Maturana: Wie lebendige Systeme ihre Wirklichkeit konstruieren

Um im Weiteren über lebendige Systeme und ihre Funktionen und Fähigkeiten überhaupt sprechen zu können, ist es wichtig, die notwendigen Bestandteile ihrer Organisation und Struktur zu charakterisieren, um sie von anderen Phänomenen abgrenzen zu können.

Maturana verwendet hier eine streng empirische und materialistische (physikalische) Sichtweise, die er als Grundlage für seine Beschreibungen heranzieht.

Einheit biologischer Systeme

Maturana Systemtheorie System UmweltZunächst grenzt Maturana sein Untersuchungsobjekt durch den Begriff der Einheit ein. Eine Einheit kann hierbei jede begriffliche oder konkrete Entität sein, die durch die Angabe von hinreichend vielen konstitutiven Eigenschaften ihrer Organisation beschrieben werden muß, um sich so von ihrer Umgebung abgrenzen lassen.

Sie kann mit diesen konstitutiven Eigenschaften in der weiteren Untersuchung noch als unanalysiertes Ganzes behandelt werden. Dies setzt sowohl die Idee der Existenz einer bestimmte Einheit, als auch einer davon verschiedenen Umgebung (z. B. den physikalischen Raum) voraus.

Organisation und Struktur lebendiger Systeme

Jede Einheit weist eine bestimmte Organisation auf, die Relationen zwischen den Bestandteilen dieser Einheit bezeichnet und somit die funktionale Rolle der Bestandteile bei der Konstitution der Einheit angibt. Diese Beschreibung kann so allgemein sein, daß ihr Objekt z.B. alle Menschen sein könnten.

Eine Struktur würde im Gegensatz dazu die konkret gegebenen Bestandteile und Relationen, welche eine bestimmte Einheit konstituieren würden (z. B. eines bestimmten Menschen), angeben. Die Struktur bezieht sich somit ebenso auf den Prozeß der Konstruktion, wie auf die Bestandteile des Konstruktes.

Untersuchung des Nervensystems

Wir können nun anhand des Einheits- und Organisations- bzw. Strukturbegriffes in unserer Untersuchung voranschreiten und uns Nervensysteme genauer betrachten.

Zunächst stellt Maturana anhand von mehreren Versuchsreihen fest, daß es sich beim Nervensystem um ein geschlossenes System handelt d.h. sämtliche Vorgänge von „nervöser Aktivität“ der Neuronen lassen sich nur durch interne Relationen bestimmen. Man kann selbst im Bereich der Sensoren, die von anderen Autoren als Inputs angesehen werden, nicht eindeutig feststellen, daß ihre Erregung vom Milieu aus eindeutig bestimmbar ist.

Maturana Nervensystem ErkenntnisFestzustellen ist lediglich, das Erregungen im Bereich der Sensoren Zustandsveränderungen im Nervensystem hervorrufen, diese jedoch von den gegenwärtig vorhandenen Relationen abhängig sind und wiederum andere gegebene interne Relationen im Nervensystem beeinflussen.

Wie ein Nervensystem nun auf einen bestimmten Reiz reagiert, ist somit nur abhängig von seiner eigenen momentan vorhandenen Struktur, auf welche es reagiert, und nicht auf ein vom System unabhängiges Agens.

Solange ein System lediglich auf interne Zustandsveränderungen reagiert, zumindest solange diese Deformationen nicht zum Tod oder seiner Auflösung führen, sprechen wir von einem zustandsdeterminierten System.

Eine weitere konstitutive Eigenschaft des Nervensystems (sowie aller anderen lebendigen Systeme) ist ihre Fähigkeit sich selbst erschaffen und erhalten zu können. Ihre Organisation ist so beschaffen, daß sie aus ihrem Milieu alle Bestandteile, die zu ihrem Aufbau und Erhalt nötig sind durch ihren Stoffwechsel selbständig einbauen, erzeugen oder verwerten. Sie erschaffen somit nicht nur alle internen Bestandteile, sondern auch ihre sinnlich wahrnehmbare Grenze, die sie von dem übrigen physikalischen Raum abtrennt.

Systeme mit derartigen Fähigkeiten werden autopoietische (griech. autos = selbst, poein = machen) Systeme genannt. Autopoietische Systeme leben nur in der Gegenwart und reagieren durch interne Relationen auf Zustandsveränderungen ihres Milieus. Sie haben eine begrenzte Fähigkeit sich verändernden Umweltbedingungen (Deformationen) anzupassen, welche zu internen Strukturveränderungen führen, wobei das System bestrebt bleibt, seinen autopoietischen Charakter aufrechtzuerhalten.

Der Bereich aller möglichen Interaktionen, die ein System durchlaufen kann ohne sich aufzulösen, wird seinen Interaktionsbereich oder Nische genannt. Anpassungen können von ihm nur kontinuierlich und nicht plötzlich vorgenommen werden. Im Prozeß des „Anpassens“ an sich verändernde Milieubedingungen reagiert das autopoietische System insofern konservativ, als es versucht durch interne Regulierungen einen Zustand wiederherzustellen, mit dem es vorher überlebt hat.

Systemtheorie MaturanaMan könnte es mit einem Piloten vergleichen, der im Blindflug nur seine Instrumente und deren Werte betrachten und stets versucht die zum Überleben notwendigen Relationen aufrecht zu erhalten, allerdings ohne eine konkrete Ahnung von den Umgebungsbedingungen (Wetter, Wind etc.) zu haben.

Bei seinen Untersuchungen konnte Maturana nicht feststellen, daß ein Nervensystem Repräsentationen seiner Umgebung erzeugt, diese schreibt er dem Beobachter zu, welchen er als Epiphänomen des Nervensystems ansieht und abtrennt.

Man könnte bei Nervensystem, aufgrund der Anpassungsleistungen die es intern aufgrund von Interaktionen in seinem Medium realisiert hat, auf die Idee kommen vom Erwerb neuer Fähigkeiten sprechen. Dies erscheint jedoch lediglich einem Beobachter so, da er die Zeitdimension (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) miteinbezieht, während für das System (und sein Überleben) lediglich die Gegenwart interessant ist, in der es versucht sich selbst mit seinen Möglichkeiten stabil zu halten.

Fakt ist jedoch, daß es durch eine kontinuierliche Veränderung seiner eigenen inneren Struktur überleben in unterschiedlichen Interaktionsbereichen langsam synthetisieren kann, und somit (über Jahre oder Generationen) die Größe seiner Nische verkleinert bzw. vergrößert. Darüber hinaus ist der Gedanke der Identität eines Systems interessant, da es sich in seiner Organisation nie so verändert, daß diese durch die strukturellen Anpassungsleistungen in Mitleidenschaft gezogen würde.

Diese Feststellungen sind der Ausgang für weitere Überlegungen des Autors auch andere Bereiche wie Ethik, Metaphysik etc. neu zu thematisieren bzw. sie aus einem anderen (biologischen) Blickwinkel zu beleuchten. Doch dazu später mehr.

Der Beobachter

Allgemeines zum Beobachter

In diesen biologischen Untersuchungen kam bereits die Idee des Beobachters zur Sprache ohne näher ausgeführt zu werden, da sein Interaktionsbereich ein anderer als der des Nervensystems ist. Da wir als Menschen mehr oder weniger immer in der Beobachterperspektive denken oder sprechen, werden wir uns nun der Frage zuwenden: „Was ist der Beobachter?“

Maturana definiert den Beobachter als ein menschliches Lebewesen, eine Person, die Unterscheidungen machen und präzise angeben kann, was er als eine von sich selbst verschiedene Entität betrachtet. Er begreift somit sich selbst und die Umwelt als zwei scheinbar voneinander getrennte Systeme, die miteinander interagieren können. Er kann überdies mit seinen eigenen Handlungen und Gedanken in rekursiver Weise agieren und ist stets imstande, all dies so zu tun, als ob er außerhalb der gegebenen Situation stünde. Alle konkreten und begrifflichen Unterscheidungen mit denen wir umgehen, sind vom Beobachter getroffen worden.

(Ich) Bewußtsein

Beobachter In diesen Ausführungen steckt bereits implizit eine weitere Idee, nämlich die des (Ich)- Bewußtseins des Beobachters. Der Autor beschreibt dieses Ichbewußtsein als ein Epiphänomen (Begleiterscheinung) des Nervensystems, welches er vollständig im sprachlichen Bereich ansiedelt.

Der Beobachter beherrscht das Paradox der sprachlichen Selbstbeschreibung (= Ichbewußtsein) d. h. er kann einen „Interaktionsbereich“ erzeugen, der einen konsensuellen Bereich (-> siehe Sprache im folgenden) mit sich selbst darstellt. Maturana definiert weiter, daß sowohl der gesamte sprachliche Bereich, als auch das Ichbewußtsein im Prinzip vom neurologischen System unabhängig sind.

Das Ichbewußtsein ergibt sich aus der Existenz in einem sprachlichen Bereich, aus dem spezifischen Verhalten von Organismen, die Sprache besitzen und daher prinzipiell der Selbstbeschreibung fähig sind.

In diesem Kontext kommen wir nun zum Phänomen der Sprache, die untrennbar mit der Idee des Beobachters und dem Ichbewußtsein verknüpft scheint. Der Autor versteht unter Sprache gelernte Orientierungsinteraktionen, die eine Funktion nichtsprachlichen Ursprungs enthalten (?), welche unter dem Selektionsdruck zur rekursiven Anwendung im Zuge der Evolution das System kooperativer konsensueller Interaktionen erzeugen kann. Dies scheint soweit einleuchtend, da es mit den gewöhnlichen Beobachtungen vom Sprachgebrauch zunächst korrespondiert.

Maturana geht mit seinen Überlegungen jedoch weiter und behauptet, daß Sprache im Gegensatz zum üblichen Verständnis nicht denotativ, sondern konnotativ ist. Das würde bedeuten, daß es durch sprachlichen Interaktionen keine Informationenübertragung über das Medium der Sprache gibt. Dies scheint zunächst absurd und muß von daher eingehender begründet werden.

Sprache bei Maturana

Gehen wir zunächst bei der Übertragung von Sprache davon aus, daß diese von einem Sprecher auf einen Zuhörenden in der Weise übertragen wird, das die Schallwellen (kodierte Information) auf die Ohren (Sensoren) des Zuhörenden treffen, d.h. das Nervensystem des Zuhörenden die intendierte Information bearbeiten oder entschlüsseln muß.

Wie wir bereits festgestellt hatten, ist das Nervensystem eines autopoietischen Systems ein sowohl geschlossenes, als auch ein strukturdeterminiertes System d.h. es interpretiert sensorische Reize innerhalb des eigenen Systems durch seine eigene Struktur. Diese intern gebildeten Relationen entscheiden aber nun letztendlich darüber, was beim Zuhörenden ankommt bzw. was er wahrnimmt.

Der Hörer erzeugt somit Information dadurch, daß er seine Ungewißheit durch seine Interaktionen in seinem kognitiven Bereich reduziert (Beispiel: Kleinkind das sprechen lernt) und nicht durch eine 1:1 Übertragung von Information wie im Beispiel eines Senders und Empfängers.

Dies verleitet zur Schlußfolgerung, das Beobachter zwar orientierbar aber nicht instruierbar ist, d.h. sie entscheiden selbst ob und wie sie Orientierungsinteraktionen verarbeitet oder nicht. Mit dieser Idee erklärt Maturana das Phänomen von Mißverständnissen zwischen kommunizierenden Menschen. Trotz all dieser Schwierigkeiten beherrschen doch Menschen Sprache und dies zumindest scheinbar so, als ob zwischen ihnen Botschaften ausgetauscht werden könnten.

Das fehlende Glied in dieser Kette ist der gemeinsam im Kampf um gegenseitige Orientierung und Kooperation errungene konsensuelle Bereich. Dieser kann nur durch rekursive Anwendung von Sprache durch Sprache und durch die Bildung von eigenen dazugehörigen Repräsentationen erfolgen, die durch die damit wiederum rekurrent verbundenen Interaktionen solange korrigiert werden, bis sie innerhalb eines konsensuellen Bereichs der Sprachgemeinschaft landen. -> Nein, daß ist nicht Papa, das ist der Tisch…Nein, das ist nicht Papa, sondern unser Hund etc. …

Sprache ist somit notwendig generativ, da sie sich aus der rekursiven Anwendung der gleichen Operation auf die Resultate dieser Anwendung ergibt.

Lernen bei Maturana

Systemtheorie Maturana Um nun irgendwann etwas – wie Zeichen oder Sprache – aus den wohlgemeinten Lautäußerungen einer Mutter (Duziduzi …) zu generieren, ist es notwendig zu lernen.

Lernen besteht nach der Ansicht Maturanas, im Bereich der Transformation des Verhaltens eines Organismus, die direkt oder indirekt der Erhaltung der basalen Zirkularität (Überleben) dienen. Jede Verhaltensweise stellt eine Grundlage dar, auf der sich eine neue Verhaltensgewohnheit entwickeln kann.

In anderen Worten braucht jede neue Verhaltensgewohnheit eine schon vorhandene hinreichend ähnliche Grundlage, die erweiterbar ist, da ansonsten trivialerweise nichts gelernt werden kann.

Dem Beobachter erscheint eine gelernte Verhaltensweise dann gerechtfertigt, wenn er erfolgreich überlebt hat und er kann sie sodann in Zukunft wieder aktualisieren. Dies bedeutet auch, daß der Beobachter erst im nachhinein feststellt, ob sein so hart erarbeitetes neues Verhalten erfolgreich war oder nicht.

Lernen können wir jedoch nur das, was auf irgendeiner Art in unserem kognitiven Bereich vorhanden ist. In anderen Worten meint Maturana, daß wir nichts über das aussagen können, was von uns unabhängig ist und womit wir nicht interagieren können. Dies leitet einen weiteren Übergang ein, nämlich zu der Frage: „Was ist der Gegenstand unserer Erkenntnis (oder unseren möglichen Erkenntnis)?“ und die Frage: „Wie aus dieser Perspektive Realität beschaffen sein müßte?“

Maturana und Realität

Aus den bereits aufgeführten Betrachtungen Maturanas ergibt sich nun ein sozusagen biologisch-metaphysisches Weltbild. Da wir nur über diejenige Entität etwas aussagen können, mit der wir interagieren können, ergibt sich für unsere Realität die Konsequenz, daß sie lediglich der Bereich der Gegenstände sein kann, ein Bereich, der durch die Operationen des Beobachters bestimmt wird.

Somit wäre Realität subjektiv und keine von unserem Denken unabhängige Art des Seins. Der physikalische Raum wäre demnach einfach der Raum, in dem lebendige Systeme existieren. Er bestimmt einerseits die operationalen Grenzen unseres kognitiven Bereichs und ist andererseits für die Erscheinungswelt lebendiger Systeme konstitutiv. Damit ist der Beobachter – quasi wie aus dem Paradies von der Welt ausgeschlossen – ein Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit.

Wissen nach Maturana

Unterscheidet Maturana in subjektives und objektives Wissen. Aus den Überlegungen zur Frage der Realität ergibt sich nun, daß es hier eines „absoluten Beobachters“ bedürfte – eines Beobachters der alles Erfahren hätte – um nicht nur einen Ausschnitt des Universums, sondern dieses als Ganzes erfahren und beschreiben zu können. Da der Autor einen solchen nicht kennt, folgert er, daß es somit auch kein objektives Wissen gibt.

Subjektives Wissen hingegen hieße einfach fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat zu operieren.

Ethikbegriff nach Maturana

Hier eine kleine Sammlung von ethischen Implikationen und Ableitungen, die Maturana aus seinen biologischen Beobachtungen gewinnt.

  • Hierarchie entspricht keiner biologischen Beobachtung, die aus der Organisation als Nervensysteme abgeleitet werden kann und darf somit auch nicht in sozialen Systemen vorkommen, d.h. ist verboten.
  • Respekt und Vertrauen sind biologische Bedürfnisse, die konstitutiv für die menschliche Situation sind und daher befriedigt werden dürfen.
  • Es gibt keinen Gegenstand unserer Erkenntnis.
  • Ethik und Moral entstehen als Kommentare der Selbstbeobachtung des Menschen.
  • Jede Wahrheit ist subjektiv vom erfahrenden durch seine persönliche Erfahrung bedingt.

Soweit die grobe Skizze von Humberto Maturanas Buch „Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit – Lebendige, biologische Systeme“. Man kann seine Erkenntnisse über das Nervensystem – und damit über die Erkennntnisfähigkeit des Menschen überhaupt – als bahnbrechend bezeichnen. Damit werden einige der wichtigsten Voraussetzungen des ontologischen Denkens – und damit der bisherigen Erkenntnistheorie in Frage gestellt.

Tony Kühn