Reife Kontinuum: Charakterentwicklung des Menschen

Wenn man sich fragt, wie sich Menschen in persönlicher oder sozialer Hinsicht entwickeln, helfen oft Beobachtungen und Modelle aus der Praxis weiter. Im Folgenden will ich Ihnen eine Idee von Stephen R. Covey vorstellen, die er „Reife-Kontinuum“ nennt. Sie erlaubt anhand von drei Differenzen einen ersten Einblick in das Entwicklungsstadium / Charakterentwicklung einer Person oder Gruppe zu bekommen.

Covey entwickelte seine Ideen als Berater von Unternehmen, Teams, Managern und Politikern. Das Ziel seiner Arbeit war für ihn aber nicht, aus Menschen nur möglichst fügsame oder funktionierende Rädchen in einer Maschine zu machen.

Er wollte Menschen vielmehr helfen ihr Potential zu entwickeln, einen eigenen Sinn und Zweck im Leben und Arbeiten zu entdecken und aus Fehlern konstruktiv zu lernen. Denn ein Unternehmen kann sich aus Coveys Sicht nur dann gesund entwickeln, innovativ sein oder seine Möglichkeiten ausschöpfen, wenn es auch die Menschen können, die es aufbauen und gestalten.

Angemerkt sein noch, dass ich Coveys Grundidee anhand eigener Erfahrungen in diesem Artikel noch etwas erweitert und modifiziert habe. Das Original können Sie in seinem Buch "Die 7 Wege zur Effektivität" nachlesen.

1. Abhängigkeit (Dependenz)

Betrachtet man die natürliche Entwicklung von Menschen, so beginnen wir unser Leben als Säuglinge zuerst in völliger Abhängigkeit. Im Laufe der Jahre entdecken wir, dass wir selbst unterschiedliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln können, die unsere Abhängigkeit verringern. Bei genauerem Hinsehen können wir viele unterschiedliche Ebenen (z. B. körperlich, geistig, emotional, spirituell, finanziell usw.) der Abhängigkeit entdecken.

Solange jedoch nur andere unsere Probleme auf einer bestimmten Ebene lösen, bleibt unsere "Erlebniswelt" "Du-bezogen". "Du-bezogen" in dem Sinne, dass Andere die Verantwortung für unser Erleben der Welt tragen – das mächtige "Du" entscheidet, wohin die Reise geht.

Meist beginnt im Teenageralter der Drang nach mehr Unabhängigkeit und Selbständigkeit zu wachsen. Die meisten Menschen komplettieren in dieser Zeit ihren Werkzeugkasten an Problemlösungsstrategien zumindest soweit, dass sie alleine überlebensfähig sind. Allerdings ist es sehr unterschiedlich auf wie vielen Ebenen wir unabhängig werden. Manche legen sich nur ein Minimalset zu, während andere sich auf vielen Ebenen emanzipieren.

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Insofern ist es Unsinn zu fragen, ob ein "Mensch" als Ganzes abhängig oder unabhängig ist, denn jeder von uns hat offensichtlich genug Problemlösungsstrategien zum Überleben entwickelt. Interessant ist, im Detail zu fragen, ob eine Person bezüglich eines bestimmten Themas – z. B. finanziell, emotional, in seiner Meinung oder Entscheidungsfindung usw. – sich als abhängig oder unabhängig darstellt.

Da es in unserer funktional-differenzierten – und damit hoch-komplexen – Gesellschaft nahezu unmöglich ist, in allen Bereichen unabhängig zu sein, stehen wir vor der Wahl, in welchen Bereichen wir Passagier bleiben bzw. in welchen wir Pilot werden wollen.

Ein typisches Indiz für die Haltung eines "Abhängigen" in der Kommunikation ist, dass man sich selbst als "Opfer der Umstände" sieht. Man übernimmt nicht die Verantwortung für die Konsequenzen eigener Handlungen und Entscheidungen. Bei Fehlschlägen schiebt man gerne mit einem "Du bist schuld!" Anderen den schwarzen Peter zu.

Abhängige übernehmen die passive Rolle von Mitläufern, Helfern, Untergebenen, Sympathisanten oder Konsumenten und überlassen anderen die Gestaltung der Welt. Positiv gesehen, bildet diese Gruppe (als Helfer oder Mitarbeiter) die große Basis der Pyramide, auf der viele Leistungen der Geschichte beruhen.

2. Unabhängigkeit (Independenz)

Sobald wir in einem Bereich kompetent werden, genügend Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, haben wir die Möglichkeit uns zu emanzipieren – unabhängig zu werden. Wir können die Ergebnisse selbst willentlich erzeugen und kontrollieren und übernehmen die Verantwortung als "Macher".

Für Covey geht dieses Stadium mit einer gesteigerten "Ich-Bezogenheit" einher – wir schreiben uns selbst die Konsequenzen unserer Entscheidungen und Handlungen zu. Unser gesteigertes Selbstbewusstsein drückt sich in der Kommunikation in Sätzen wie: Ich kann das – Ich bin verantwortlich – selbständig – kompetent – kenne mich aus – habe die Kontrolle – habe recht usw. – aus.

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Diese ersten beiden Stufen bilden die Basis jeder Hierarchie. Die Abhängigen befinden sich unten, während sich die Macher – als Führer, Chef oder Meinungsführer – oben auf der Leiter ansiedeln. Im Optimalfall entwickelt sich eine harmonische Zusammenarbeit zwischen den Unabhängigen und Abhängigen, da jeder Macher auch Unterstützer, Helfer, Untergebene oder Kunden etc. braucht, um seine Ideen zu realisieren.

Die Schattenseite dieser machtorientierten Struktur ist, dass andere kompetente Personen oftmals als Gefahr und nicht als wertvolle Partner angesehen werden. Kompetenz wird leicht als Konkurrenz und nicht als Ressource betrachtet. Daher neigen übermäßig Ich-bezogene-Menschen zur Rechthaberei, zum Narzissmus oder üben sich in Statuskämpfen, um ihren Platz in der Hierarchie zu verteidigen.

Die hohe Kunst dieser Stufe könnte man mit Augustus Worten: "Ich bin der erste Bürger, weil ich meinem Volk diene" ausdrücken. Man wird zum Stellvertreter einer Idee, weil man fähig und verantwortungsbewusst genug ist, zu realisieren, was andere sich "nur" wünschen.

3. Synergie (Interdependenz)

Unter Synergie verstehe ich in diesem Kontext das Zusammenwirken von Menschen, um sich gegenseitig zu fördern und einen gemeinsamen Nutzen anzustreben. Dies beruht auf der Erkenntnis, dass wir Menschen alle in unserem Dasein aufeinander eingestellt und angewiesen sind. Wir erkennen unsere wechselseitige Abhängigkeit voneinander (Interdependenz) und beginnen sie als Ressource zu nutzen.

Covey beschreibt diese Stufe als eine "Wir-Bezogenheit" im Sinne von "Wir schaffen das – Wir kooperieren – Gemeinsam sind wir stark – Unsere gemeinsamen Talente sind größer als die Summe der Einzelteile. Das Paradigma der Gruppenintelligenz ersetzt das Wissen und die Führungskompetenz des Einzelnen.

Im Optimalfall bildet sich eine Synergie unter kompetenten, gleichwertigen und bereits unabhängigen Partnern aus, die sich auf ein Ziel geeinigt haben und dieses aktiv und kreativ anstreben. Es geht nicht mehr darum, wer eine Problemlösung liefert, sondern darum, wie gut sie ist.

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Zweifel, kompetente Personen, Änderungen von Paradigmen (z. B. neues Wissen), Kritiker sind keine Bedrohung mehr, von dem sich das System abschotten muss. Sie werden eher umgekehrt zum wertvollen Input, an denen sich die Qualität einer Problemlösung messen lässt.

Die Basis dieser Stufe ist die Fähigkeit zur verständigungsorientierten Kommunikation unter den Beteiligten, was Covey mit den Worten "Erst verstehen, dann verstanden werden." ausdrückt. Nur wenn wir miteinander (statt gegeneinander) reden, aufeinander hören (statt Andere zu ignorieren) und füreinander (statt gegeneinander) handeln, kann eine konstruktive Streitkultur entstehen, die ein echtes Team ausmacht. Erst durch dieses partnerschaftliche Verhalten entfällt die Notwendigkeit einer Hierarchie und kann durch einen "Austausch unter Gleichen" ersetzt werden.

Im Team gibt es einen fließenden Wechsel zwischen führen und geführt werden, d. h. man braucht in seinem Wissensgebiet einerseits die Fähigkeit zu führen, während man sich umgekehrt bei Themen führen lässt, bei denen man selbst weniger kompetent ist. Oder anders – ein Teammitglied muss die Fähigkeit haben, je nach seinen Stärken und Schwächen, die Rollen zu wechseln.

Diese Fähigkeit zur konstruktiven Streitkultur ist sowohl die größte Stärke, als auch die größte Schwäche eines Teams. Denn eine gemeinsame Willensbildung kann schon von einem destruktiven Teilnehmer torpediert und vereitelt werden. Daher muss auch ein Team nach eigenen Wertmaßstäben Grenzen ziehen und erkennen, welches Verhalten destruktiv wirkt und es wirksam verhindern oder sanktionieren können.

Der große Vorteil eines funktionierenden Teams ist, dass es eine wesentlich höhere Komplexitätsverarbeitung leisten oder auch Lösungen in komplexen Problemstellungen finden kann, die für einen Einzelnen kaum oder gar nicht machbar wären. Die Motivation ein Ziel zu erreichen ist größer, als die eines einzelnen "Machers", da sie von vielen Personen getragen wird.

Anwendung des "Reife Kontinuums" in der Praxis

Meiner Einschätzung nach, ist in der Praxis die Kooperation der ersten beiden Stufen am häufigsten, d. h. die Zusammenarbeit basiert auf einer Hierarchie. Sie wird entweder von einer deontischen Autorität (Macht mittels Amt / Rang / Titel) oder einer epistemischen Autorität (Macht durch Vorbild / Wissen) geführt.

Hierarchien sind darauf angewiesen, dass alle Beteiligten die Rollen der vorgegebenen Machtverteilung akzeptieren, d. h. die Basis die Weisungen von Oben möglichst widerspruchslos annimmt und ausführt. Sie sind besonders dann effektiv, wenn es um das schnelle Abarbeiten von bekannten Problemlösungen oder Routinen geht, bei der die Aufgabenteilung greift. Somit kann auch alles, was nicht in Routinen überführt werden kann – wie neue Aufgaben, unflexible Mitarbeiter, inkompetente Führungskräfte oder unbekannte Problemstellungen etc. – schnell zum Sand im Getriebe werden.

Da Hierarchien von Ich-bezogenen Menschen geführt werden, muss man auch mit deren Schattenseiten leben. Als unschöne Beispiele kann man Dinge wie: Statuskämpfe, Vetternwirtschaft, Mobbing, Narzissmus, Intoleranz, Unterdrückung von Andersdenkenden usw. aufzählen, wobei sich die Liste beliebig verlängern ließe.

Geht die "Wir-Perspektive" verloren, braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Politik Einzelinteressen von Lobbys über das Gemeinwohl stellt. Wenn Firmen aus Profitgier Menschen oder Ressourcen ausbeuten oder die Umwelt vergiften und keine Verantwortung für negative Konsequenzen tragen müssen. Religionen sich bekriegen, weil sie alle einen alleinigen Wahrheitsanspruch für sich erheben.

Charakterreife Wir-Paradigma

Eine "Wir-Perspektive" kann man nicht verordnen, sie muss aus der persönlichen Reife der Beteiligten entspringen. Jeder hat die Wahl, ob er seine Beziehung als Patriarch oder als Teamspieler – im Sinne gleichberechtigter Partnerschaft – führt. Immerhin halten im Berufsleben Teams langsam Einzug – speziell dort, wo kreative oder flexible Problemlösungen gefragt sind.

Aller Anfang ist die Selbstreflexion und Entwicklungsbereitschaft des Einzelnen. Teams können in Beziehungen, Gruppen oder Arbeitsgemeinschaften nur dann entstehen, wenn die Beteiligten "teamfähig" sind, d. h. von den Vorteilen des Wir-Paradigmas überzeugt sind und demgemäß handeln.

Wenn Sie dieser Artikel dazu angeregt hat, über diese Perspektiven einmal nachzudenken, würde ich mich darüber freuen. Denn viel aktuelle Probleme könnten meiner Meinung nach mit der Synergie der Wir-Perspektive verhindert oder gelöst werden.

Tony Kühn