin der Dichter des Dichters, derjenige Dichter,
der die Berufung des Dichters dichtet.

Das erste Leitwort: Dichten „Dies unschuldigste aller Geschäfte…“

Dies in einem Brief an die Mutter stehende Wort verweist die Dichtung in den
Bereich des ungebundenen Spiels. Es scheint der Dichtung mit nichts wirklich
ernst zu sein, sie treibt ihr Spiel mit der Sprache. Und bloße Sprache
bewirkt nichts. Die Dichtung hält sich außerhalb des Bereiches von
Entscheidungen, in denen der Mensch schuldig werden kann, also Wirkungen hervorruft.
Deshalb ist sie das unschuldigste der Geschäfte. Aber diese Aussage verweist
nur auf die äußere Hülle der Dichtung, die sich dem ersten oberflächlichen
Blick darbietet.

Denn zu fragen wäre: Ist Sprache wirklich nur das harmlose Spiel mit Worten?

Das zweite Leitwort: „Darum ist der Güter Gefährlichstes, die
Sprache dem Menschen gegeben… damit er zeuge, was er sei…“

Diese Worte stehen in einem Bruchstück aus dem Jahre 1800, das ein Jahr
nach der erwähnten Briefstelle geschrieben wurde. Es lautet:

„Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet sich ein ins
verschämte Gewand,
denn inniger ist’s, / achtsamer auch und dass er bewahre den Geist, wie die
Priesterin die himmlische Flamme, dies ist sein Verstand. Und darum ist die
Willkür ihm /
und höhere Macht zu fehlen und zu vollbringen, dem Götterähnlichen,
der Güter gefährlichstes, die Sprache, dem Menschen gegeben, damit
er schaffend, zerstörend und untergehend, und wiederkehrend zur ewigen,
zu Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was er sei, / geerbt zu haben, gelernt
von ihr, ihr Göttlichstes, die allerhaltende Liebe.“

Der
Mensch zeugt von sich und seinem Dasein durch dieses selbst. Wofür steht
er mit dieser Bekundung ein? Als Meisterin und Mutter erscheint hier die Erde.
Der Mensch bekundet seine Zugehörigkeit zur Erde. Inmitten der seienden
Dinge, die uns umgeben, steht er als der Lernende und der Erbe, der diesen Dingen
schließlich seine Welt abgewinnt.

Diese Welt aber zeigt sich im Wohnen des Menschen in Hütten. Die wichtigste
Voraussetzung für die Erschaffung einer Welt aber ist die Sprache. Nur
wo der Mensch spricht und Bedeutungen zum Vorschein bringt, kann eine Welt walten
– wie Heidegger das nennt.

Der Mensch rodet den Urwald, um Hütten zu bauen, aber er wird zuerst der
Worte bedürfen, um in das Offene der Möglichkeit einer Hütte
– einschließlich ihrer sämtlichen Konnotationen von Schutz vor Wind
und Wetter bis hin zu Heimat und Selbstausdruck – hineinstehen zu können.
Der Mensch bezeugt – d.h. er hat Bewußtsein und steht immer in der
Freiheit der Entscheidung, die das Notwendige ergreift, um sich an das höchste
eines Anspruchs zu binden. Freiheit heißt hier: auf dem Grund des Notwendigen
eine Vision zu realisieren.

Warum aber sollte die Sprache das gefährlichste der Güter sein? In
der Sprache kann Wahrheit ins Werk gesetzt werden – wie in der Kunst. In
der Sprache kann Schönheit erscheinen. In der Sprache erst wird das Seiende,
das uns umgibt, zu etwas, mit dem wir Streben und Empfinden verknüpfen
können – Seiendes kann uns befeuern und wir können Seiendes begehren.
Und Nichtseiendes kann uns enttäuschen – z.B. ein unerfüllbarer
Wunsch.

Ebenso aber lässt sich mit der Sprache das Sein verstellen, lässt
sich jede Art von Täuschung begehen. Das Reine, das Wahre, das Schöne
und Wesentliche lassen sich mit der Sprache sagen, aber sie bleibt auch offen
für das Blendende, für das Gemeine und das Gewöhnliche, für
Geschwätz und Gerede. Der Mensch kann den Dingen mit der Sprache Sinn verleihen,
er kann sie aber auch zum Gewöhnlichsten und Gebräuchlichsten veröden.
Mit der Sprache entscheidet der Mensch zuerst, wer er ist. Er zeugt für
sich.

Heidegger schreibt, das die Sprache Stimmungen, Erfahrungen und Entschließungen
mitteilen kann und insoweit ein Gut des Menschen ist. Sie stellt aber mehr als
ein Verständigungsmittel dar. Durch sie wird der Mensch erst in die Offenheit
des Seienden gestellt und damit in eine Welt – „der stets sich wandelnde
Umkreis von Entscheidung und Werk, von Tat und Verantwortung, aber auch von
Willkür und Lärm, Verfall und Verwirrung.“ Und nur so kann der
Mensch zu einem geschichtlichen Wesen werden.

Das dritte Leitwort: „Viel hat erfahren der Mensch. / Der Himmlischen
viele genannt, / Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können
voneinander.“

„Seit ein Gespräch wir sind…“ – damit hören wir
wohl eines der tiefsten Worte Hölderlins. Das Wesen der Sprache besteht
nicht in ihrem Bestand, d.h. weder in ihren Worten noch in ihrer Grammatik noch
in ihren Regeln. Sprache ist nicht ohne Gespräch. Das Wesen der Sprache
ist das Gespräch. Der Mensch wird wesentlich vom Gespräch getragen.
Im Gespräch können die Menschen zueinander sprechen. Aber zueinander
sprechen können sie nur, wenn sie aufeinander hören können. Die
Möglichkeit des Hörens erst bringt uns in das Gespräch. Das Sprechen
kann nur zur Sprache werden, wenn es auch gehört werden kann. Ansonsten
bleibt es die autistische Klangerzeugung eines Einzelnen.

Heidegger legt die Betonung auf e i n Gespräch, denn das Gespräch
ist die bleibende Einheit, das unser Menschsein ausmacht. Wenn auch alles wird
und vergeht, so bleibt doch das Gespräch als Beständigstes in der
Menschheitsgeschichte erhalten. Seit der Mensch ein Gespräch ist, ist erst
die Zeit erstreckt, ist erst der Raum eröffnet für seine Erfahrungen.
Hier kann ich wieder einen Bogen zur Unsterblichkeit schlagen: denn da das beständig
Bleibende am Menschen das Gespräch ist, wird nur derjenige unsterblich
werden, der in der Offenheit des Gespräches sich hält – der also
im wahrsten Sinne des Wortes „im Gespräch bleibt“.

Hölderlin nennt die Himmlischen. Der Mensch bringt die Götter ins
Wort. Die Götter jedoch erscheinen nur im Wort, wenn sie selbst uns ansprechen
und in einen Anspruch nehmen. Zuletzt haben sie das im Liber Legis getan. Heidegger
schreibt:

„Indem die Götter unser Dasein zur Sprache bringen, rücken
wir erst ein in den Bereich der Entscheidung darüber, ob wir uns den Göttern
zusagen oder ob wir uns ihnen versagen.“

Übertragen auf die Situation des Thelemiten heißt das: „Indem
die Götter die Möglichkeit eines neuen Daseins im Liber Legis zur
Sprache gebracht haben, rücken wir ein in den Bereich der Entscheidung
darüber, ob wir uns den Göttern zusagen oder ob wir uns ihnen versagen,
ob wir das Liber Legis realisieren wollen oder ob wir mit den alten Süßen
und dem bisherigen Lauf der Neuzeit fortfahren wollen.“

Das vierte Leitwort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“

Dichten ist somit also Stiftung im Wort. Der Dichter stiftet etwas Bleibendes
– er ringt dem Fortreißen der Zeit, der Verwirrung und dem Verfall
einen Grund ab, auf dem menschliches Dasein bestehen kann. Der Dichter gibt
den Dingen, dem Seienden, einen Namen, unter dem sie bekannt werden. Damit stiftet
er worthaft das Sein als die Lichtung, in dem etwas Seiendes ganz als es selbst
in seiner Einzigartigkeit erscheinen kann. Er verleiht der Welt einen Sinn.

Das Aufglänzen der Dinge im Wort und das Nennen der heiligen Götter
setzen den Menschen erst in Bezug zu sich selbst. Sie erschaffen einen Grund,
auf dem die großartige Geschichte des Menschen geschehen kann – die
vor allem darin besteht, das wir ein Gespräch sind.

Das fünfte Leitwort: „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der
Mensch auf dieser Erde.“

Heidegger
schreibt dazu: „Was der Mensch wirkt und betreibt, ist durch eigenes Bemühen
erworben und verdient. ‚Doch‘ – sagt Hölderlin in harter Entgegensetzung
dazu – all das berührt nicht das Wesen seines Wohnens auf dieser Erde,
all das reicht nicht in den Grund des menschlichen Daseins. Dieses ist in seinem
Grund ‚dichterisch‘. Dichtung verstehen wir aber jetzt als das stiftende
Nennen der Götter und des Wesens der Dinge. „Dichterisch wohnen“
heißt: in der Gegenwart der Götter stehen und betroffen sein von
der Wesensnähe der Dinge. ‚Dichterisch‘ ist das Dasein in seinem Grunde
– das sagt zugleich: es ist als gestiftetes (gegründetes) kein Verdienst,
sondern ein Geschenk.“

Ein Geschenk ist es deshalb, weil der Dichter sein Gedicht sich nicht erarbeitet.
Vielmehr müssen sich im Dichter eine Art offener Sensibilität, ein
Ahnen, ein Zuneigen zum Thema seiner Dichtung, eine besondere Stimmung, eine
Gottesgegenwart und ein Betroffensein gleichzeitig im Moment der Schöpfung
treffen, um ein wesentliches Gedicht hervorzubringen.

Die Winke sind es, durch die die Götter zu den Menschen sprechen. Die
Aufgabe des Dichters ist es, diese Winke weiterzuwinken zu den Menschen. Damit
spricht der Dichter gleichzeitig über die Menschen und ihren Bezug zu Erde
und Welt, zum Seienden im Ganzen. Er schenkt die „himmlische Gabe“
der Götter im Lied den Menschen. So steht der Dichter in dem Zwischen der
Menschen und Götter, in dem sich erst entscheidet, was das Wesen eines
geschichtlichen Menschentums sein wird. Dichterisch nur wohnt dieser Mensch
als wesentlicher Mensch mit einer Aufgabe, mit einer Mission auf dieser Erde.

Der Dichter ist ein Seher, der von der Überfülle der Bilder und von
überwacher Klarheit geblendet wird. Und so besteht für ihn immer die
Gefahr, in diesem Licht zu erblinden. Hölderlin stürzte schließlich
in die Nacht des Wahnsinns. Aber dafür liegt in dem dichterischen Dasein
die Chance ein intensiveres, ekstatischeres und bedeutungsvolleres Leben zu
führen, als es die Sicherheit des Unwesentlichen bietet.

„Sei stark, o Mensch, dann kannst Du mehr Freude ertragen!“ Vielleicht
wurde etwas deutlicher, warum Thelemiten Dichter sein müssen.

Friedrich Hölderlin „Der Abschied“

Trennen wollten wir uns? wähnten es gut und klug?
Da wirs taten, warum schreckte, wie Mord, die Tat?
Ach! wir kennen uns wenig,
Denn es waltet ein Gott in uns.

Den verraten? ach ihn, welcher uns alles erst,
Sinn und Leben erschuf, ihn, den beseelenden
Schutzgott unserer Liebe,
Dies, dies Eine vermag ich nicht.

Aber anderen Fehl denket der Weltsinn sich,
Andern ehernen Dienst übt er und anders Recht,
Und es listet die Seele
Tag für Tag der Gebrauch uns ab.

Wohl! ich wußt‘ es zuvor. Seit die gewurzelte
Ungestalte die Furcht Götter und Menschen trennt,
Muß, mit Blut sie zu sühnen,
Muß der Liebenden Herz vergehn.

Laß mich schweigen! o laß nimmer von nun an mich
Dieses Tödliche sehn, daß ich im Frieden doch
Hin ins Einsame ziehe,
Und noch unser der Abschied sei!

Reich die Schale mir selbst, daß ich des rettenden
Heilgen Giftes genug, daß ich des Lethetranks
Mit dir trinke, daß alles
Haß und Liebe vergessen sei!

Hingehn will ich. Vielleicht seh‘ ich in langer Zeit
Diotima! dich hier. Aber verblutet ist
Dann das Wünschen und friedlich
Gleich den Seligen, fremde gehn

Wir umher, ein Gespräch führet uns ab und auf,
Sinnend, zögernd, doch itzt mahnt die Vergessenen
Hier die Stelle des Abschieds,
Es erwarmet ein Herz in uns,

Staunend seh‘ ich dich an, Stimmen und süßen Sang,
Wie aus voriger Zeit hör‘ ich und Saitenspiel,
Und die Lilie duftet
Golden über dem Bach uns auf.

Jörg Scholz