Götter und Seyn – Interpretation der Beiträge zur Philosophie von M. Heidegger

Im letzten Teil der „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ (1935 – 38) finden sich einige zentrale Aussagen zum Seyn, welche die Überlegungen der vorangegangenen Teile noch einmal schärfer – sozusagen wie den Brennpunkt mit der Lupe – fassen und verdichten.

Die zentrale Figur, die das zum Verständnis des Seyns bei Heidegger nötigen Phänomene zusammenstellt und in Beziehung zueinander setzt, findet sich auf Seite 476 (Verlag Vittorio Klostermann, Gesamtausgabe Bd. 65):

„Das Seyn west als das Zwischen für den Gott und den Menschen, aber so, daß dieser Zwischenraum erst dem Gott und dem Menschen die Wesensmöglichkeit einräumt, ein Zwischen, das seine Ufer überbrandet und aus der Brandung erst als Ufer erstehen läßt, immer zugehörig dem Strom des Er-eignisses, immer verborgen im Reichtum ihrer Möglichkeiten, immer das Herüber und Hinüber der unerschöpflichen Bezüge, in deren Lichtung Welten sich fügen und versinken, Erden sich erschließen und die Zerstörung dulden.“

Auf Seite 310 ist diese Figur schematisch dargestellt:

Heidegger Einführung Philosophie

Daraus ergibt sich natürlich die Frage, was die einzelnen Elemente bedeuten. Ich werde im folgenden versuchen, das deutlich zu machen. Soweit wie möglich werde ich dabei eigene Worte verwenden, aber dabei den Heideggerischen Text nicht aus den Augen verlieren:

1. Der Mensch ist hier derjenige, der die Wahrheit des Seyns ins Seiende birgt – im Dichten (Kunst) und Denken (Philosophie), in Tat (z.B. Schaffen von Lebensformen/Gesellschaftsgründungen) und Opfer (Krieg).

2. Die Götter sind die reinen Möglichkeiten – dasjenige, was damit auch ein Geheimnis bleibt, Winke gibt und niemals vollständig zu erfassen ist. In der Parmenides-Vorlesung nennt Heidegger die Götter „die Ungeheuren, die ins Geheure hineinblicken“, wobei er sich dafür auf den griechischen Begriff für Gott thea bezieht, der sich von „Blick“ und „blicken“ herleitet. Durch dieses Blicken in die Welt erinnern sie den Menschen an die Fülle der Möglichkeiten und zeigen, das außerhalb seiner gerade eingerichteten Welt noch mehr und anderes möglich bleibt. Sie sind für den Menschen die ganz Fremden, mit denen allerdings eine Begegnung stattfinden kann. Insofern handelt es sich bei den Göttern nicht um Abstraktionen. Eher dürften wir hier von Mächten reden. Ich denke, daß Heidegger dabei auch von den Büchern des Altphilologen und Religionswissenschaftlers Walter F. Otto über die griechische Religion beeinflußt war, die er an anderer Stelle positiv erwähnt. Ottos These war, das am Anfang jeder menschlichen Schöpfung das übermächtige Erlebnis eines Gottes stand, das den Menschen so erschütterte, daß er mit bestimmten Riten und Lebensformen diesem Erlebnis eine dauerhafte Realität verleihen wollte. Um es kurz zu sagen: Er antwortete auf den Gott mit Kultur.

3. Diese Figur findet sich nun ebenfalls bei Heidegger, wenn er z.B. in der „Besinnung“ davon spricht, daß der „Gott die Welt überschattet“. Welt aber stellt jenes dar, worin ein Mensch geworfen ist und daß er als der Geworfene selbst miterschafft – worin er also zum Entwerfer wird. Welt bedeutet den Gesamtbezug, in den ein Mensch hineingestellt ist, sein Mit-sein mit Anderen, das, was er an faktischen Möglichkeiten vorfindet (Lebensweisen, kultureller Rahmen). Das in dem Wort „Welt“ für Heidegger wesentlich ein Moment des Erschaffens anklingt, läßt sich schon daran erkennen, daß Heidegger den Menschen als weltbildend, das Tier als weltarm und den Stein als weltlos bezeichnet. Denn nur der Mensch bildet, erschafft, entwirft eine an Bezügen reiche Welt. Die Winke des Gottes wiederum rufen den Menschen auf, diese Welt auf ein höheres Niveau (in Bezug auf Tiefe und Komplexität) zu heben – sich nicht im einmal Entworfenem auszuruhen, sondern immer wieder zu übertreffen.

4. Erde aber ist das, was wir als Umwelt oder Natur bezeichnen: Pflanze, Tier, Stein.

Das Seyn bildet nun den „Grund und Boden“ für die wechselseitigen Bezüge von Mensch und Gott, von Welt und Erde. Diese Bezüge bezeichnet Heidegger als Ent-gegnung zwischen Mensch und Gott und als Streit oder Erstreitung von Welt und Erde. Für die Charakterisierung des Gesamtzusammenhanges benutzt er an einer anderen Stelle auch das schöne Hölderlin-Wort vom „geflügelten Krieg“.

Im Seyn läßt sich eine Art „Bühne“ sehen, auf der dieser Streit und diese Entgegnung stattfinden kann. Diese „Bühne“ aber bleibt im Hintergrund, ja sie entzieht sich, um den Genannten die Möglichkeit zu geben, in ihrem Wesen zum Vorschein zu kommen. Das Seyn ist die Lichtung, die etwas als etwas zum Vorschein bringt. Aber damit es ganz als es selbst, ganz in seiner Einzigkeit und nur ihm eigenen Qualität und Bedeutsamkeit zum Vorschein kommen kann, ist das Seyn notwendig. Werden nun die Dinge als selbstverständlich, machbar und erklärbar genommen, werden sie also gewöhnlich und verwertbar, verschwindet diese Qualität, verschwindet das Licht, in dem eine Sache für sich einzig dastehen kann.

Am Anfang des ersten Weltkrieges wurde ein dazu passendes Wort geprägt: „Mit dem heutigen Tag gehen die Lichter in ganz Europa aus.“ Die schon vorher in einer langen Geschichte leer gewordenen Ideale und Werte gingen in diesem Krieg ihrer endgültigen Auszehrung entgegen. Die Qualität des in Schönheit und Einzigkeit für sich selbst aufgehenden Seienden entzog sich endgültig durch die technisierte Machbarkeit alles Seienden. Damit gingen auch die Sinnmöglichkeiten des menschlichen Daseins verloren. Das Seyn verließ die Dinge. Für Heidegger beginnt dieser Prozeß aber schon spätestens mit dem griechischen Denker Aristoteles, dessen Philosophie noch unser heutiges Denken in seinen Grundzügen stark prägt (Kategorien, zweiwertige Logik usw.).

Ich habe von Grund besprochen, was nur in Anführungszeichen geschehen konnte. Denn nicht umsonst spricht Heidegger vom Seyn als Abgrund. Da die Bezüge unerschöpflich sind, können sie nicht auf einem einmal fest gemachten Boden ruhen bleiben. Um der Qualität, dem Seyn als Ereignis offen zu bleiben, wird es notwendig, die Unerschöpflichkeit der Bezüge durch ein ständiges Wagnis zu erhalten, also seine bisherige Lebensweise immer wieder aufs Spiel zu setzen, den Sprung in den Abgrund zu riskieren und sein Leben dem ganz Fremden, den Möglichkeiten also, zur Verfügung zu halten. S. 470: „Die Er-eignung des Da-seins läßt dieses inständig werden im Ungewöhnlichen gegenüber jeglichem Seienden.“

So erscheint nun klarer, wieso Heidegger im Teil „Die Zukünftigen“ von diesen als den Untergehenden redet. Offenbar nutzt Heidegger hier eine Figur aus dem „Zarathustra“ von Nietzsche:

„Oh meine Brüder, wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert. Nun aber sind wir Erstlinge.
Wir bluten Alle an geheimen Opfertischen, wir brennen und braten Alle zu Ehren alter Götzenbilder.
Unser Bestes ist noch jung: das reizt alte Gaumen. Unser Fleisch ist zart, unser Fell ist nur ein Lamm-Fell: – wie sollten wir nicht alte Götzenpriester reizen!
In uns selber wohnt er noch, der alte Götzenpriester, der unser Bestes sich zum Schmause brät. Ach, meine Brüder, wie sollten Erstlinge nicht Opfer sein!
Aber so will es unsre Art; und ich liebe Die, welche sich nicht bewahren wollen. Die Untergehenden liebe ich mit meiner ganzen Liebe: denn sie gehn hinüber. -„
(Reclam-Ausgabe, S. 208, 6.)

Nietzsches Erstling opfert den christlichen Glauben und alle mit diesem Glauben zusammenhängenden moralischen Wertungen und Zielsetzungen. Analog dazu wird der Erstling (Zukünftige) bei Heidegger zu dem, der das gewöhnliche Seiende opfert und hinübergeht in etwas Fremdes und Neues, durch welchen Unter-gang,- der ein Sturz in den Abgrund ist -, er allein dem Seyn, dem Streit, der Entgegnung, der Gründung des Da-seins und dem Wink des Gottes entsprechen kann. Der Mensch legt seine Geborgenheit nicht mehr in Seiendes, sondern ins Ungeheure, Ungewöhnliche, Unheimliche und eben in das Seyn als Ereignis. Da der Mensch aber an seinen „alten Süßen“ hängt, kann dies nur ein Untergang sein. Der Mensch gibt sich auf, als der, der er gerade ist, um etwas zu werden, das er nicht kennt.

Wieso nun aber Möglichkeiten? Wieso nun Ereignis? Und was bedeutet Streit?

Auf Seite 475: „Im Seyn allein west als seine tiefste Klüftung das Mögliche, so daß in der Gestalt des Möglichen zuerst das Seyn gedacht werden muß im Denken des anderen Anfangs.“

D.h. das Seyn ist die Möglichkeit schlechthin, die Möglichkeit, daß Mögliches möglich ist. Die Götter aber sind die verschiedenen Möglichkeiten, die auch – wie in der Hölderlin-Interpretation des Gedichtes „Heimkunft“ – als Engel und damit für Heidegger als Boten auftreten können. Die Götter lassen sich also auch als die Boten des Seyns betrachten, während die Menschen als die Wächter des Seyns erscheinen, die im Seienden dessen Wahrheit (des Seyns) ins Werk setzen. Die Götter sind nun sozusagen spezifische Möglichkeiten, die aber eine besondere Beziehung zum Seyn als der Möglichkeit schlechthin besitzen. Das Seyn ist damit die Not der Götter.

Der Begriff Möglichkeit darf hierbei wieder nicht zu abstrakt gedacht werden. Es handelt sich um einen Reichtum, eine Fülle von Bezügen, von unaussprechlichen Schönheiten und Schrecknissen. Heidegger verwendet in den „Beiträgen“ häufig Denkfiguren und Haltungen, die an die mittelalterliche Mystik erinnern. Das Seyn ist letztlich mit dem identisch, was in den Religionen als das Heilige bezeichnet wurde.

Weiter heißt es: „Mögliches, und gar das Mögliche schlechthin, eröffnet sich nur dem Versuch. Der Versuch muß von einem vorgreifenden Willen durchwaltet sein. Der Wille als das Sichübersichhinaussetzen steht in einem Übersichhinaussein. Dieser Stand ist die ursprüngliche Einräumung des Zeit-Spiel-Raumes, in den das Seyn hineinragt: das Da-sein. Es west als Wagnis. Und nur im Wagnis reicht der Mensch in den Bereich der Ent-scheidung. Und nur im Wagnis vermag er zu wägen.“

D.h. daß der Mensch als das Da-sein, in welches das Seyn hineinragt, über sich selbst hinauswollen muß, um sich ent-scheiden zu können und einen Wesenswandel durchzuführen. Denn letztlich geht es um einen Wesenswandel des gesamten Menschen, den Heidegger geschichtlich sieht: S. 479 „Indem aber die Götter und der Mensch in der Not des Seyns zur Ent-gegnung kommen, wird der Mensch aus seiner bisherigen neuzeitlich abendländischen Stellung geworfen, hinter sich selbst zurückgestellt in völlig andere Bestimmungsräume, in denen die Tierheit sowenig wie die Vernünftigkeit eine wesentliche Stelle besetzen können, mag auch fernerhin die Feststellung dieser Eigenschaften am vorhandenen Menschen ihre Richtigkeit haben (…).“

Das Zeitalter des animal rationale wäre vorbei. Der Mensch ist hier nicht mehr ein schlechthin Vorhandenes, dessen Geschichte sich über nacheinander ablaufende historische Daten und ihre kausalen Zusammenhänge sowie über biologische Ansätze erklären läßt. Dieser in seinem Wesen gewandelte Mensch würde vielmehr in den großen Augenblicken leben, in denen eine Ent-gegnung zwischen Göttern und Menschen sich ereignet und dem Verschließen der Erde eine Welt abgerungen werden kann. Die Geschichte würde nicht mehr von dem Ablauf zusammenhängender Ereignisse, die durch Kausalität und Zufall bestimmt sind, konstituiert werden, sondern von einzelnen möglicherweise einsamen Er-eignissen, die die Wahrheit des Seyns ins Seiende bergen.

So bilden für Heideggger faktisch Hölderlins Gedichte und Nietzsches Denken geschichtliche Ereignisse, während dies weder auf Metternichs Restauration noch auf Bismarcks Sozialgesetzgebung zutreffen muß. Immer sind es die einzigen Augenblicke. Immer bedeuten sie auch einen Untergang, wie am Schicksal Hölderlins und Nietzsches deutlich gesehen werden kann. Damit Geschichte sein kann, muß der Mensch fraglich werden und muß die alte Auffassung von Sein fraglich werden.

Auf S. 486 beschreibt Heidegger das Seyn als das Herdfeuer in der Mitte der Behausung der Götter. Diese Behausung bleibt für den Menschen das Befremdende: – er bleibt in dieser Behausung der Fremdling. Die Begegnung zwischen Göttern und Menschen ist für den Menschen die Begegnung mit dem ganz Fremden, daher also eine Ent-gegnung, in dem das Gegen steckt. Weil er über sich hinaus will (Willen zum Seyn), weil er um seine Hütten zu bauen (Welt), den Urwald (Erde) roden muß, ist der Mensch nach einer Übersetzung Heideggers des Antigone-Chorliedes: „das unheimlichste aller Wesen, das die Erde umpflügt.“

Er ist nicht ursprünglich irgendwo heimisch, denn er trotzt der Erde seine Welt ab und wird doch schnell vom Seienden in die Irre geführt – auch das Herdfeuer des Seyns wird von ihm vergessen und durch den Blitz der Götter wird er vernichtet, so wie es der Semele geschah, als sie Zeus in seiner wahren Gestalt zu sehen wünschte. Da aber der Mensch dasjenige Dasein ist, an dem sich die Wahrheit des Seyns ausgezeichnet ereignet, liegt in ihm die Möglichkeit etwas zu gründen, daß das Ereignis ins Seiende hineinragen läßt.

Im Endeffekt geht es auch Heidegger – genauso wie Nietzsche – um eine Art Über-mensch, der aber jede Definition seines Wesens über die Biologie und über die Vernunft hinter sich gelassen hat – ein Über-mensch, der weder rassisch noch kulturell noch (modern gesagt) genetisch erzeugt werden kann. Vielmehr geht es bei Heidegger um eine Art Bereitschaft, ein Aufmachen, ein Offensein, eine Sensibilität, die aber auch herrschaftlich geprägt bleibt – er zitiert zustimmend Nietzsches Charakterisierung des Übermenschen aus dem Nachlaß: „Caesar mit der Seele von Christus“.

Eine besondere Art, in der sich für Heidegger die Wahrheit des Seyns ereignet, ist das Kunstwerk. In seinem berühmten Essay „Der Ursprung des Kunstwerkes“ bestimmt er die Kunst als das Ins-Werk-Setzen-Der-Wahrheit. Die Welt, die der Mensch bildet, kommt nur zum Scheinen im Schatten des Kunstwerkes. Als Beispiel dafür führt Heidegger den griechischen Tempel an.

In der gleich nach den „Beiträgen“ geschriebenen Abhandlung „Besinnung“ findet sich ein weiterer Hinweis. Hier ist es das Werk der Kunst, das das Wesen der Götter und Menschen zur Entscheidung stellt. Insofern wird das Da-sein der Zukünftigen selbst zum Kunstwerk. Die Kunst bleibt kein für sich vereinzelter Bereich, sondern wird als konstituierendes Element in das Da-sein selbst zurückgenommen.

Jörg Scholz