Baltasar Gracián: Das Kritikon

Baltasar Gracián y Morales (1601-1658) wurde 1609 Novize im Jesuitenorden. 1627 wurde er zum Priester geweiht, 1632 legte er das Ordensgelübde ab. Er predigte bzw. unterrichtete an verschiedenen Kollegien des Ordens, am Hof in Madrid und als Feldgeistlicher.

Gracián wurde vor allem durch Schopenhauers Übersetzung einer Aphorismensammlung aus seinen Werken unter dem Titel „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ (1647) bekannt, die 1862 erschien, allerdings nicht unter Schopenhauers richtigem Namen, sondern unter dem Pseudonym „Felix Trollmund“. Ob Gracián selbst oder sein Freund Lastanosa als Herausgeber das Buch zusammengestellt hat, ist unklar.

Die darin dargestellte Moral ist laut René Fülöp-Miller nicht spezifisch jesuitisch: „Wissen wir doch heute, daß jener als ‚jesuitisch‘ bezeichnete Lebensstil überhaupt einen Wesenszug der seit der Renaissancezeit herangewachsenen Menschheit darstellt, und daß schon Machiavelli, vor dem Auftreten Loyolas, die These verkündet hatte, man müsse die Menschen so betrachten, wie sie wirklich sind, und sein praktisches Handeln hiernach einrichten“ (S. 587).

Baltasar Gracián y Morales

El Criticón („Der Kritiker“), dessen drei Teile erstmals im Jahr 1664 in Barcelona veröffentlicht wurden, ist Graciáns Hauptwerk. Er erzählt darin von der Reise des Verstandesmenschen Critilo und des Naturmenschen Andrenio, die beide vergeblich nach dem irdischen Glück suchen. Insofern sich Andrenio dabei entwickelt, handelt es sich um einen Bildungsroman. Die drei Teile entsprechen den Lebensaltern (Jugend, Mannesalter, Alter).

Als 1651 der erste Teil des Romans unter dem Pseudonym García de Morlanes ohne Genehmigung des Jesuitenordens erschien, bekam Gracián Probleme. Die offizielle Beschuldigung lautete, er habe sich „zu sehr dem Okkultismus zugewandt […]. Das war ein törichter Vorwurf, denn damit beschäftigten sich damals fast alle Intellektuellen.“ Der eigentliche Grund war Graciáns Kritik am verknöcherten Unterricht der Jesuiten (Barthel 146).

1653 erschien der zweite, 1657 trotz Veröffentlichungsverbot der dritte Teil. Nun erntete Gracián einen öffentlichen Verweis, verlor seinen Lehrstuhl, wurde nach Graus verbannt und mußte bei Wasser und Brot fasten. Als er darum bat, aus dem Orden entlassen zu werden, wurde seine Bitte abgeschlagen. Später versöhnte sich Gracián wieder mit den Jesuiten, und seine Strafe wurde abgemildert.

1. Pessimismus

Der ganze Roman ist satirisch und hat einen pessimistischen Zug: die Menschen sind schlechter als die Tiere, die Frauen sind schlimmer als die Männer, die Liebe ist eine Falle, das Leben ein Gefängnis. Die Strafen sind „am Leibe Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Schwäche, Blöße, Schmerz und Krankheit; an der Seele Trug, Ränke, Neid, Verachtung, Schmach, Angst Trauer, Sorge, Wut und Verzweiflung“ (S. 71f). Am Ende steht der Tod, und da verliert man alles: Eigentum, berufliche Stellung, Freunde, Verwandte und das Leben. Die Menschen machen das alles nur mit, weil die Natur sie getäuscht hat.

Schon das Aufwachsen geht bei den Menschen viel langsamer als bei den Tieren. Ein Kind zu erziehen, ist ein Alptraum: Wenn man ihm nachgibt, damit es nicht weint, „‚wird es verhätschelt, rechthaberisch, unbeherrscht, naschhaft, trotzig, unaufrichtig, vorlaut, weinerlich, eigensüchtig und rücksichtslos'“ (S. 78). Kinder werden Sklaven von Leidenschaften und Lastern, bevor sie den Gebrauch der Vernunft erlernen.

In Sevilla, Spaniens großem Babylon, leben die Menschen in ihren Einbildungen. Die Straßen werden von Bestien in Menschengestalt beherrscht, während die anständigen Leute sich zurückgezogen haben. Nur wenige schaffen es, tatsächlich reife Personen zu werden, die meisten werden nicht erwachsen. Die Männer verweichlichen, die Frauen geben den Ton an. Anstatt des gesunden Mittelmaßes wählen alle die Extreme. Wer lügt, findet Glauben, wer die Wahrheit sagt, nicht. Die Dummen und Blinden lehren die andern.

Gerechtigkeit gibt es nicht. Gracián bringt anhand eines bestechlichen Richters, der einen Angeklagten auspeitschen läßt, weil er keine Beziehungen hat, „‚Iustitia, iustus, iudex, Judas‚“ miteinander in Verbindung (S. 103).

Das ist natürlich etymologisch falsch. Der Übersetzer Hartmut Köhler kommentiert (anhand anderer Beispiele): „Graciàn folgt […] dem isidorianischen Prinzip der Etymologie ‚zu moralischem Nutzen‘ […]. Es hat den Anschein, dass Gracián dieses Prinzip weder bestätigt noch verwirft, sondern um der Satire willen übersteigert“ (S. 173, Anm. 30).

Der heilige Isidor von Sevilla (um 560 – 636) war Bischof und Kirchenlehrer. Er „gilt als der letzte abendländische Kirchenvater.“ Unter seinen Werken finden sich u.a. „zwanzig Bücher ‚Etymologiae‘ (auch ‚Origines‘ genannt), eine Art Realenzyklopädie des gesamten damaligen Wissens“ (MEL 12/741).

Die Soldaten, die eigentlich gegen die Feinde kämpfen sollten, verlängern den Krieg und schaden, anstatt Schaden abzuwenden. Was Gracián von den Ärzten sagt, münzt er gleich anschließend auf die Sittenwächter: „‚über den Arzt kann gar keiner reden, weder gut noch schlecht: nicht bevor er sich ihm in die Hände gibt, denn da fehlt ihm noch die Erfahrung, und nachher erst recht nicht, dann da fehlt ihm bereits das Leben'“ (S. 106f). Trotzdem giftet Gracián immer wieder gegen die Ärzte. Dabei kann er ihnen höchstens vorwerfen, daß Kranke trotz ärztlicher Behandlung sterben.

2. Verkehrte Welt

Die ganze Welt steht auf dem Kopf, weil die Menschen die Vernunft zur Sklavin ihrer Begierden gemacht haben. Die Welt zurechtzurücken ist so unmöglich, daß nur Toren es versuchen. Das einzige, was hilft, ist stets das Gegenteil von dem anzunehmen, was man sieht: wer weise tut, ist dumm; wer reich ist, ist unmoralisch; wer allen befiehlt, dient allen; „‚wer viel stänkert, der stinkt doch nur allen; wer viel redet, sagt nichts; wer da lacht, zeigt vor allem die Zähne; wer lästert, verdammt sich selbst; wer in Saus und Braus lebt, wird bald in Graus leben; wer sich nur lustig macht, hat meist etwas zu beichten; wer eine Ware schlecht macht, der will sie erwerben; wer sich einfältig gibt, weiß am meisten; wem nichts fehlt, der fehlt sich selbst; dem Geizhals nützt, was er hat, nicht mehr, als was er nicht hat; je mehr Gründe einer vorbringt, desto weniger hat er; […] wer dir um den Bart geht, der schlägt dir bald den Schädel ein; wer dich bewirtet, will dich bewerten; […] und zu guter Letzt: Was einer am meisten zur Schau trägt, das ist er am wenigsten“ (S. 115).

Der Mensch verkehrt Mittel und Zweck: „Er isst nicht mehr, um zu leben, er lebt, um zu essen; er schläft nicht mehr, um arbeiten zu können, nein, er arbeitet kaum noch vor lauter Schlafen; es geht ihm nicht um die Fortzeugung seines Geschlechts, sondern um die Fortdauer seiner Geschlechtslust; er strebt nicht nach Wissen, um zu sich zu finden, sondern um von sich loszukommen; er redet auch nicht, weil er das gute Beispiel einer Vorrede geben, sondern weil er üble Nachrede führen will. Er genießt mithin nicht, um zu leben, er lebt fürs Genießen“ (S. 180).

Eine weitere Passage: „‚Alles geht verkehrt, man kehrt das Oberste zuunterst; die Guten gelten wenig, die sehr guten gar nichts, die Ehrlosen genießen Respekt; die Tiere spielen Mensch, und die Menschen halten’s wie die Tiere; wer etwas in Händen hält, den trägt man auf Händen, wer dort nichts hat, den lässt man unter der Hand fallen; Vermögen gilt als Weisheit, Denkvermögen als Wahn; die Greise albern, den Kindern hängen die Köpfe'“ (S. 656).

Die folgenden (kryptischen) Sätze habe ich unter Berücksichtigung der Anmerkungen von Hartmut Köhler zu übersetzen versucht: Zuhälter gelten als Günstlinge, Hirsche gehen auf die Jagd, Feiglinge erregen Aufsehen, Kraftprotze schlafen.

Nun wieder als Zitat: „‚wer Format hat, passt nicht in die Welt, der Ansehnliche hat kein Ansehen; viele können vor Beschlagenheit nicht mehr durch die Brille gucken; Bräuche füllen keine Bäuche; Kinder werden noch verzogen, Mienen nicht mehr; die Taugenichtse sind Alleskönner, die letzten Wanzen sind plötzlich die ersten Lanzen; einige sind schon vor der Geburt elend, andere noch glücklich, wenn sie schon gestorben sind; einer verbrannte sich die Zunge und redete dann mit zweien; im Übrigen ist allezeit Unzeit'“ (S. 656).

3. Selbsterkenntnis

Gracián gibt eine „Moralische Anatomie des Menschen“ – so lautet die Überschrift der neunten Krisis (S. 157). Die Bezeichnung „Krisis“ (griech. krisis = Streit, Entscheidung, Untersuchung; ital. crisi = Krise, Wendepunkt, Notlage; span. crisis = Wendepunkt, Krise) für „Kapitel“ hat Gracián von dem italienischen Schriftsteller Traiano Boccalini (1556-1613) übernommen. Boccalini kritisierte in seinen Ragguagli di Parnaso (1612/13) „die literarischen und politischen Verhältnisse seiner Zeit scharf“ (MEL 4/396).

Als Artemia (abgeleitet von lat. ars = Kunst, Tugend, Wissenschaft, Theorie) Andrenio fragt, was ihm am besten von allem gefällt, antwortet er, das sei er selber; „‚denn je mehr ich mich erkannte, desto mehr erstaunte ich über mich'“ (S. 157). Artemia pflichtet ihm mit der Begründung bei, der Mensch sei das größte aller Wunder.

In der Folge besprechen die beiden den Zusammenhang zwischen Körper und Moral. Daß der Mensch für den Himmel bestimmt ist, erkenne man an seinem aufrechten Gang. Ein Buckel zeuge von Falschheit, ein umwölktes Auge von Leidenschaft. Wer hinke, habe ein gebrochenes Verhältnis zur Tugend, das Fehlen eines Arms zeuge von mangelhafter Wohltätigkeit. Wer aber Weisheit erlange, könne mit seiner Vernunft „‚alle diese unseligen Prognosen korrigieren'“ (S. 159).

Der Kopf entspreche mit seiner hervorragenden Stellung Gott. An den Haaren werde der Mensch vom Himmel geführt. Die Stirn sei Ausdrucksorgan des Gemüts. Die Augen, die sich selbst nicht sehen können, seien wie das Gemüt eines Schwachsinnigen, der zwar alles draußen sehe, sich selbst aber nicht (vgl. Mt 7,3). Tränen seien ein Zeichen von Weisheit (vgl. Koh 1,18), Lachen ein Zeichen von Torheit.

Critilo hält die Augen für die besten Sinnesorgane: „‚Sie sind so viel wie alle anderen Sinne zusammen […]; sie sehen ja nicht nur, sie lauern und lauschen auch, sie sprechen, rufen, fragen, antworten, schelten, schrecken, werben, grüßen, scheuchen, locken und loben. Alles bewirken sie'“ (S. 165).

Andrenio stößt die seitliche Stellung der Ohren auf: „‚Es sieht ja aus, als sollte der Lüge das Eindringen erleichtert werden; denn wo Wahrheit von vorne kommt, schleicht Lüge sich seitlich heran.'“ Artemia tritt dagegen dafür ein, die Ohren am Hinterkopf anzubringen, „‚damit einer hören kann, was hinter seinem Rücken gesagt wird, denn das ist doch, was wirklich gedacht wird'“ (S. 166). Andrenio beklagt überdies, daß man die Ohren im Gegensatz zu den Augen und dem Mund nicht verschließen kann. Denn das würde vor Torheit, Verdruß und Krankheit bewahren.

Doch Artemia belehrt ihn, die Ohren müßten stets für Belehrungen und wegen Gefahren geöffnet sein. Die Zunge sei zu Recht hinter Lippen und Zähnen verschlossen, da das Hören wertvoller sei als das Reden. Die Nase sei stets offen wie die Ohren, um den Menschen vor Gestank zu warnen. Critilo verweist noch auf die ästhetische Funktion der Nase: Sie trage „‚viel zum Ebenmaß des Antlitzes bei, ein kleiner Fehlgriff bereits verhässlicht sehr'“ (S. 171).

Auch die Hände werden ausführlich betrachtet. Artemia charakterisiert die Funktionen der „‚drei wichtigsten Finger […]: Der Daumen gibt die Kraft, der Zeigefinger die Richtung, der Mittelfinger bessert nach, ganz entsprechend dem Gemüt, damit im Geschriebenen auch Stärke, Richtigkeit und Genauigkeit ihren glänzenden Ausdruck finden'“ (S. 174).

Artemia beschränkt sich mit Ausnahme des Herzens auf die Betrachtung des Äußeren des Menschen: „‚Sein Inneres, jene wunderbare Komposition, die Harmonie seiner Kräfte, die Abgestimmtheit der Vorgänge, das Zusammenspiel der Affekte und Leidenschaften, dies bleibe für die große Philosophie'“ (S. 175). Der Hartmut Köhler weist darauf hin, daß Gracián keine „philosophische Seelenlehre […] angestrebt“ hat (S. 175, Anm. 33).

Die rote Farbe des Herzens zeige, daß es für die Nächstenliebe zuständig sei. Es neige zwar nicht zum Verrat, aber zur Torheit. Denn es wittere „‚eher das Missgeschick als das Glück'“ (S. 176), philosophiert Artemia.

4. Erwachsen werden

Der Zensor Josef Longo stellt Critilo als Vorbild des Menschseins hin. Um zu illustrieren, was man vom Jugendalter nicht ins Erwachsenendasein mitnehmen darf, erfindet Gracián das „‚Allgemeine Zollhaus für den Lebenswandel'“ (S. 304). Der Grundgedanke ist, daß es „‚vieles Verbotene'“ gibt, „‚das man nicht aus dem Jugend- ins Mannesalter schmuggeln darf'“ (S. 300).

Kindereien sind im Erwachsenenalter verboten. Das Zollhaus hat zwei Tore. Zum einen gehen alle hinein, aus dem andern kommen „nur einige wieder heraus“ (S. 302). Letztere sind die, die es geschafft haben, erwachsen zu werden. Sie sind nicht wiederzuerkennen: Unbekümmerte werden nachdenklich, Oberflächliche werden tiefgründig, Possenreißer werden würdig und verhalten, Leichtfertige werden gemessen, Hitzköpfe werden gelassen, Wankelmütige werden zielstrebig, Leichtsinnige werden vorsichtig, Windbeutel werden anständig. Sogar die Haut- und Bartfarbe ändert sich: „die Rotwangigen wurden bleich“, ein weißer Bart wird schwarz (S. 303).

Argus faßt die Veränderungen zusammen: „‚Am ersten Tor dort lässt man Tollheit, Unbekümmertheit, Gedankenlosigkeit, Unbedachtheit, Zerfahrenheit, Albernheit, Achtlosigkeit und Leichtfertigkeit mit der Jugend zurück; und am zweiten Tor hier nimmt man Verstand, Ernsthaftigkeit, Strenge, Gelassenheit, Stetigkeit, Ausdauer, Bedachtsamkeit und Verantwortung mit dem Mannesalter auf'“ (S. 303).

Wer die notwendigen Entwicklungsschritte nicht vollzieht, wird „an die Reformanstalt für Unerwachsene überwiesen“ (S. 305).

5. Verschiedene Einsichten

Da die Welt ein Zusammenspiel von Gegensätzen ist, ist das menschliche Leben „’nichts anderes als Kriegsdienst'“ (S. 45).

Gott spricht zu uns durch seine Geschöpfe.

Weisheit ist das höchste aller Güter.

Lektüre macht Menschen zu Personen.

Nur wer auf Dummköpfe setzt, hat Erfolg.

Schicksalsschläge sind Ohrfeigen für Feiglinge.

Was man von Natur hat, wird durch das Schicksal ausgeglichen.

Man kann nicht alles haben.

Das einzig Beständige ist die Tugend. Sie „ist Mitte jeden Glücks“ (S. 448).

Wer Streit vermeidet, ist der mutigste Streiter.

Der beste Weg aus der Gefahr ist, „sich nicht zu gefährden“ (S. 489).

„‚Wer herrschen will, muss schreiben können'“ (S. 552).

Sich selbst zu beherrschen, ist „‚wahre Herrschaft'“ (S. 568).

Kluge Menschen können Toren nicht zur Vernunft bringen.

Alle wollen alt werden, „‚aber keiner will es sein'“ (S. 610).

Was man nicht verdient hat, achtet man nicht.

Das erste Kind der Wahrheit ist der Haß.

„‚Auch wer in Seide geht, kann ein Affe sein'“ (S. 692).

Streithähne gehen einem an den Kragen, wenn man sie auseinanderbringen will.

Wer berühmt werden will, braucht nur eine Posse zu reißen.

Alles wird immer schlechter.

6. Die Welt als Chiffre

Die Dinge sind nicht, wie sie scheinen. Für Gracián ist die Welt ein Buch, das in rätselhaften Buchstaben geschrieben ist. Alles ist „‚chiffriert'“ (v. arab. sifr = leer, Null), „‚derart versiegelt und undurchdringlich, wie die Herzen der Menschen sind'“ (S. 681).

Ein Grundproblem ist das Phänomen der Projektion. Jesus formulierte es so: „‚Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: ‚Laß mich den Splitter aus deinem Augen wegnehmen‘, und dabei ist der Balken in deinem Auge?'“ (Mt 7,3f)

Mit den Worten Graciáns: „‚Das ist der Irrtum vieler, dass sie die Wahrheit nie bei sich erkennen, immer nur bei den andern; so erfassen sie gleich, was beim Nachbarn, beim Freund verkehrt ist, und sie sagen gleich und gerne, was sie besser machen müssten; bei sich selbst jedoch wissen sie nichts und sehen sie nichts'“ (S. 682).

Zurück zur Chiffrierung: „‚Ich sagte es euch ja schon, was irgend ist auf der Welt, begegnet uns verschlüsselt: Gutes wie Böses, Unwissenheit wie Weisheit. […] Die meisten Dinge sind nicht das, als was man sie liest […]. Lediglich die Frauen scheinen, was sie sind, und sind, was sie scheinen'“ (S. 683), doziert der Entzifferer. Die Begründung folgt auf dem Fuß: „‚Die meisten erscheinen doch böse, und sie sind es auch'“ (S. 684).

Überhaupt seien „‚die meisten, die nach Mensch aussehen'“ (S. 684), Mischungen aus zwei Komponenten, die einander widersprechen: „‚Seraphim im Antlitz, Kobold in der Seele.'“ Manche sind Kreuzungen „‚aus Mensch und Raubtier, die andern aus Mensch und Packtier; mal aus Politikus und Fuchs, mal aus Wolf und Geizhals; aus Mann und Hase mancher Eisenfresser, aus Ross und Flügeln manche Kupplerin, etwas von der streunenden Wölfin steckt in vielen unserer lammfrommen Nichten […]. Ihr werdet welche finden, die sind leer von Substanz, dafür voll von Impertinenz, ist doch die Unterhaltung mit einem Schwachkopf so gut wie einen Abend lang dem Esel Stroh aus der Nase ziehen'“ (S. 685).

Die Zahl der Chiffren ist unbekannt. Der Entzifferer erklärt die „‚geläufigsten'“:

  • „‚das Etcetera‚“ (S. 686): wer den Ausdruck („und so weiter“) verwendet, deutet laut Gracián etwas an, was er nicht aussprechen will;
  • das „‚Qutildequé‚“ (S. 687) steht für „‚alberne Angeberei'“ (S. 688);
  • die Chiffre „‚Stelz […] soll bedeuten, dass man einen nicht nach der Länge seiner Stelzen messen soll, sondern nach der Menge, die er im Kopf hat'“ (S. 689);
  • die Chiffre „‚alterutrum‚“ verschlüsselt „‚die gesamte Welt'“ und verkehrt „‚alles ins Gegenteil ihres Anscheins'“ (S. 691); konkrete Beispiele: wer „ja, ja“ sage, meine „nein“, wer „nein, nein“ sage, meine „ja“. „‚Wenn einer zu euch sagt: ‚Wir wollen uns bald wiedersehen‘, so heißt das zumeist, ihr sollt ihm nicht wieder unter die Augen kommen'“ (S. 693).

Natürlich ist das alles cum grano salis zu nehmen, also satirisch zu verstehen. So „geläufig“ sind mit Ausnahme der ersten diese „Chiffren“ schließlich nicht. Graciáns Frauenfeindschaft mag mit seinem Zölibatsgelübde als Geistlicher zu tun haben.

Uta Ranke-Heinemann widmet in ihrem Buch „Eunuchen für das Himmelreich“ der „Angst der Zölibatäre vor den Frauen“ ein ganzes Kapitel (S. 125-130): „Aus Jesu Unbefangenheit gegenüber Frauen, aus der Achtung, die er ihnen erwies, entwickelte sich nach seinem Tod auf der Seite der amtlichen Männer der Kirche in ihrer Beziehung zu Frauen ein sonderbares Gemisch von verklemmter Furcht, Mißtrauen und Überheblichkeit. […] Frauen erschienen ihnen dabei manchmal als die Personifizierung der Fallstricke des Teufels“ (S. 125f). Dem Augustinus bescheinigt Ranke-Heinemann eine Frauenphobie. „Die Gefahr ist auch heute noch für die Zölibatäre weiblich, dem wird bei der priesterlichen Ausbildung Rechnung getragen“ (S. 129).

7. Die gefühlte Welt

Die Passage, in der ein Seher darüber spricht, wie die Wahrheit von der Stimmung abhängt, klingt geradezu modern: „‚Jeden Tag erlebst du doch, wie von ein und derselben Sache der eine behauptet, sie sei schwarz, der andere, weiß. Je nachdem, wie einer etwas erfasst oder auffasst, gibt er dem die Farbe, die ihm nahe liegt. […] Die meisten auf dieser Welt sind Färber und verleihen den Dingen die Färbung, die ihnen genehm ist für Handel, Geschäft, Unternehmen und Erfolg. Jeder informiert auf seine Art, die Bestimmung folgt der Stimmung'“ (S. 732).

In der Gegenwart erleben wir das am deutlichsten beim Klima: Es hat sich schon immer verändert, aber wer ein Geschäft daraus machen will, „informiert“ auf seine Art. Wer seine „‚Machenschaften'“ aufdeckt, wird „‚zum Leutefeind'“ (Gracián) erklärt (S. 736f), modern: zum „Klimaleugner“ (als ob er bestreite, daß es das Klima überhaupt gibt, nämlich einen Durchschnittswert des Wetters über einen längeren Zeitraum).

Schon zu Zeiten Graciáns gab es übrigens schon eine Wärmeperiode, allerdings noch ohne Industrialisierung und ohne Kohlendioxidausstoß als Sündenbock: „‚Heute ist alles verdorben und verkommen, selbst das Klima, und wenn es so weitergeht, wird Deutschland in wenigen Jahren ein zweites Italien sein und Valladolid ein zweites Córdoba'“ (S. 747f).

Die Geburt des modernen Klimaschwindels schildert Hartmut Bachmann so: Am 11. August 1986 erschien der SPIEGEL mit einem Titelbild, das den Kölner Dom unter Wasser zeigte, mit Ausnahme der Turmspitzen, die noch herausschauten. Das war die „Geburt eines Blockbusters“ (S. 41): „‚Ozon-Loch, Pol-Schmelze, Treibhaus-Effekt: Forscher warnen – Die Klimakatastrophe'“ (S. 40).

Doch wie wird aus Angst ein Geschäft? „Alles auf Erden lässt sich vermarkten“, meint Bachmann. „Sie müssen nur folgendes beachten: Sie müssen einen Markt für Ihr Produkt schaffen und wenn Sie ein politisches Produkt verkaufen wollen, müssen Sie obendrein prüfen, ob es als ‚gesellschaftlich relevant‘ angeboten werden kann“ (S. 75).

Anfang September 1986 war Bachmann auf der Party eines amerikanischen Segelclubs. Alle redeten durcheinander, Bachmann schnappte die Wörter „Klimawandel“ und „Temperaturanstieg“ auf. Plötzlich schwiegen alle. Und ein „Manager einer der größten Werbeagenturen der USA“ sagte in die Stille hinein: „Weshalb verändern wir die Klimaänderung nicht in eine Werbe-Zugnummer?“ (S. 101)

Die Folgen sind bekannt: Regierungen auf der ganzen Erde fielen auf den Schwindel herein. Anfang 2005 wurde in der EU der „Handel mit Emissionszertifikaten“ eingeführt (S. 220), den Bachmann mit dem Ablaßhandel der Kirche vor einem halben Jahrtausend vergleicht. Im Jahr darauf beliefen sich die Umsätze auf 22 Milliarden Dollar.

8. Mentale Hygiene

Gracián vermißt beim menschlichen Kopf einen Kamin, „wodurch der viele Dunst abziehen könnte, welcher sich beständig in seinem Hirn bildet. Und zwar besonders im Alter. […] Die Knabenzeit ist albern, die Jugendzeit durch den Wind, die Manneszeit voll Plackerei, die Greisenzeit aber von sich selbst eingenommen: Unaufhörlich dampft es da vor Anmaßung, qualmt vor Prahlerei, köchelt vor Anerkennungsbedürfnis und röchelt nach Beifall“ (S. 767).

9. Schopenhauers Rezeption

Arthur Schopenhauer (1788-1860) charakterisiert die von Gracián sog. „Menschen, die keine sind“ näher: Die Freizeit der gewöhnlichen Leute sei „ohne objektiven Wert, sogar für sie nicht ohne Gefahr […]: sie scheinen dies zu fühlen.“ Sie würden „mehr Luxus und Wohlleben bei angestrengter Tätigkeit“ „mehr Muße und Geistesbildung“ vorziehen, da für sie „jede Geistesanstrengung, die nicht den Zwecken des Willens dient, eine Torheit“ sei. Wer anders denke, sei für sie ein Exzentriker (V 98f).

So seien allerdings die wenigsten Menschen. Die meisten hätten nur das notwendigste Geld und auch nur so viel Verstand, wie sie zur Ausübung ihres Berufs brauchen. In ihrer Freizeit würden sie gaffend herumstehen, sich den Sinnenfreuden oder Spielen hingeben, geistlose und nichtssagende Konversationen führen, sich ausstaffieren und voreinander kriechen.

Nur wenige hätten „einen ganz kleinen Überschuß intellektueller Kräfte“ und würden „irgendein liberales Studium“ betreiben, „das nichts abwirft, oder eine Kunst“ (V 99). Mit denen könne man gerade noch reden.

Doch von den andern halte man sich besser fern: „denn mit Ausnahme der Fälle, wo sie gemachte Erfahrungen erzählen, aus ihrem Fache etwas berichten oder allenfalls etwas von einem andern Gelerntes beibringen, wird, was sie sagen, nicht des Anhörens wert sein; was man aber ihnen sagt, werden sie selten recht verstehn und fassen, auch wird es meistens ihren Ansichten zuwiderlaufen“ (V 99).

Letztere sind laut Schopenhauer die Nichtmenschen Graciáns. Da kann man nur sagen: Der eine Menschenfeind hat den andern gefunden.

Graciáns El Criticon findet Schopenhauer unvergleichlich: Der Roman bestehe „in einem großen, reichen Gewebe aneinandergeknüpfter, höchst sinnreicher Allegorien […], die hier zur heitern Einkleidung moralischer Wahrheiten dienen, welchen er ebendadurch die größte Anschaulichkeit erteilt und uns durch den Reichtum seiner Erfindungen in Erstaunen setzt“ (I 338).

Gracián bringe in diesem Roman „den Jammer unsers Daseins uns mit den schwärzesten Farben vor die Augen“. Speziell in der 5. und 7. Krisis des ersten Teils stelle er „das Leben als eine tragische Farce ausführlich“ dar (II 754).

10. Würdigung und Kritik

Stellenweise suhlt sich Gracián in unerträglichem Geschwätz. Die (dürftige) Handlung seines Romans habe ich absichtlich nicht nacherzählt. Auch die zahlreichen Anspielungen auf Zeitgenossen und Persönlichkeiten der Geschichte habe ich weggelassen. Ich beschränkte mich auf den philosophischen Gehalt, der einigermaßen dünne ist.

Was bleibt, ist Graciáns Lob der Tugenden, sein Plädoyer für die Mitte zwischen den Extremen, seine Wahrheitsliebe und seine Einsicht, daß man hier auf der Erde nicht glücklich werden kann. Dabei bedeutet für ihn wohlgemerkt „‚Wissen und Person-Sein'“ das höchste Glück (S. 759)! Zum Wissen sieht er vier Wege: hohes Alter, viele Reisen, Lektüre und kluge Freunde. Erreichbar ist aber der Nachruhm, d.h., daß man nach seinem Tod aufgrund seiner Persönlichkeit und geistigen Leistung nicht vergessen wird.

In Graciáns Sprichwörterkorrekturen wittert Hartmut Köhler „ein beunruhigend modernes Stück utopistisch-totalitärer Sprachregelung“, aber auch die Lust am Verkehrten (S. 757, Anm. 46).

© Gunthard Rudolf Heller, 2022

Literaturverzeichnis

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BARTHEL, Manfred: Die Jesuiten – Legende und Wahrheit der Gesellschaft Jesu, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1984

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FÜLÖP-MILLER, René: Macht und Geheimnis der Jesuiten – Eine Kultur- und Geistesgeschichte, Wiesentheid 1947

GRACIAN, Balthasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa und aus dem spanischen Original treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer, mit einem Nachwort von Werner von Koppenfels, München 2005

– Das Kriticon, aus dem Spanischen übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler, mit einem Nachwort von Hans-Rüdiger Schwab, Frankfurt am Main 2004

GRANDT, Michael: Kommt die Klima-Diktatur? – Eine faktenreiche Analyse des grünen Klimawahns, Rottenburg 2019

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LEXIKON DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988

MACCHI, Vladimiro: Langenscheidts Taschenwörterbuch Italienisch-Deutsch, Berlin/München/ Wien/Zürich 101983

MAXEINER, Dirk/MIERSCH, Michael: Lexikon der Öko-Irrtümer – Fakten statt Umweltmythen (1998), München/Zürich 2000

MENGE-GÜTHLING: Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch-Deutsch, Berlin/München/ Wien/Zürich 261987

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81 (MEL)

RANKE-HEINEMANN, Uta: Eunuchen für das Himmelreich – Katholische Kirche und Sexualität, München 1990

SCHIERSE, Franz Joseph: Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel, Düsseldorf/Stuttgart 21986

SCHOPENHAUER, Arthur: Sämtliche Werke, hg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, 5 Bände, Frankfurt am Main 11986/21989

WILPERT, Gero von (Hg.): dtv-Lexikon der Weltliteratur – Autoren, 4 Bände, München 1971

– Lexikon der Weltliteratur Band II – Hauptwerke der Weltliteratur in Charakteristiken und Kurzinterpretationen, Stuttgart 31993

Gunthard Heller

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