Deutsche Mythologie I: Die Götter der Südgermanen

In minutiöser Arbeit hat die Journalistin Eire Rautenberg die schwer zu rekonstruierende Geschichte der südgermanischen Kultur aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen. Die heute weitgehend verschüttete Tradition unserer eigenen Vorfahren besticht durch eine weitverzweigte Göttergenealogie, Lebensnähe und Erdverbundenheit.

Grundsätzliches

Die Beschäftigung mit der deutschen (süd-germanischen) Mythologie ist – nach dem über fünfzig Jahre verordneten Verdrängen wegen des demagogischen Mißbrauchs durch den Nationalsozialismus – inzwischen fast eine Notwendigkeit, kann doch der Gang in die Vorzeit wesentlich zur Konsolidierung eines neuen deutschen Selbstverständnisses beitragen. Vielleicht gilt es, noch einmal deutsch zu denken, auch deshalb, um im gemeinsamen Haus Europa zu wissen, woher wir kommen, aus welchen Wurzeln der Vergangenheit wir wieder selbstbewußt wachsen dürfen, als ein Zweig des großen europäischen Stammbaumes der Zukunft.

Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Germanentum auf der Grundlage der deutschen Mythologie erfordert einen eigenen Artikel. Die Erklärung der Runen-Reihe (ohne Binderunen) würde einen dritten Artikel nötig machen. Für den interessierten Leser gibt es inzwischen einiges an Lesenswertem zu den fehlenden Bereichen.

Die Beschäftigung mit unserer Vergangenheit beinhaltet neben der wichtigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner gefährlichen okkulten Ströme (zu der auch die magische Benutzung der runischen Energien gehörte) eine gesunde innovative Annäherung an die ursprüngliche Religion der südlichen Germanen. Die Erforschung unserer germanischen Ahnen und ihres Glaubens hat einen ganz eigenen Zauber, der genauso zu uns gehört wie der keltische Mythenkreis.

In Skandinavien hatte sich das germanische Heidentum länger ungestört bewahren können, es war ausgeprägter und wurde seit dem 10. Jhdt. schriftlich überliefert. Die nordische Literatur umfaßt die isländischen Sagas, die Ältere Edda, die Skaldendichtung sowie die Aufzeichnungen des dänischen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus (um 1200 n. Chr.). Die Mythologie der nordischen Sagas und Skaldendichtung unterscheidet sich jedoch in vielem von der der Süd- bzw. Festland-Germanen, kann also in unserer deutschen, der südgermanischen Mythologie, keine Beachtung finden.

Es gibt so gut wie keine originären schriftlichen Zeugnisse unserer Vorfahren. Die Schrift als Medium spielte kaum eine Rolle, das soziale Gedächtnis setzte sich in mündlicher Form fort, als direkte Tradition. Erst mit Beginn der Christianisierung West- und Mitteleuropas durch irische und später deutsche Missionare im 5. Jhdt. begann man mit schriftlicher Fixierung von Texten. Unser heutiges Wissen gewinnen wir aus zeitgenössischen Berichten römischer Offiziere, Inschriften fremder Steinmetze, Straf- und Bußparagraphen kirchlicher Synoden und Mönchsorden, aus Anekdoten, Zaubersprüchen, aus Sagen und Bräuchen. Die bis heute einzigartige zeitgenössische Schilderung germanischen Glaubens und alltäglichen Lebens lieferte um 100 n. Chr. Tacitus in seiner Germania. Sie bleibt die einzige Schrift, die aus heidnischer Sicht überliefert ist.

Mit Sicherheit haben die unterschiedlichen Lebensräume – bei den Nordgermanen der rauhe kalte Norden und bei den Festlandgermanen die milden mitteldeutschen Wald-, Seen- und Mittelgebirgsgebiete – Einflüsse auf die Lebensweise und die naturreligiösen Vorstellungswelten gehabt. Trotz vieler Übereinstimmungen in den Grundvorstellungen besteht ein beachtlicher Unterschied zwischen der nordischen und der deutschen Mythologie. Um 500 n. Chr. beginnt ein reger Sagen- und Mythenaustausch von Süd nach Nord.

Viele Grundvorstellungen scheinen den Südgermanen zu entstammen. Beim Vergleich erscheinen die Göttersagen und Mythologien des Nordens wesentlich bildreicher, umfangreicher und poetischer. Grund dafür ist, daß die Veränderungen und spirituellen Vertiefungen der alten Stoffe, die die Skandinavier, Dänen und Isländer vorgenommen haben, das Werk von Dichtern sind und daher Kunstwerke. Die Edda-Lieder sind weniger Volksglauben als Kunst, mehr Phantasie und Prophetie als gelebte Religion.

Die Götter der westlichen Festlandgermanen sind die eigentlichen deutschen Götter. Die ursprüngliche Wortform Gott könnte mit der indogermanischen Wurzel ghu (sanskrit: hu) zusammenhängen, was bedeutet: das Berufene, Besprechung. Ist die Erklärung richtig, so nannte man das Gott, was man durch Zauberkraft oder Zauberwort seinem Willen untertan machte.

Die Götter Tiwaz

Seit der ältesten Zeit begegnen die himmlischen Wesen in der Dreiheit. Die 3 x 3, die Vorstellung von insgesamt neun Aspekten der Gottheit, tauchte erst später in der religiösen Geschichte auf.

Plinius und Tacitus nennen die drei westgermanischen Mannus-Stämme: Istaevonen, Herminonen und Ingaevonen, die auf die drei Beinamen des Himmelsgottes Istwio, Irmino und Ingwio zurückgehen.

Uralte Lieder, die schon zur Zeit des Tacitus aus ferner Vorzeit stammen, singen von den drei göttlichen Ahnen. In der urgermanischen Form lauten sie Istwaz, Ermnaz und Ingwaz. Sind es Brüder, verschiedene Götter oder uralte Erscheinungsformen einer einzigen Gottheit? Letzteres ist wahrscheinlich.

Die Istaevonen nannten ihren strahlenden Gott Tiwaz Istwaz, den „Flammenden“ (Wurzel idg.= brennen, flammen oder isi= glänzen, leuchten). Tiwaz war das Attribut, das alle drei Stämme dem Ahnennamen voransetzten, der allgemeine Name des Sonnen- und Himmelsgottes, des Beschützers in Krieg und Frieden.

Das zentrale Stammesheiligtum der Istaevonen war der Istenberg bei Olsberg-Bruchhausen in Süd-Westfalen, Hochsauerlandkreis.

Der Istenberg mit seinen herausragenden vier Felsen, den heutigen „Bruchhauser Steinen“, gehört zu der mittlerweile weltweit entdeckten Kultur der Groß-Skulpturen, die noch früher als die eigentliche Megalithkultur anzusetzen ist. Während die Menschen, die die megalithischen Bauwerke schufen, etwa von 4000 bis 1500 v. Chr. lebten, muß die Kultur der Groß-Skulpturen mindestens in der ausgehenden Alt-Steinzeit, zwischen 8500 und 6700 v. Chr. entstanden sein, wenn nicht schon im Aurignacien, um 32.000 v. Chr.

Meterhohe figürliche Plastiken und Gesichter zieren die Steine. Fotografien der Felsformationen sind sehr überraschend. Dennoch ist die Theorie umstritten, da nirgendwo eindeutige Bearbeitungsspuren sichtbar sind.

Die Herminonen, deren Wohnsitze sich von der Donau bis zur Spree erstreckten, nannten ihn Tiwaz Ermnaz, den „Erhabenen, den Himmelsgott“ (= Ermin, Irmin). Als Irmin-Tius (röm.: Tius) bildete er den Mittelpunkt ihres Kultes. Auch die Sachsen verehrten ihn unter diesem Namen. Nach ihrem Siege über die Thüringer bei Scheidungen an der Unstrut errichteten sie ihm eine Siegessäule, geschmückt mit dem Standbild eines Adlers, der nach Osten blickte. Die Errichtung der Siegessäule, Irmin-Sul (Sonne des Irmin), kennzeichnet ihn als Sonnen- und Kriegsgott.

Aufgrund meiner jahrelangen Recherchen behaupte ich, daß die Vokale im Wortstamm ‚Ir-Min-Sul‘ auch durch andere Vokale ersetzt werden können. Die fünf Vokale waren den alten Naturvölkern heilig und korrespondierten in ihrer Magie in vielfältiger Weise. Folglich bekommen wir z. B. die Zusammensetzung ‚Ar-Man-Sil‘. Armansil als Bezeichnung des Stammbaumes der Mannusstämme hat die runischen Bedeutungen der Ar-Rune, der Man-Rune, und der alten mythologischen Bezeichnung für Wald, Sil, das Licht der Bäume.

Runen sind pfeilartige Energiekanäle, die in vielfältiger Art genutzt werden können und durch die sich unsere Vorfahren mit den göttlichen Mächten verbanden. Erst später wurde eine Keilschrift daraus.

Die Ar-Rune ist das Zeichen für „Licht und Sonne“. Ar, Aar ist auch der Adler, dessen Stärken Weitsicht, Scharfblick der Wahrnehmung und kluges Handeln sind. Er erhellt das Dunkel der Unwissenheit und gewährt Ruhm und Erfolg, Heilung und Schutz. Die Priester hießen bei uns die Armanen, die Adlermenschen, Lichtträger, Sonnenpriester. Ar ist die Rune des Führers, des Eingeweihten.

(Ich vermute, daß Hitler und seine Anhänger ein beschränktes Runenwissen besaßen. Das machte sie offensichtlich nicht zu wahrhaft Eingeweihten. Tatsächlich wurden die Runen im nationalsozialistischen Kontext für den deutschen Machtgewinn eingesetzt. Das sollte unsere Generation aber nicht daran hindern, die Runen positiv für die spirituelle Entwicklung zu verwenden und sie durch eine heilende Verwendung zu reinigen.)

Man ist die Menschheits-Rune, die Rune der „Wiedergeborenen“, der „Auferstandenen“, der manifestierte Logos, das Zeichen des Urlichtlandes. Ma(n) ist die Vereinigung von Weib und Mann in der Dreiheit von Körper, Seele und Geist.

Sil ist eine uralte Silbe, deren Bedeutung so mystisch ist, daß kaum darüber gesprochen wird. Das „Licht der Bäume“, das Mysterium des Waldes, die Anbetung der Großen Mutter, die Kristalle, das Schweigen.

Doch wir können Irminsul auch ausschließlich mit der Tyr-Rune in Zusammenhang stellen. Tyr, Ti, Tiu, Tau, Teiwas, Tiwaz. Alles alte Bezeichnungen dieser Rune mit dem Grundbuchstaben T

Es ist die Rune des Schwertgottes, des Tiwaz, des Kreuzes; des Lebensbaumes; des hängenden Gottes, der sich selbst opfert und der Auferstehung gewiß ist.

Es ist der alte Himmelsgott, der schon vor Wodan/Odin über die geistigen Welten herrschte. Wodan/Odin übernahm später die alten Kräfte und Mächte. Tyr zeigt den Weg zur Glückseligkeit und bewirkt eine Befreiung von der Todesfurcht.

(Das Tau-Kreuz war übrigens auch den alten Völkern in Irland bekannt. Niemand weiß, wer sie in die Landschaft stellte. Sie existieren in versteinerter Form an etlichen Orten der Insel, z. B. auf Tory-Island.)

Die Irminsul hatte das Aussehen eines Pfahles, der sich oben teilt und zwei oder alle vier Äste in die Himmelsrichtungen ausstreckte. Die Irmensäule als Lebensbaum verband die vier Elemente des Lebens zu einer Einheit und hier teilten sich die Wege für die alten Germanen.

Karl der Große zerstörte 772 n. Chr. die überall vorhandenen gewaltigen Irmensäulen, doch angeblich nicht die Irminsul in der Nähe des dem Gott geweihten westfälischen Heiligtums in Eresburg.

Nicht weit davon entfernt befindet sich das alte Stammesheiligtum der Herminonen, die bekannten Externsteine im Teutoburgerwald. Auch sie sollen zur Kultur der Groß-Skulpturen gehören.

Sächsische Beinamen von Irmin waren „Er“ und „Saxnot“, der „Schwertgenosse“.

Die Ingaevonen nannten den Gott Tiwaz Ingwaz, „der Angekommene“, da man nicht wußte, woher er kam. Ein rätselhaftes angelsächsisches Runenlied sagt: „Ing war zuerst bei den Ostdänen von den Menschen gesehen, später zog er ostwärts über die Flut; sein Wagen rollte ihm nach.“

Der Wagen, das eigentümliche Symbol seines Kultes, war auch ein Attribut seiner Gemahlin, der Göttin.

Das zentrale Stammesheiligtum der Ingaevonen befand sich wahrscheinlich auf Seeland in Dänemark.

Mythologisch heißt es, an die Milchstraße, den Iringsweg, schließt sich der Wagen des Himmelsgottes, der Irminswagen an, der in jeder Nacht den Pol umkreist, und nach dessen Stande man die nächtliche Zeit im Lande bestimmte. Dieses nördliche Sternbild war der Wagen des Irmin Tius. Von dem Wort Ti(u) leitet sich ab indogerm. Dieus; Theo, teutsch, deutsch.

Dem Himmelsgotte zu Ehren, der das leuchtende Schwert führt, fand ein Schwerttanz statt. Leichtbekleidete junge Männer tummelten sich in Sprüngen unter Schwertern. Ähnliche schamanistische Rituale finden wir z. B. in Nepal und Nordindien. Das Schauspiel fand bei vielen feierlichen Gelegenheiten statt, auch an den Festen des schwerttragenden Himmelsgottes.

Die Friesen hielten ihre Rechtsversammlungen, zu denen sie bewaffnet erschienen, unter seinem imaginären Ehrenvorsitz ab, und nannten diesen Tag der Thing-Verhandlungen Tinges- oder Dingestag. Daraus wurde unser Dienstag.

In der zweiten Periode der südgermanischen Götterverehrung beginnt seine Gestalt zu verblassen, denn neben ihm erscheinen Wodan und Donar als gleich mächtig.

Watanaz

(Wodan, idg. Wurzel va = wehen; od = Atem, Odem, Odin; urgerm. Watanaz, altgerm. Wodanaz)

Watanaz entreißt dem Tiwaz die Gattin, die Göttin Frija, und entführt sie in die Lüfte. Als Windgott wird auf Wodan alles übertragen, was das Herz der Stammesangehörigen höher schlagen läßt.

Watanaz personifiziert möglicherweise den dunklen Aspekt des mehrseitigen göttlichen Wesens Tiwaz/Irmin.

Da der Mond im germanischen eine männliche Kraft ist, ist diese Vorstellung durchaus möglich. Er ist als Nachtjäger bekannt, der durch die nächtlichen Lüfte stürmt und Frauen und Tieren nachsetzt. Er ist auch der Führer der abgeschiedenen Seelen, der Totengott, der bei Windstille in seinem unterirdischen Reich, einer riesigen Berghöhle, haust. In ganz Nordeuropa, einschließlich England und Deutschland, sind ‚Wodansberge‘ verbreitet.

Er beschützt das Gedeihen der Pflanzen, der Ernte und der Tiere. Wegen seiner Fruchtbarkeit und seines Erntesegens wurde er überall mit Erntedankopfern verehrt.

Den Gott begleiten die Geier; Adler und Habichte; die Raben; die Schlangen; die Wölfe und das lärmende Treiben von Hunden. Er ist der Mantelträger, ein Beiname des nächtlichen Sturmgottes. Auf dem achtbeinigen Roß jagt er dahin, umhüllt von einem blauen oder schwarzen Mantel und einem breitkrempigen Schlapphut. Manchmal wird er kapuzentragend dargestellt. Sein Wesen ist verbergend, verhüllend.

(Interessant ist, daß auch die Kelten eine göttliche Hierarchie von kapuzentragenden Göttern kannten, die man Genii Cucullati nannte. Sie wurden mit einem magischen Pferdekult in Zusammenhang gebracht, über den man kaum etwas weiß. Möglicherweise läßt sich der Kult mit den Runen verbinden, deren Kraftlaute geflüstert oder geraunt werden. Wenn man an die heimlichen Aktivitäten der Bruderschaft der Horse Whisperers, der Pferdeflüsterer, denkt, die bis heute in Großbritannien und Amerika zu finden ist, erscheint es nicht abwegig, daß die Sitte, den Tieren magische Formeln ins Ohr zu flüstern, auf einen heidnischen Kult zurückzuführen ist, der mit Wodan als Runenfinder zusammenhängen könnte.)

Das schwarze oder weiße Pferd des Wodan ist im Volksglauben ein Bild der dunklen Wetterwolke oder des flüchtigen Nebels, birgt aber wohl noch andere Geheimnisse. Achtbeinige Pferde haben eine schamanische Bedeutung und sind z. B. in Sibirien als Zauberpferde bekannt, auf denen die Schamanen zwischen den Welten reiten.

In seinem wehenden Gewand sieht man das nächtliche Himmelgewölbe mit den funkelnden Sternen. Nur den Speer führt die Hand des Gottes. Sein Speerwurf war ein Symbol für die Ankündigung des Krieges und das Zeichen für die Besitzergreifung des eroberten Landes. Freudig des Glaubens, daß der Gott ihn erkoren, wenn er die Todeswunde empfing, stürmte der Ger-mane, der Speer-Mann, leicht bekleidet und bewaffnet, in die Speerwürfe der Gegner.

Ein weniger bekanntes Symbol des Gottes ist die Schlange. Die Langobarden verehrten eine goldene Schlange als sein heiliges Tier.

Unter seinen zweiundvierzig Beinamen werden zwei Schlangennamen aufgeführt: Ofni, „der Verflechter“ und Swafni, „der ewige Schlummer“.

(Letztere erinnert mich an den schlafenden Vishnu aus der hinduistischen Religion; „der auf der Weltenschlange Shesha Ruhende“. Der Erhalter der Welt ruht zwischen zwei Weltperioden im Meditationsschlaf auf dem Schlangenbett. Beim Weltuntergang – seiner 10. Inkarnation – wird er als „Kalki(n)“ erscheinen und als dunkler Reiter auf weißem Roß mit Flammenschwert den Kreaturen Erlösung bringen. Zu seinen Attributen zählen u. a. der Adler, die Schlange, das Rad, die Keule oder der Hammer.)

Wodan wohnt gelegentlich auch in der Luft. Mit seiner Gemahlin Frija residiert er in einem Burgsaal. In der nordischen Mythologie heißt diese Halle Walhall, aber für die deutsche Mythologie läßt sich dieser Name nicht belegen. Wohl aber das Os- oder As-Heim.

Die Rune Os/As bezeichnet die Vereinigung der Frija mit Watanaz. Normalerweise wird sie nur als Odins/Wodans-Rune gesehen, aber sie ist zweigeschlechtlich. Sie gilt als Rune des Atems; der Geistheilung und odischen Strahlkraft; der hohen Geburt (Adel, Odel) und der Vererbung; als Befreiungsrune, die alle Fesseln sprengt (durch Machtwort). Os symbolisiert den Mund und den weiblichen Schoß als Empfangsrune. In früheren Zeiten sah man sie auf priesterlichen Stirnbinden und in Form der Raute auf Wappen und in Höhlenmalereien. Ihr Baum ist die Esche (= ask, aesc: ein Laut-/Machtwort der Rune).

Die Heimat der Götter ist also ursprünglich das Asenheim/Osenheim/Eschenheim. Sie war nicht nur im Himmel vorhanden, sondern auch auf der Erde, im heutigen Teutoburger Wald (Tau-nus).

Wodan selbst als unermüdlicher Wanderer (mit den Namen: Gangrad, Wegtam) war außerdem der Geleiter der Reisenden; der Spender von Glück und Reichtum, mächtig geheimer Weisheit, ein Meister der runischen Kraft- und Atemströme (Odin) und kundig der Dichtkunst. Seine Einäugigkeit ist zwar nicht direkt bezeugt, darf aber als altgermanische Vorstellung gelten.

Er besaß einen magischen Ring, dem in jeder neunten Nacht acht weitere seiner Art entsprangen, die für seine treuesten Anhänger bestimmt waren. Für das Volk war er der Herr der Ringe.

(Dies hat J. R. R. Tolkien zu seinem gleichnamigen Buch inspiriert. Tolkien hat u. a. wertvolle Fragmente aus der mythischen Welt der Germanen zusammengetragen und in seinen Werken verarbeitet, besonders auch im Silmarillion.)

Watanaz lehrte seine Anhänger, „das Leben zu lieben, trotz aller Mühe: ganz unglücklich ist niemand auf Erden, etwas hat jeder als Trost. Darum freue sich jeder, sofern er nur eins nicht verliert: die Ehre. Rede nicht unnütz, trinke nicht zuviel: leicht gerät ins Unglück, wer sich um die Besinnung bringt. Zuverlässig ist nichts auf der Welt: kein Weib, kein Kind, kein Gut – und auch keine Macht: denn immer lebt dem Starken ein Stärkerer. Alles vergeht und stirbt: der Besitz, die Sippe, endlich du selbst. Eines nur bleibt und überlebt dich: der Ruf, den du verdienst.“

Oft jagt er im Sturmbrausen der Windsbraut (dem vorausgehenden Wirbelwind eines Gewitters) nach. Die leidenschaftliche Werbung des Gottes und das Wort „Brautlauf“ für eine deutsche Hochzeit zeigt, daß das Weib allnächtlich von ihm als Beute „erlegt“ oder entführt wird, und dennoch immer neu aufersteht, wenn sie seiner Unterwelt entflieht, in der Dämmerung des Tages. Wenn dann der Gott die Verfolgte eingeholt hat, feiert er mit ihr das Fest der Vereinigung.

Bei den Opferbräuchen der ursprünglichen Wodan/Odin-Mysterien wurden die Novizen an die Zweige des Stammbaumes gehängt. In der nordischen Mythologie an die Weltenesche Ygg-Dra-Sil.

(Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß „Ygg“ ein Name des Gottes ist, aber auch die Bedeutung „Ei“ haben kann; „Dra“ meiner Meinung nach für die wodanische Drachen- oder Schlangenkraft steht; und „Sil“ das feinstoffliche Naturlicht ist.)

Der Meister Wodan selbst erduldete eine neun Tage dauernde Prüfung, während der er kopfüber am Lebensbaum hing und fastete. Nach dieser Leidenszeit wurden ihm die Runen offenbart und er schenkte ihre Weisheit als Oberster „Thul“ („Spruchmeister“) denjenigen, die ihm nachfolgten.

Die Einweihungsriten wurden entweder an den Irminsul/Armansil-Säulen oder an echten Bäumen vollzogen. Darüber ist wenig bekannt. Derartiges Brauchtum wurde anläßlich besonderer Festlichkeiten alle neun Jahre vollzogen, um den Todestag des Runengottes zu begehen. Niemand weiß, ob Menschen in dieser Form geopfert wurden, oder ob es sich um eine innere Reise und Weihe handelte, die der Novize im zeitweiligen Hängen erfahren sollte.

Später bekannte er sich zur Schweigepflicht und legte einen Treueeid ab, indem er die blanke Klinge eines Schwertes küßte und besonders gewürzten Met trank, der in einem Kelch gereicht wurde, der aus einem menschlichen Totenschädel gefertigt war. Abschließend erhielt der Novize einen Silberring, graviert mit Runen, und man eröffnete ihm, daß er die Pforten des Todes durchschritten hatte und als höheres Wesen wiedergeboren war. Am Ende seiner Reise durch die neun mystischen Welten wurde der Novize mit dem Abbild des Gottes konfrontiert: ihm wurde ein Spiegel vorgehalten, die Selbsterkenntnis. Dadurch wurde das Wissen mitgeteilt, daß die spirituelle Wahrheit nicht außen, sondern allein im Inneren erfahren werden muß.

Fast überall wird Wodan (nordisch: Odin) der höchste Gott.

Andere Namen von ihm sind: „Der alte Adler“, „Adlerhaupt“, „Herr der Walküren“,Wunjo“ (Wunsch, Wonne), „Osc-Ar“, „Omi“, „Ygg“, „Thund“, „Si-Hora“, „Grimme“, „Graubart“.

Nur die Herminonen bewahrten in römischer Zeit noch den Kult von Tiwaz, Tiu oder Irmin. Mit seinem Reiche hatte der leuchtende Gott auch seine Gemahlin an Watanaz abgeben müssen.

Auf istaevonischem Boden wurde er später zum Träger der geheimnisvollen Schriftrunen. Er spricht auch die Genesung bringenden Zauberworte und nennt als wundertätiger Arzt die neun heilkräftigsten Pflanzen der Erde, deren Namen allerdings nicht überliefert sind.

Von Wodan leiten alle angelsächsischen Könige ihren Stammbaum ab, noch Heinrich der II. von England fühlte sich als dessen Nachkomme.

Durch die enge Berührung der Germanen mit den Kelten und Römern erweitert sich das Herrschaftsgebiet Wodans: er wird Erfinder der Künste und der Zauberei.

War er zu Beginn ein Naturgott, ähnlich dem keltischen „Cernunnos“, so entwickelte er sich allmählich zum Kulturgott, mit Rechtswesen, Erfindung und Wissenschaft, gewandt in Rede und Wort. Nachdem die Germanen Kontakt mit anderen Völkern hatten, ähnelt er jetzt dem Hermes, dem Mercur. Noch heute heißt der Tag des Mercur, der Mittwoch, angels. Vodenes, engl. Wednesday, holländ. Woensdag.

Watanaz/Wodan erobert alle Mannus-Stämme und gilt seither als die Verkörperung des deutschen Glaubens.

Donraz

Der Name des Gewitter- und Donnergottes Donraz (urgerm./indog.) wurde bei den Thüringern, Hessen und Westfalen zu Donar, Don-Ar; zu Thuner bei den Friesen und Angelsachsen; zu Thonar in Schwaben; zu Thor bei den nordischen Völkern; ist „Duir/Dor“ (der Eichengott) und „Dagda“ bei den keltischen Völkern. Die Sprachwurzeln bedeuten „donnern, dröhnen“ (lat. tonare).

Tacitus erwähnt ihn neben Tius und Wodan und hebt hervor, daß ihm Tiere geopfert werden. Die Römer sehen in ihm eine Herkuleskraft, wegen seiner Stärke, des ‚Donnerkeils‘ (den zweiseitigen Donnerkeil gibt es auch als Kultgegenstand in Indien und Tibet, dort Vajra und Dor-je genannt) und wegen seiner Kämpfe gegen alle Feinde der Menschheit, weswegen er oft die Glanzhalle verlassen muß, um das Man-Heim zu verteidigen.

Die Man(nus)-Stämme, die Tiu-Völker, die Teutschen, nannten ihre heimatliche Erde nicht Midgard (Mitte-Garten, Mittelerde), wie es die nordischen Germanen taten, sondern offensichtlich Manheim.

Das Manheim (Menschenheim) umfaßte den gesamten Herrschaftsbereich der Stämme, wahrscheinlich sogar die ganze bekannte Welt. In der religiösen Vorstellung lag das Asenheim innerhalb von Manheim.

Zwar gab es auch ein kosmisches Asenheim, aber der Germane wollte seine Götter auch begreifen können. Deshalb schufen unsere Vorfahren das Asenheim (mit der Irminsul) als Göttersitz südlich des heutigen Detmold im Taunus.

Donaz erscheint meist wie ein rotbärtiger Riese von kräftiger Gestalt, ein gewaltiger Esser und Trinker, der Freude an derben Sitten hat und sich wenig um feine Lebensführung kümmert. Er ist mehr der Gott der Bauern, als der Gott der Krieger oder Zauberkundigen. Er repräsentiert die Alltagskulte. Donar/Thor trägt Eisenhandschuhe, damit er den ‚Zermalmer‘, seine Doppelaxt, besser werfen kann. Ein Kraftgürtel verdoppelt seine göttliche Kraft. Er reitet nie. Entweder geht er zu Fuß oder benutzt seinen Wagen, der von zwei Ziegenböcken gezogen wird, seinen heiligen Tieren, die in alter Zeit bei den Hochzeiten ihr Blut lassen mußten. Die Braut wurde mit Bocksblut besprengt.

Ein Gewitter verkündet seinen Zorn und meistens geben die Krieger ihre Kämpfe auf, wenn Gewitter, Blitz, Donner und Hagel die Mißgunst des Gottes zeigen. Die Angelsachsen nannten das Gewitter Donnerwagen oder Donnerfahrt. Die Kämpfer ahmten die Donnerstimme des Gottes nach, indem sie die Schilde vor den Mund hielten und kräftig hineinschrieen. Dieser kurze, aber mit voller Lungenkraft geschmetterte Ton wirkte lähmend auf den Gegner. Dem Hurra-Ruf sagte man eine fast zauberhafte Wirkung nach. Hurra! war der schmetternde Laut von siegesbewußter Kühnheit.

Bezugnehmend auf den Donnerkeil oder Thors Hammer (die Doppelaxt), wie er im Volksmund heißt, praktizierten die Deutschen den Hammerwurf, wenn sie eine Grenzmarke setzen wollten. In alten Zeiten mit dem steinernen Streithammer, später mit Beil, Hufhammer, Pflugschar oder Sichel. Mit seinem Hammer spaltet der Gott das Erdreich und macht den Boden urbar. So wird er der Gott des Ackerbaues, der Beschützer der heimatlichen Scholle.

Noch stärker als mit Herkules verglichen die Römer den Donaz mit Jupiter. Obwohl in den Bußbüchern der missionierenden Christen im 7. – 9. Jhdt. die Verbote zahlreich sind, den Tag des Jupiter untätig zu verbringen, weigerten sich die Heiden, den Donnerstag als Ruhetag aufzugeben und statt dessen den Sonntag untätig zu sein. Die Tradition, am Donarstage zu feiern, ist alt. Die geladenen Gäste spendeten für die an diesem Tag stattfindenden Hochzeiten Hähne und Hühner, die Donaz geweiht sind, wegen der nahen Beziehung, in der sie zum Wetter stehen.

Das Paar wurde von der Mutter des Mannes um den Herd geführt, danach ging es zur Trauung. Bei Dortmund wurde während des Umführens um den Herd das Feuer entzündet, dabei sprach man vergessene Sprüche. Donar galt als Beschützer und Schirmherr der Ehe. So wie der Wind- und Sturmgott Wodan zur Erringung der Braut angerufen wird, so erfolgte die göttliche Weihe durch Donar, vermutlich durch seinen Hammer, das Sinnbild von Recht und Fruchtbarkeit.

Beinamen des Gottes sind: „Wagenthor“ (sein Symbol ist das sechsspeichige Rad), „Donnerer“, „Hlorridi“.

Pulaz

Pulaz (germ. = Kraft, sanskrit = bala), Phol oder Balder, Baldor, Bal-Dor, Bellador, Baldur, indogerm Bhaltos, ist eine jugendliche Gottheit, der Leuchtende, Lichtverbreitende. Man denkt an das Zwielicht (der Gott wird manchmal zur Hälfte hell und zur Hälfte dunkel dargestellt), das erste Aufleuchten des Tages, die Morgenröte der Sonne. Seine Erscheinung erfüllt jeden mit Glück. Auf übernatürliche Weise ist er vor dem Tod geschützt. Er erinnert an den keltischen Lugh und an Bel, Bal.

Ich halte Pulaz für die junge Version des Donaz. Sein Name Baldor deutet ebenso auf Dor, Thor; wie auch die Tatsache, daß sowohl Pulaz als auch Donaz die Söhne von Watanaz sind und somit Brüder und verschiedene Sonnentages-Aspekte des Nachtvaters. So wie der Tag auf die Nacht folgt, so wächst Balder aus Wodan und wird dann zum reifen Donar.

Der Name Pulaz/Phol deutet im Sinne seiner Jugendlichkeit auf ein Fohlen und auf Phal(lus), also auf Fruchtbarkeit. Die Pflanzen Kamille (baldrsbra) und Baldrian sind nach ihm benannt.

Foraz

Wahrscheinlich war Foraz oder Foseti eine weitere Form von Tius, der Tius Thingsus, da das althochdeutsche forasizo den Vorsizenden meint, eine passende Benennung für den Gott, der in früher Zeit die Thing-Verhandlungen führte, die Rechtsversammlungen des Stammes.

Als der heilige Willibord sich in der Zeit um 700 n. Chr. auf einer Missionsreise befand, kam er im Norden zu einer Insel, die nach dem Gott Fosite/Foseti von den Bewohnern Fositesland genannt wurde. Auf ihr waren Heiligtümer erbaut worden. Die Heiden betrachteten diesen Ort mit so großer Verehrung, daß keiner die dort weidenden Viehherden berührte oder von den sprudelnden Quellen zu schöpfen wagte.

Ein anderer Geistlicher namens Liudger besuchte die Insel etwa im Jahre 785. Als er ihr vom Schiff aus nahe war, sah er nach seinen eigenen Angaben einen dichten schwarzen Nebel von der Insel abziehen, was immer das auch für den Christen bedeutet haben mag. Er zerstörte die Tempel des Fosete und taufte die Bewohner in der Quelle, von der bisher niemand Wasser geholt hatte. Die Insel erhielt den Namen helegland, Helgoland, nach dem dunklen Reich der Göttin Hel.

Hel oder Holle wird uns später noch einmal begegnen.

Das Eiland erscheint immer noch wie das heilige Vorbild der ehemaligen Thing-Stätte, vom Meer umspült, ohne Ausweg oder Fluchtmöglichkeit. Der Gott, der hier das Volksrecht spricht, heißt (Tius) Thing (sus) oder Foseti/Foraz. Thing ist das Gesetz im eigentlichen Sinne, während der personifizierte Gott immer den ehrenamtlichen Vorsitz als Foseti innehatte. Sein Urteil verkünden die Gesetzessprecher, die Asegen. Die Asegen hüten das Recht, sind Diener, Vollstrecker und Priester. Möglicherweise war Helgoland der Richtplatz für alle bedeutenden Angelegenheiten der Ingaevonen und die Urteile wurden, wenn sie schwer waren, hier sofort vollstreckt.

Dann hätten die beiden Heiligtümer der Ingaevonen, Helgoland als Richtstätte und Seeland als Mysterienstätte, eine geteilte Funktion, und es wäre eine plausible Erklärung gefunden, da die Experten über das Zentralheiligtum zerstritten sind.

Fortsetzung im zweiten Teil: Deutsche Mythologie: Die Göttinnen der Südgermanen

Eire Rautenberg