Was haben Wille und Sensibilität miteinander zu tun?

Das Bild eines willensstarken Menschen ist vermutlich auch bei Ihnen eher mit rücksichtsloser Geradlinigkeit denn mit Sensibilität verbunden.

Wille und SensibilitätMit solchen, weit verbreiteten – Vorstellungen eines „zähnezusammenbeißenden Unbedingt- durch“ ist einsichterweise aber ein Begriff von Willen gemeint, der auf kurzfristige Ziele ausgerichtet ist. Langfristig wäre solch ein Kraftaufwand nicht nur eine Überforderung, sondern würde das angestrebte Ziel mit großer Sicherheit verfehlen.

Um es noch pointierter zu formulieren:

Ein „Wille“, der gegen die eigenen Gefühle und Triebe arbeitet, führt in eine Sackgasse, ist nicht Wille, sondern Zwang gegen sich selbst.

Nun können Sie sich mit solchem Zwang zwar für einige Zeit gegen Ihre Gefühle und Triebe stellen und erreichen möglicherweise auch mal dies und jenes. Aber Sie zerstören so langfristig sich selbst, indem Sie Ihre Persönlichkeit spalten. Denn Ihre unterdrückten Gefühle und Triebe wirken dann sozusagen im Geheimen zunehmend stärker gegen das, was Sie – bewußt – anzustreben glauben.

Was ist Wille dann?

Wille, mit dem Sie langfristige und anspruchsvolle Ziele erreichen können, ist die Fähigkeit, seine eigenen Gefühle, Triebe und Gedanken beobachten, unterscheiden, verstehen und koordinieren zu können.

Triebe sind für die meisten Menschen relativ leicht beobachtbar und auch erklärbar. Sie beruhen auf körperlichen Impulsen oder Mangelerscheinungen. So meldet z.B. das Hungergefühl einen Nährstoffmangel, oder Müdigkeit ein Regenerationsbedürfnis des Körpers an.

Gedanken und deren Muster genau beobachten zu lernen, ist ein sehr anspruchsvolles Unterfangen, da Gedanken flüchtig sind. Oft sind Sie sich dessen, was sie gerade denken, wahrscheinlich nicht mal bewußt, schon gar nicht der engen Verknüpfung zwischen Gedanken und gleichzeitig ablaufenden Gefühlen.

Dieses feine Gespinnst der eigenen Gedanken und Gefühle begreifen zu können, wird aber um einiges leichter, wenn Sie erstmal in der Lage sind, Ihre Gefühle zu beobachten und unterscheiden zu können. Diese Fähigkeit bezeichne ich als emotionale Sensibilität“.

Gefühle beruhen darauf, daß jemand das, was er wahrnimmt, bewertet. Was bedeutet das (Wahrgenommene) für mich, fragt ein Mensch sich und reagiert (und zwar sehr schnell) mit Gefühlen: Angst, Freude, Trauer oder Wut zum Beispiel. Dabei unterscheiden Menschen normalerweise nicht zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.

Ohne daß Ihnen das bewußt sein muß, reagieren Gefühle auch auf Bilder der Vergangenheit, die durch irgendein Detail (sei es ein Geruch) erinnert werden. Damals mögen Sie z.B. Erfolg gehabt haben, wenn sie weinend nach Ihrem Schnuller greinten. So haben die Gefühle damals gelernt, daß *traurigguck* ein effektives Mittel ist, um Wünsche durchzusetzen. Zu beobachten, ob das heute noch immer funktioniert und zu entscheiden, welche Nebenwirkungen das haben mag, können Sie lernen. Deshalb werde ich mich im folgenden vor allem der feinen Beobachtung von Gefühlen widmen.

Je feiner Sie Ihre emotionale Sensibilität ausgeprägt haben, desto schneller und sicherer bemerken Sie Veränderungen Ihrer Gefühle. Je weniger Sie diese Sensibilität entwickelt haben, desto unverständlicher sind Ihnen Ihre eigenen Gefühle. Sie entstehen dann scheinbar auf unverständliche Weise, verändern sich durch unbekannte Auslöser, färben plötzlich das eigene Erleben der Welt. Und sie machen bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlich, ohne daß Sie das ausreichend verstehen.

Woran können Sie erkennen, wie fein Ihre emotionale Sensibilität ausgeprägt ist?

Sie können andere Menschen nach deren Meinung über Ihren Umgang mit Gefühlen fragen. Sie können aber auch einfach zu beobachten versuchen, wie Sie Ihre eigenen Gefühle beschreiben. Je differenzierter Sie das tun, desto differenzierter beobachten Sie.

Ein Mißverständnis wäre es allerdings, von einem reichhaltigen Vokabular auf feine Sensibilität zu schließen. Man kann sein Unvermögen auch durch viele Worte kaschieren, indem man viel redet, aber nichts (zum Thema) sagt. Wahrscheinlicher ist eher, daß ein Mensch, der seine Gefühle sehr genau beobachtet, mit relativ wenigen Worten die Bilder, Empfindungen, Gedanken und Farben beschreiben kann, die mit einem bestimmten Gefühl verbunden sind. Entscheidend ist, wie anschaulich und genau Sie Ihre Gefühle beschreiben können.

Zwei Beispiele

Ein direktes Abbild emotionaler Sensibilität fanden Psychologen in einigen Persönlichkeitsmerkmalen, die bei emotional sensiblen bzw. unsensiblen deutlich verschieden sind.

Ich will zur Veranschaulichung zwei idealtypischen Beispielen einen unsensiblen und einen sensiblen Menschen beschreiben. In der Praxis werden wir solche eindeutigen Charaktere kaum finden, die meisten Menschen werden sich zwischen diesen Extremen einordnen. Doch liefern die überzeichneten Charakterbilder eine klarere Anschauung.

Beispiel für geringe emotionale Sensibilität

Hartmut ist ein Mensch, der eine gute Meinung von sich hat. Er ist fähig, begabt und zweifelt selten mal an seinen wertvollen Fähigkeiten. Aus Erfahrung weiß er, daß er sein Leben gut durchorganisieren muß, um sich vor Überraschungen aus seiner Umwelt zu schützen.

Trotzdem unterlaufen ihm immer mal wieder Mißerfolge. Seine Kollegen sagen, daß dies an seiner Abneigung gegen alles, was man als Pflicht bezeichnen könnte, liegen muß. Er sähe sich eben als einen kreativen Macher, der sich von niemandem Vorschriften machen ließe. Er selbst aber ist der Überzeugung, daß dies an seinen unkreativen Arbeitskollegen liegen muß. Ständig sieht er sich allein und von ihnen im Stich gelassen und so manch einer will bestimmt an seinem Stuhl sägen.

Wenn sie nicht selber sehen, was ansteht, was soll er anderes machen, als sie anschnauzen, bis sie sich endlich mal in Bewegung setzen. Außerdem bringt das Leben in die Bude. Sein persönliches Engagement hat auch so seine Nachteile, manchmal zerrt es gewaltig an seinem Nervenkostüm… aber was tut man nicht alles für seinen Job.

Beispiel für hohe emotionale Sensibilität

Hannes ist ein Mensch, der mitten im Leben steht. Er ist selten krank, seine Arbeit macht ihm Spaß und er wird von seinen Mitmenschen geschätzt. Das ist kein Zufall, sondern liegt vor allem daran, daß er gern Verantwortung übernimmt und dann auch bereit ist, sie zu tragen. Meist hört er dem, was seine Kollegen und Freunde sagen, aufmerksam zu und versucht, ihre Interessen bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen.

Selten, eigentlich nie sieht man von ihm strafende Blicke oder abschätzige Handbewegungen. Im Gegenteil, er scheint so ziemlich mit jedem Menschen und jeder Lebenslage klar zu kommen. Auch sagen seine Freunde, daß es nicht so leicht ist, ihn auf die Palme zu bringen. Mit einem verschmitzten Lächeln zumeist, nimmt er Leuten, die ihn anmachen wollen, ganz freundlich den Wind aus den Segeln und bleibt ansonsten beim Thema.

Überhaupt scheint er ein geborener Managertyp zu sein, der ständig neue Projekte am Laufen hat, mit jedem seiner Projekte besser zu werden scheint und seine Mitstreiter mitreißt.

Zusammenfassung

Wille ist nicht die Fähigkeit, über Leichen zu gehen, sondern eher die Fähigkeit, sich selbst durch die wilden Fahrwasser der Gefühle tanzend an sein Ziel zu bringen.

Das genaue und schnelle Erkennen der eigenen Gefühle ist die Voraussetzung für koordiniertes, freies, willentliches Handeln. So begegnen Sie der Gefahr, im Zuge eines vermeintlichen Willenstrainings die Gefühle zu ignorieren oder zu unterdrücken. Diese Anstrengung würde nicht zu einer integrierten, sondern zu einer neurotischen Persönlichkeit führen.

Wollen Sie mehr über „Gefühle und Wille“ erfahren?

Dr. Angela Jekosch