Selbstheilung: Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit

In diesem Interview wird der Neurowissenschaftler und Gesundheitsforscher Prof. Dr. med. Tobias Esch befragt, wie Selbstheilung funktioniert und was man tun kann, um diese Fähigkeit zu nutzen. Dabei werden auch die vier Säulen der „Mind-Body-Medizin“ vorgestellt, welche die Grundlagen der Selbstheilung beschreibt.

In jedem von uns steckt die Fähigkeit zur Selbstheilung, die aber vielen Menschen abhandengekommen ist. Der Arzt, Neurowissenschaftler und Gesundheitsforscher Tobias Esch möchte das ändern und erklärt, wie Selbstheilung funktioniert und wie Sie Ihre Selbstheilungskompetenz stärken können.

Selbstheilung Mind-Body-Medizin Tobias EschSeit vielen Jahren untersucht er unter anderem in Harvard und an der Berliner Charité, wie selbst chronische Krankheiten – zum Beispiel Diabetes, Asthma oder Rückenschmerzen – durch einen ganzheitlichen Ansatz, der auf den vier Säulen positive Emotionen, Entspannung, Ernährung und Bewegung beruht, gelindert werden.

Mithilfe neuester Forschungsergebnisse beschreibt er, welche Faktoren für Gesundheit und Zufriedenheit entscheidend sind und gibt Anregungen für ein Leben, das geprägt ist von Wohlbefinden, innerer Stärke und Zufriedenheit.

Dabei soll auch untersucht werden, welche Potenziale außerhalb der etablierten Medizin nachweisbar sind bzw. wie man diese für die Förderung der eigenen Gesundheit nutzen kann. Seit 2016 ist er Professor für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung sowie Prodekan an der Universität Witten/Herdecke.

In diesem Interview wird inhaltlich über zwei seiner Bücher gesprochen – namentlich "Der Selbstheilungscode: Die Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit" und "Stressbewältigung: Mind-Body-Medizin, Achtsamkeit, Selbstfürsorge". Wenn Sie an mehr Details zum Thema Selbstheilung interessiert sind, finden Sie über diese Links zu seinen Büchern.

Interview: Selbstheilung – Neurobiologie von Gesundheit und Zufriedenheit

Peter Schipek im Gespräch mit Prof. Dr. Tobias Esch

Peter Schipek: Sie untersuchen seit vielen Jahren die Zusammenhänge von Meditation, Gehirn und einem gesunden Körper. Wie wirkt sich denn Meditation auf unser Gehirn und auf unseren Körper aus?

Tobias Esch: Meditation ist gewissermaßen ein Training, ein Training in diesem Fall nicht für Muskeln oder andere körperliche Vorgänge, sondern für das Gehirn. Das Gehirn selbst ist auch ein Organ und, wie nahezu alle Organe unseres Körpers, unterliegen sie Veränderungen und Anpassungsvorgängen.

Diese sind häufig durch Training veränderbar. Meditation ist also gewissermaßen ein mentales Training, das zum Beispiel unser Gehirn fokussierter werden lässt, das heißt, es werden systemische oder generalisierte Prozesse im Gehirn angestoßen, aber auch sehr spezifische Funktionen können trainiert werden.

Insgesamt gilt, dass beispielsweise die Achtsamkeitsmeditation unsere Fähigkeit, Emotionen zu kontrollieren, die Aufmerksamkeit zu halten oder gar zu erhöhen, ein Körpergewahrsein sowie ein Gefühl für das „Selbst“ zu entwickeln, fördert. In der Konsequenz eines zum Beispiel fokussierten und aufmerksamen Bewusstseins, kombiniert mit einem Selbst- und Körpergewahrsein sowie einer verbesserten Kontrolle von aufsteigenden Emotionen, kommt es häufig zur Auslösung der sogenannten Entspannungsreaktion.

Diese kann als natürlicher Gegenspieler der Stress-, Kampf- oder Flucht-Reaktion aufgefasst werden. Letztlich kann so vom Gehirn ausgehend ein herunterregulierender, entspannter körperlicher wie auch geistiger Zustand die Folge sein.

Peter Schipek: In der Einleitung zu Ihrem Buch schreiben Sie „Für Selbstheilung gibt es keine Bedienungsanleitung“. Was erwartet uns denn in Ihrem Buch?

Tobias Esch: Natürlich suggeriert der Titel „Der Selbstheilungscode“, dass es sich hier um ein einfaches Kochrezept oder eine Bedienungsanleitung handeln könnte. Was ich jedoch schon zu Beginn des Buches versuche klarzustellen, ist, dass Gesundheit und Selbstheilung komplexe biologische Vorgänge sind.

Diese sind uns selbst und unserem Gehirn als Steuerungsorgan grundsätzlich zugänglich. Wie das Gehirn und damit die Selbstregulation angestoßen wird, ist zunächst ein biologischer und damit gewissermaßen für uns alle vorhandener Mechanismus.

Die einzelnen „Reize“, die auf die Regulation wirken, können jedoch sehr stark biografisch oder auch kulturell geprägt sein. Das heißt: Es gibt Säulen der Selbstheilung oder „Straßen“. Jedoch: Wer auch auf den Straßen fährt und wie bzw. mit welchem Gefährt, ist nicht mit einfachen Bedienungsanleitungen vorherzusagen.

Im Gegenteil: Das Buch benennt die Säulen der Selbstheilung, die wissenschaftlichen und auch biologischen Hintergründe, das, was uns alle verbindet im Sinne einer Hardware, und, ja das Buch beschreibt sehr wohl auch beispielhaft Übungen und Wege, um gesundheitsförderliche Mechanismen auf Basis dieser Erkenntnis anzustoßen. Dieses möchte ich aber nicht verwechselt wissen mit der Idee, man müsse nur 1,2,3 Dinge tun, gewissermaßen wie ein Medikament oder eine „Pille“, die man einwirft, und dann würden sich automatisch Gesundheit und Heilung einstellen.

Es ist ein Zusammenfließen von Hardware und Software, von Individuum und Biografie sowie den Genen und kulturellen Einflüssen, welches vor dem Hintergrund allgemein gültiger Prinzipien geschieht. Beides, die individuellen Aspekte, aber auch die generellen, versuche ich im Buch zu beschreiben.

Peter Schipek: Stress und Selbstheilung. Auf den ersten Seiten schreiben Sie ausführlich über Stress. Wie sollen wir denn heute mit den vielfältigen beruflichen und privaten Belastungen umgehen, wie können wir übermäßigen Stress vermeiden?

Tobias Esch: Zunächst erstmal scheint es bedeutsam zu sein, dass wir unseren Stress überhaupt bemerken. Das mag banal klingen, aber – gerade auch aus der jüngeren Wissenschaft bekannt – scheint es doch vielen Menschen nicht einfach möglich, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem eigenen Erleben und Stress oder auch Nicht-Stress herzustellen.

Mit anderen Worten: Es ist sehr wohl möglich, biologisch oder physiologisch gestresst zu sein, ohne dieses so zu empfinden oder überhaupt zu bemerken, dass man in einem Alarm- oder Anspannungszustand ist. Voraussetzung also ist, dass wir mit unseren Sinnen anwesend sind, vorhandenen Stress wahrnehmen, wenn wir dazu in der Lage sind.

Beides muss unter Umständen geschult werden: Das Hinwenden der Aufmerksamkeit zum gegenwärtigen Moment, um Kontakt aufzunehmen, zu dem geistigen und physiologischen bzw. körperlichen Vorgängen, um Angespanntheit – als Beispiel – zu bemerken, aber eben auch die Fähigkeit, für die eigenen inneren Vorgänge auch Begriffe oder Vorstellungen zu haben, die eine Zuordnung – in diesem Fall zum Stress – möglich machen.

Wenn Stress erkannt wurde, ist der nächste Schritt ebenso bedeutsam: Wir müssen versuchen, nicht mit den üblichen automatischen Mustern auf Stress zu reagieren. Diese Muster manifestieren sich vor allem im Bereich der Gedanken bzw. des Denkverhaltens, des Verhaltens insgesamt, welches wiederum durch emotionale und soziale Stressreaktionen oder gar Warnsignale geprägt ist.

Ist uns also zunächst aufgefallen, dass wir gestresst sind oder uns in einer Stresssituation befinden und haben wir dann durch die Fokussierung unserer Aufmerksamkeit auf jene Situation, unser „Gestresstsein“, die Möglichkeit geschaffen, nicht unbedacht, unbewusst oder eben im Autopilot-Modus zu reagieren, kommt der dritte Schritt zum Tragen: Wir müssen versuchen, den Kreislauf aus stressiger Situation oder Belastungen, unbewussten und automatischen Reaktionen, dem sich selbst hochschaukelnden Kreislauf bzw. der Spirale aus Bewertungen und körperlichen sowie emotionalen Konsequenzen, wozu auch soziale Muster gehören können, zu unterbrechen.

Dann werden wir häufig feststellen, dass wir eine Wahl haben: Wie wollen wir in dieser Situation konkret reagieren? Grundsätzlich hilft dabei, die irrationalen, für uns typischen und meistens für uns unbewussten Muster zu erkennen; zu hinterfragen, was daran irrational, d. h. unrealistisch, ist, und welche Anteile dagegen rational erscheinen.

Die rationalen Anteile wiederum sollten wir versuchen entweder zu lösen oder anzugehen, d. h. zu verändern, und bei den Dingen, die wir nicht verändern können, sollten wir lernen, sie zu akzeptieren. Manch eine stressige Situation verschwindet auch von alleine, sie löst sich eventuell „in Luft“ auf, d. h. eine Strategie kann im Einzelfall auch sein, sich für eine bestimmte Reaktion bewusst etwas Zeit zu geben und abzuwarten. Dieses ist nicht zu verwechseln damit, Situationen prinzipiell zu verdrängen oder ignorieren.

All das kann man prinzipiell lernen: Sehr viel häufiger als die rationalen Reaktionsmuster sind die irrationalen Anteile. Gemeint sind Gedanken, Gefühle und Reaktionen in stressigen Situationen, die über ein normales oder gesundes Maß hinausgehen, gewissermaßen die Alarm- bzw. Kampf- oder Flucht-Reaktion erst unterhalten.

Denken wir beispielsweise an die berühmte Schlange an der Supermarktkasse, die natürlich immer dann am längsten ist bzw. am längsten dauert, wenn wir uns für eine Schlange entschieden haben. Über dieses Bild gibt es zahlreiche Variationen, auf die ich hier an dieser Stelle nicht eingehen möchte.

Wichtig scheint nur, dass wir uns in derartigen Situationen fragen können, ob bestimmte Annahmen über unsere Mitmenschen, die in der Schlange vor uns stehen, bzw. über die „mal wieder langsamste Schlange“ wirklich wahr sind. Wir fragen uns dann, ob wir Beweise dafür haben, dass immer wir es sind, die die schlechteste oder langsamste Schlange erwischt haben.

Die zweite Frage wäre, ob ich diese Situation, in der ich gerade bin und die mich stresst, ggf. auch anders sehen kann: Gibt es hier eventuell etwas Positives trotz allem zu sehen oder zu erleben, kann ich hier etwas lernen, kann ich die Situation uminterpretieren?

Und schließlich die dritte Frage, die ich mir stellen kann, ist, ob es mir in dieser Situation hilft, mich und andere zu stressen oder gestresst zu sein bzw. gestresst zu reagieren. Ist das gesund für mich, ist es adäquat, geht es hier wirklich um „Leben oder Tod“?

Auf diese Art können wir wieder lernen, unsere automatischen Stressreaktionsmuster und -warnsignale aktiv zu durchbrechen. Es gibt unzählige weitere Strategien, viele davon werden auch in meinem Buch beschrieben, sogenannte Mini-Entspannungsübungen, blitzartige Anti-Stress-Übungen, sowie längerfristige Strategien zu denen eine regelmäßige Meditationspraxis, regelmäßige körperliche Bewegung oder auch gesundheitsförderliche Ernährung gehören können.

Auch die Achtsamkeit kann helfen zu erkennen, dass in dieser Situation, in der ich gestresst bin oder kurz davor bin gestresst zu reagieren, eigentlich mein Leib und Leben nicht wirklich bedroht sind. Die Gedanken wandern dann nicht in die Zukunft oder grübeln über die Vergangenheit, sondern verweilen im Hier und Jetzt.

Mit dem Erkennen, dass jetzt gar keine Bedrohung oder die Notwendigkeit zu Kampf oder Flucht vorliegt, wird die physiologische Alarmreaktion gemindert oder gar gestoppt. All diese Strategien, wie beschrieben, sollen jedoch keine Alternativen sein bzw. davon ablenken, dass die Welt, in der wir leben, stressige Situationen bereithält.

Stress mag manchmal sogar hilfreich und lebensrettend sein, insbesondere dann, wenn tatsächlich Leib und Leben bedroht sind. Dann sollen wir gestresst reagieren! Genauso ist es wichtig zu betonen, dass ungute Verhältnisse, ungesunde Beziehungen, Arbeitsplätze, chronische Konflikte, Lärm und Umwelten, die uns ständig aus der Balance bringen, dass diese Dinge ebenfalls mit in den Fokus einer Stressbewältigung und gesundheitsförderliche Lebensweise gehören.

Es ist also keinesfalls immer nur an jedem einzelnen bzw. auf dem Meditationskissen oder mit den Joggingschuhen zu lösen, dass Stress uns umgibt. Stressvermeidung bedeutet also auch, wachsam zu sein für die Dinge, die wir ändern sollten. Manches muss ich akzeptieren, manches kann ich aussitzen oder verändert sich über die Zeit, manches muss ich direkt angehen und in die Hand nehmen. Vielleicht mit anderen zusammen, aber Stressbewältigung ist nicht mit Passivität zu verwechseln.

Peter Schipek: Sie beschreiben auch die dauerhaften Konsequenzen von Stress. Was passiert denn bei Stress in unseren Gehirnen und unseren Genen?

Tobias Esch: Wie schon beschrieben, gerät unser Gehirn in stressigen Situationen in eine Kampf- oder Flucht-Reaktion bzw. englisch „Stress Response“. Es geht hier um das Überleben und den Alarmzustand, der Geist und Körper in die Lage versetzt, das Überleben zu sichern. Diese Reaktionen, die sich dann einstellen, führen auf körperlicher Ebene z. B. dazu, dass sich die Schulter – und Nackenmuskulatur anspannt, der Herzschlag steigt, die Durchblutung der Muskulatur für das Kämpfen oder Fliehen zunimmt, wohingegen die Durchblutung in Bereichen z. B. der Verdauung heruntergeregelt wird.

Unzählige körperliche Reaktionen lassen sich mit einem Verständnis für die Biologie des Stresses gut erklären. Dieses gilt für Immunreaktionen, entzündliche Prozesse, ein leichter gerinnendes Blut, das etwas visköser oder zäher fließt, mit der Konsequenz, dass sich schneller Herzinfarkte oder Schlaganfälle durch Blutgerinnsel bilden können; aber auch diverse Schmerzsyndrome, Verdauungsprobleme, nervliche Reaktionen und symptomatische geistig-seelische Zustände können so erklärt werden.

Körperliche, psychische, soziale Veränderungen können also die Folge sein, insbesondere wenn Stress chronisch wird oder insgesamt die Dosis überhandnimmt. Unser Gehirn ist ebenfalls empfindlich für Stress. Unsere Merkfähigkeit wird beeinflusst, denn wir sollen in stressigen Situationen alles vermeiden, was unnötige Energie kostet – oder Zeit!

Das heißt, wir sind in stressigen Situationen nicht gut eingestellt dafür, Neues zu erlernen, Lösungen durch geschicktes Denken zu erarbeiten, oder gerade eben gelernte Vokabeln an der richtigen Stelle im Gehirn abzuspeichern. Wir greifen dagegen auf bekannte, bereits erlernte Muster, Verhaltensweisen und Ergebnisse zurück, vergessen kürzlich Erlerntes, werden in unserer Wahrnehmung eher einen „Tunnelblick“ erfahren, als eine offene neugierige Grundhaltung für unsere Mitmenschen und die Umgebung.

Alles ist auf das Überleben, Kampf oder Flucht eingestellt, in der Konsequenz, dass diejenigen Areale im Gehirn an Aktivität zunehmen, die mit Angst, „Gestresstsein“ und Alarm einhergehen. Areale, die für das Gedächtnis und die Merkfähigkeit zuständig sind, wie z. B. der Hippokampus, werden an Aktivität oder gar an tatsächlicher Größe abnehmen.

Gleiches gilt für die Gene, die z. B. Entzündungsprozesse unterhalten, die unter Stress bzw. chronischem Stress vermehrt auftreten. Wir lernen heute, nicht zuletzt aus Studien zum Gegenspieler des Stresses, d. h. zur Entspannungsreaktion (englisch „Relaxation Response“), dass geistige Vorgänge wie die Induktion von Stress oder eben Entspannung sich auf die Expressionsmuster von bestimmten Genen auswirken.

Neben epigenetischen Veränderungen, d. h. Aktivierungen von bestimmten Genen die – sei es für Stress oder eben Entspannung – zuständig sind, können über mittelfristige bzw. besonders traumatisierende Erfahrungen möglicherweise auch Veränderungen am Gehirn selbst und den Genen entstehen, die dauerhaft sind. Hier befinden wir uns jedoch in der Forschung noch ganz am Anfang, es gibt Hinweise aus biologischen Modellen, dass Veränderungen an den Genen z. B. durch Mutationen und Erhöhung von Fehlerraten bei der Erstellung von Kopien der Gene im Rahmen der Zellteilung auftreten können, die Folge von chronischem Stress sein können.

Wie weit dieses auch bei uns Menschen gilt und im genannten Kontext eine Rolle spielt, muss noch offen bleiben. Die wissenschaftlichen Modelle hierzu passen jedoch insgesamt ins Bild, dass chronischer Stress sicher nicht nur ein psychologisches, sondern allemal ein körperliches, neuronales bzw. auch auf das Genom wirkendes Phänomen ist und auch die Aktivierungsmuster und letztlich das Genom selbst auf die eine oder andere Art miteinbezieht.

Peter Schipek: „Dauerhafter Stress wirkt auf unser Gedächtnis“. Ein sehr wichtiger Punkt – nicht nur für uns Erwachsene. Bringen wir nicht schon unsere Kinder in zu viele Stresssituationen? Beispielsweise mit zu hohen Anforderungen in der Schule.

Tobias Esch: In der Tat beobachten wir seit längerem, auch in Deutschland, dass die Schilderungen von Stresssituationen und Stresswarnsignalen an Häufigkeit zunehmen, was sich nicht nur auf die Welt der Erwachsenen bezieht, sondern zunehmend auch auf die jüngeren Bevölkerungsschichten übergreift.

Seit Jahren beobachten wir z. B. das Maß an Stress und Stresserleben bei Grundschulkindern. Eltern schildern hier typische Stresswarnsignale bei den Kindern, die sie beobachten. Nimmt man diese Zahlen ernst, müssen wir inzwischen bei fast zwei Dritteln der Grundschulkinder typische Stresswarnsignale – und in dem Kontext chronischen Stress – attestieren.

Dabei sollten wir jedoch nicht nur auf die Schule schauen bzw. Lehrer und Schulumfeld dafür verantwortlich machen, sondern müssen den Blick auf die gesamte gesellschaftliche Situation lenken. Der Gebrauch von Medien in allen Lebenswelten, nicht nur Fernseher, Computer, Laptop und Handy, seien hier genannt, sondern die digitalen Einflüsse und virtuellen Welten, in denen sich die Menschen zunehmend für einen großen – für viele sogar den größten –Teil des Tages (in ihrer wachen Zeit) bewegen, müssen als Quellen für Verdichtung und stressige Interaktionen genannt werden.

Verdichtungen von komplexen Vorgängen, Verkehr, Lärm, kürzer werdende Zyklen in typischen wiederkehrenden Lebenssituationen – und in sozialen Vorgängen – werden berichtet und können zum Teil auch wissenschaftlich bestätigt werden. Forschungen in diesem Bereich sind jedoch komplex, wir sollten es uns auch hier nicht zu einfach machen.

Dennoch scheinen wir in unserer heutigen Zeit z. B. weniger Schlaf zu finden (oder zu brauchen?) als noch unsere Ururgroßeltern, unsere Aufmerksamkeitspannen scheinen insgesamt etwas vermindert zu sein – dieses nur als zwei Faktoren genannt, die sicherlich nicht auf einer innerhalb von nur wenigen Generationen veränderten Biologie beruhen, sondern eher als Anzeichen der genannten Verdichtungsvorgänge interpretiert werden können.

Ich bin sicher nicht jemand, der einen generellen Rückzug oder die Rückkehr zur Vergangenheit auf seine Fahne schreibt. Insofern möchte ich die beschriebenen Dinge nicht grundsätzlich verurteilen. Entscheidend ist nur, ob wir gleichzeitig Kompetenzen haben, gelernt bzw. nicht verlernt, die es uns erlauben, immer wieder ins Gleichgewicht zu geraten. Dieses Gleichgewicht wäre dementsprechend kein statisches, sondern ein dynamisches. Erst chronisches Ungleichgewicht scheint unsere Regulation letztlich aus dem Ruder zu bringen.

Peter Schipek: Neben den Worten „Entspannung“, „Bewegung“ und „Ernährung“ finden wir in Ihrem Buch auch die Worte: „Dankbarkeit“, „Vertrauen“ und „Sinnhaftigkeit“. Diese Begriffe sind ja heute teilweise in Vergessenheit geraten. Was haben „Dankbarkeit“, „Vertrauen“ und „Sinnhaftigkeit“ mit Selbstheilung zu tun?

Tobias Esch: Diese Begriffe kommen aus einem Teilbereich der Psychologie, der sogenannten Positiven Psychologie. Letztlich ist die Positive Psychologie eine Form der Gesundheitspsychologie oder, wie ich es sehe, ein Teilgebiet der sogenannten Mind-Body-Medizin. Gemeint ist hier die untrennbare Verbindung zwischen Geist (Seele) und Körper.

Wir wissen heute, dass wir durch Assoziation von positiven Verhaltensweisen, Erleben oder Empfindungen, gewissermaßen die „Tonart“ unserer inneren Vorgänge beeinflussen können. Vermutet hat man das schon länger, aber erst heute, u. a. durch die Techniken der modernen Bildgebung in Neurologie und Psychologie sowie anderer psychometrischer Verfahren, sind wir in der Lage, Zusammenhänge herzustellen, auch zur Frage der Resilienz, Kohärenz, der „Hardiness“, d. h. der Widerstandsfähigkeit und den Ressourcen für Gesundheitsschutz und Bewältigung von schwierigen Situationen.

Früher haben diese Techniken ihren Platz gehabt in Ritualen, die kulturell oder vor allem religiös geprägt waren. In unseren heutigen atheistischen bzw. nicht-religiösen Zeiten finden sie sich dagegen in der Mind-Body-Medizin bzw. eben der Positiven Psychologie wieder.

Die Forschung hat zeigen können, dass Dankbarkeitsrituale, Verhaltensweisen und Übungen, die Vertrauen schaffen, ein Erleben von Sinnhaftigkeit oder Kohärenz, deutlich auf die eigene Selbstheilungsfähigkeit, d. h. auf die Auto- bzw. Selbstregulation, einwirken. Optimismus und eine positive Lebenseinstellung – oder, wie manchen sagen, „Glück“ – können auf diese Weise harte Outcomes erzeugen: Auswirkungen sehen wir sowohl auf der Ebene der Lebenserwartung als auch der Sterblichkeit oder der Krankheitshäufigkeit generell sowie in Bezug auf bestimmte Erkrankungsarten.

Verstehen Sie mich jedoch nicht falsch: Es geht hier keinesfalls um Wunderheilung oder esoterische Quacksalberei. Auch geht es nicht darum, eine rosarote Brille aufzusetzen oder durch einfache Rituale, komplexe, auch schwierige Verhältnisse oder Erkrankungen wegzudenken. Es geht dagegen um die Ergänzung medizinischer oder therapeutischer Verfahren und Medikamente durch eine Lebensweise und psychologische Techniken – sowie allgemein gesundheitsförderliche Methoden –, die im Sinne einer ressourcenorientierten und ganzheitlichen Medizin diesen wichtigen Aspekt mit integrieren.

Peter Schipek: Mit dem Satz „Unser Gehirn ist prinzipiell formbar und anpassungsfähig“ machen Sie uns Mut: Wodurch wird denn unser Gehirn verändert und was können wir tun, um die Selbstheilungskräfte zu stärken?

Tobias Esch: Grundsätzlich gilt, dass unser Gehirn gerne Freude hat. Manch ein Autor nennt es etwas pointiert: „The brain runs on fun“. Will sagen: Die Dinge, die dem Gehirn, d. h. uns, Freude machen, werden belohnt. Ich war jahrzehntelang Teil einer neurowissenschaftlichen Arbeitsgruppe in New York, die über das hirneigene Belohnungssystem geforscht hat.

Wichtig hier ist festzustellen, dass das Gehirn Verhaltensweisen, Empfindungen, ein Erleben belohnt, welches günstig für den Moment oder für die mittelfristige bis längere Sicht sein mag. Das Gehirn belohnt Dinge, die uns gut tun, die merkwürdig sind, die wir noch mal tun sollen, die in der Gesamtschau unserer momentanen Situation förderlich zu sein scheinen.

Dabei kennen wir unterschiedliche Arten von Belohnungen, auch unterschiedliche Arten von belohnungsstiftenden Situationen, wiederum mitunter „Glück“ genannt, worauf ich hier im Detail nicht eingehen kann. Natürlich können sich unter diesen belohnten bzw. lohnenswert erscheinenden Aspekten auch solche befinden, die uns momentan vielleicht Erleichterung verschaffen, aber auch auf lange Sicht ungesund sein können.

Denken wir nur an Suchtverhalten. Hier scheint es wichtig zu sein, zwischen Glück und Zufriedenheit zu unterscheiden bzw. die Selbstregulation als ein Mechanismus begreifen, der in Feedbackprozesse und aktivierende wie auch hemmende Vorgänge eingebunden ist. Weitere Mottos, die aus der Hirnforschung abgeleitet werden und die Hirnvorgänge und Vorlieben beschreiben sollen, sind bspw. „Energy flows where attention goes“. Das heißt: Die Energie und damit die Blutzufuhr geht in die Aktivität, die unsere Aufmerksamkeit bindet.

Gleiches gilt für unsere Motivation. Aufmerksamkeit und Motivation sind aber prinzipiell auch trainierbare bzw. steuerbare Vorgänge, wenngleich dieses kein banales Unterfangen sein mag – im Einzelfall. Wir wissen aber heute aus der Psychologie und insbesondere der Neurobiologie, dass Vorgänge, die mit Synchronizität zu tun haben, d. h. synchrone Entladungsmuster im Gehirn beinhalten, auch die Mustererkennung insgesamt, das Gehirn plastisch machen; dass wiederkehrende Aktivität und Aufmerksamkeit bzw. eine positive Motivation dazu führt, dass beteiligte Hirnareale in ihrer Aktivität zunehmen und mitunter auch „wachsen“ können.

„Use it or lose it“ – man muss das Gehirn benutzen, sonst verliert es an Potenzialen. Gerade aus der Meditationsforschung wissen wir heute oder haben wir für die Hirnforschung generell gelernt, dass Plastizität und Formbarkeit des Gehirns durch Aktivitäten, die Freude machen, unsere Aufmerksamkeit bündeln, ein hohes Maß an Konzentration benötigen und dabei möglichst nicht überfordern oder mit Angst einhergehen, dass durch derartige Aktivitäten die Formbarkeit und Plastizität des Gehirns deutlich länger erhalten bleibt, als früher angenommen.

Ein insgesamt adaptives, sich gut anpassendes Hirn, mit einem gewissen Maß an Flexibilität, Plastizität und Formbarkeit, ist generell im Sinne der Resilienz oder Widerstandsfähigkeit, mit einer gewissen inneren „Elastizität“ also, besser in der Lage, sich auf wechselnde oder stressige Umwelten und Umweltreize einzustellen. Es kann auch besser bzw. adäquater auf automatische Muster, die sich unter Stress zeigen, reagieren, indem z. B. Lernvorgänge unterhalten und gestartet werden, die eine Begrenzung der Alarm- bzw. Stressreaktion ermöglichen – wie ich es vorhin schon beschrieben habe.

Dinge, die uns Freude machen, die unsere Aufmerksamkeit bündeln, ohne uns zu überfordern oder uns zu unterfordern, die unser Bewusstsein ins Hier und Jetzt bringen und unser Aufmerksamkeitsfenster gewissermaßen in der Gegenwart „einrasten“ lassen, sind sehr gut geeignet, uns kreativ, innovativ, lernfähig, aktiv und zugleich nicht gestresst erscheinen zu lassen, was sich auch auf der psycho-physiologischen Ebene bestätigen lässt: Ein solcher Zustand wird mitunter auch als „Flowzustand“ bezeichnet. Die entscheidende Nachricht: Dieser Zustand fühlt sich nicht nur gut an, sondern er ist ganz offensichtlich auch gesund.

Peter Schipek: Einige Seiten widmen Sie dem Thema „Achtsamkeit“. Sie schreiben z. B.: „Achtsamkeit kann, wenn wir es wirklich wollen, zu einer Lebenshaltung werden.“ Können wir Achtsamkeit trainieren und wenn ja, wie?

Tobias Esch: Wie ich beschrieben habe, kann die Fokussierung der Aufmerksamkeit, das Nichtwegdriften durch Grübeleien, Ängste oder Zukunftsgedanken, prinzipiell trainiert werden. Achtsamkeit heißt, sinnlich werden, zur Besinnung kommen, mit den Sinnesorganen in die Gegenwart steuern. Wenn wir schon da sind, wirklich da sein!

Dabei geht es nicht darum, die Dinge, die ich im Hier und Jetzt erlebe, zu bewerten. Zunächst einmal geht es um eine Haltung des Beobachtens, des „Aufmerksamseins“, des Ankommens im Jetzt. In der Regel, wie schon beschrieben, sind wir im Hier und Jetzt nicht an Leib und Leben bedroht.

Es ist also nicht notwendig, auch nicht adäquat, eine maximale Stress- bzw. Kampf- oder Fluchtreaktion aufrecht zu erhalten. Dieses sei nur als ein Beispiel genannt, wie über die Achtsamkeit Stressreduktion initiiert werden kann. Entscheidend ist, dass die Aufmerksamkeits- ‚sowie die Emotionskontrolle, wie beschrieben, prinzipiell trainierbar ist. Wie das geht?

Z. B. über die formale Meditation, aber auch durch achtsamen Genuss. Denken wir an achtsame Ernährung, achtsame Bewegung, achtsamen Umgang mit unseren Mitmenschen, was auch das Zuhören und Reden beinhaltet. Das mag banal klingen, ist aber im Alltag gar nicht so leicht. Daher braucht es immer wieder Anstöße und Erinnerungen.

Diese kann man sich ganz bewusst in den Alltag hineinlegen – wir sprechen dann von sogenannten „ Mini-Achtsamkeitsübungen“. Das beschreibe ich alles detailliert im Buch.

Peter Schipek: „Salutogenese“ – ein noch recht junger und auch nicht allgemein anerkannter Begriff in der Medizin. Was sind denn die wesentlichen Bestandteile der Salutogenese?

Tobias Esch: Anerkennung hin oder her, der Begriff lässt sich inzwischen nicht mehr aus der Medizin wegdenken. Dieses liegt im Wesentlichen daran, dass er inzwischen in vielen Disziplinen existiert und wissenschaftlich gestützt wird. Letztendlich braucht es aber gar nicht die doch zahlreich vorhandenen Forschungsbelege, um das Modell der Salutogenese zu verstehen und anwenden zu können.

Letztlich geht es bei dem Begriff wortwörtlich um die Frage, was „Salus“, d. h. Heil und Gesundheit, generiert, also erzeugt. Als Ergänzung zur Pathogenese, also der Frage der Krankheitsentstehung, können wir auch auf die Faktoren schauen, die dem Gesunderhalt dienen. Solche Faktoren sind inzwischen gut untersucht: Denken Sie an die gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung, Entspannungsverfahren oder stressreduzierende verhaltenstherapeutische Maßnahmen. All dies ist gut untersucht und würde im Kontext der Salutogenese dem Paradigma der Gesundheitsförderung unterliegen.

Übrigens beziehen sich Salutogenese und Gesundheitsförderung keinesfalls nur auf die Gesunden: Es geht hier auch um die gesunden Anteile im Kranken. Insofern – und das ist mir wichtig – sprechen wir hier keinesfalls von Alternativmedizin oder einer anderen Medizin.

Salutogenese ist die Ergänzung der notwendigen pathogenetischen Sichtweise auf den Menschen und die Medizin, wo es in Bezug auf die Gesunden z. B. um Risikofaktoren und Krankheitsfrüherkennung geht. Die Salutogenese betrachtet den gleichen Gegenstand von der anderen Seite: Salutogenese und Pathogenese zusammen, das heißt integriert, bilden das Fundament einer ressourcenorientierten Medizin.

Peter Schipek: „Mind-Body-Medizin“ soll uns dabei helfen, ein kompetenter Patient zu werden und zu bleiben.“ Sie beschreiben einen ganzheitlichen Ansatz auf vier Säulen. Was sind denn die vier Säulen?

Tobias Esch: Das sind die genannten vier Säulen, die ich vor vielen Jahren einmal mit dem Akronym "BERN", d. h. der Hauptstadt der Schweiz, abgekürzt habe.

  • „B“ steht für „Behavior“, also Verhalten,
  • „E“ steht für „Exercise“, also Bewegung,
  • „R“ steht für „Relaxation“, also Entspannung, und
  • „N“ schließlich steht für „Nutrition“, also Ernährung.

Quintessenz ist, dass es darum geht, positives Denken und Handeln, ausreichend Bewegung, Momente der inneren Einkehr und Entspannung sowie eine idealerweise mediterrane Kost bzw. andere gesunde Ernährungsform fest in den Alltag zu integrieren. Ergänzend seien noch genannt: Die soziale Unterstützung als wesentlicher Teil einer gesundheitsförderlichen Lebensweise, bei mir der Säule „B“ zugeordnet, sowie, für einige Menschen, Spiritualität und Glaube.

Ich ordne den letzten Teil aus praktischen Gründen der Entspannung zu. Die genannten Aspekte einer gesundheitsförderlichen Lebensweise – oder eben Mind-Body-Medizin – sind inzwischen wissenschaftlich fundiert und hinlänglich untersucht. Manch ein Leser meines Buches wird möglicherweise denken: „Das ist doch alles banal!“

Glauben Sie mir, in der Wissenschaft hat es lange gedauert, die medizinischen und gesundheitlichen Konsequenzen bzw. die Bedeutung jener vier Säulen zu erkennen und zu beweisen. Ob Sie jetzt darunter Gesundheitsförderung, einen gesunden Lebensstil, Mind-Body-Medizin oder Integrative Medizin bzw. einfach Gesundheit subsumieren bzw. als Oberbegriff drüberschreiben, ist sekundär.

Wichtig ist nur, dass die Forschungen zu diesem Bereich zentral mit Forschungen zur Psychologie sowie der gesunden körperlichen Vorgänge verbunden sind. Die Kombination dieser einzelnen gesundheitsförderlichen Aspekte bzw. Säulen und die entsprechend fundierte wissenschaftliche Durchdringung auch der Anwendung beim Menschen in Medizin und Therapie sind als „Mind/Body Medicine“ in den USA in den 1970er und 80er Jahren bekannt geworden.

Mein ehemaliger Chef in Harvard, der Kardiologe Prof. Dr. Herbert Benson, der auch die Forschungen zur „Relaxation Response“ begründete, hat jenen Begriff seinerzeit kreiert. Er ist in den USA heute fest etabliert und erfährt wachsende Anerkennung – weit über die üblichen Disziplingrenzen hinaus. Auch der ganze Achtsamkeitsbereich, in Forschung und Praxis, wird heute den sog. „Mind-Body-Therapien“ zugeordnet. Aber wie immer man es nennt, am Ende ist entscheidend, dass man es tut. Begriffe sind dann sekundär.

Peter Schipek: Zum Schluss unseres Gesprächs möchte ich noch auf einige Empfehlungen und Übungen aus Ihrem Buch eingehen. Können Sie unseren Lesern eine oder zwei wichtige Übungen empfehlen?

Tobias Esch: Entlang der eben genannten vier Säulen wäre es wichtig, z. B. bei der Ernährung nicht nur auf Quantitäten beim Essen zu schauen, sondern auch auf die Qualität, d. h. die Zusammenstellung und die Art und Weise, wie wir uns ernähren. Sinnlichkeit und Genuss, d. h. Achtsamkeit und Anwesenheit, fördern eine gesunde Ernährung.

Unabhängig davon wissen wir natürlich schon, dass die konkrete Art der Diät oder Kostform eine Rolle spielt. Aber machen Sie dennoch mal die Übung, sich vorzunehmen, den nächsten Bissen oder die nächste Gabel, die Sie in den Mund führen wollen, ganz bewusst wahrzunehmen – von dem Moment an, wo die Gabel bzw. das Essen oder die Ladung die Lippen erreicht, zu schmecken, zu riechen, dann im Verlauf bewusst zu kauen, wahrzunehmen, wie der Vorgang des Essens abläuft. Diese Übung ist auch unter dem Namen „Rosinenübung“ bekannt geworden: Eine einzige Rosine kann mitunter über fünf Minuten geschmeckt, getastet, gerochen, gekaut werden.

Für die Säule der Entspannung könnte man bspw. damit beginnen, die Zwerchfellatmung wieder bewusst in den Alltag zu integrieren. Machen Sie die doch mal die Übung, sich eine Hand auf den Bauch zu legen, und bewusst das Heben und Senken dieser Hand wahrzunehmen. Sie werden feststellen, dass, wenn Sie z. B. als Alternative eine Faust kräftig zusammen ballen, die Bewegung im Bauch nachlässt.

Das heißt, Zwerchfellatmung und Anspannung der Muskulatur zum Kämpfen gehen in der Regel nicht Hand in Hand. Nutzen Sie die Atmung z. B. über den Tag immer wieder einmal, um in Situationen, die unangenehm oder stressig sind, einen kleinen Moment der Achtsamkeit und Anwesenheit einzubringen. Wir nennen diese Übung auch „S-A-R-W-Übung“: Wenn Sie bereits geübt darin sind, eine stressige Situation zu erkennen, wie beschrieben, dann können Sie genau jenes Signal dieser stressigen Situation als Anlass nehmen, bewusst ein inneres Stoppschild herauszunehmen:

  • (S), einen bewussten Atemzug zu tun
  • (A), z. B. indem Sie bewusst in den Bauch atmen,
  • dann zu reflektieren (R), wie Sie in dieser Situation reagieren wollen,
  • um schließlich eine Wahl (W) zu treffen:

Will ich den „Vulkan“ explodieren lassen? Will ich so reagieren, wie ich bisher immer reagiert habe? Oder will ich einmal etwas anderes ausprobieren?

Beispiele dafür habe ich ja bereits genannt. Allein das Bewusstmachen einer solchen Situation und einer möglichen Wahl kann die Motivation für folgende und weitere Schritte der Gesundheitsförderung oder Stressregulation stark erhöhen, wie ich oft beobachten durfte. Entspannungsübungen und Übungen der inneren Einkehr kann man in beliebiger Länge in den Alltag einlegen – man kann schon mit einem bewussten Atemzug beginnen.

Ideal scheint es aber zu sein, immer wieder einmal am Tag oder im Wochenverlauf auch etwas längere Entspannungsübungen einfließen zu lassen. Neben Meditationsformen können dieses auch die bekannten Arten der Progressiven Muskelentspannung oder des Autogenen Trainings sein. Für die Säule Bewegung gilt, dass eine körperliche Aktivität von etwa einer halben Stunde am Tag für mindestens fünf Mal pro Woche, d. h. zweieinhalb Stunden pro Woche, denken Sie z. B. an Walken, Jogging, Rad fahren oder auch die Gartenarbeit, ein ausgeprägt gesundheitsförderliches Potenzial zu haben scheinen, das auch ein eigener Gesundheitsschutzfaktor ist.

Wenn die körperliche Aktivität zusätzlich achtsam betrieben wird, scheint es einen weiteren Benefit zu geben. Gerade auch, wenn sie in der Natur stattfindet. Für die Säule Verhalten gilt, dass quasi alles, was uns positiv denken und handeln lässt, bzw. was wir aus dem „Bauchladen“ der Positiven Psychologie nehmen können, potenziell hilfreich sein kann.

Überlegen Sie sich z. B. oder – besser noch! – schreiben Sie es auf, z. B. vor dem Schlafengehen bzw. am Abend, wofür Sie an diesem Tag dankbar sind. Diese Übung kann unterschiedlich komplex praktiziert werden – warum beginnen Sie nicht einfach damit, mal für 5 Tage am Stück sich jeweils am Abend 3 Dinge zu überlegen (sofern Sie auf 3 Dinge kommen, wenn es weniger sind, ist es auch nicht schlimm), für die Sie an diesem Tag dankbar sind.

Eine andere Möglichkeit ist es, ein sogenanntes „Glückstagebuch“ zu führen: Wann immer im Tagesverlauf Ihnen positive oder Glück bringende Dinge passieren, versuchen Sie, sich diese zu merken und am Abend aufzuschreiben. Vielleicht haben Sie das Tagebuch sogar bei sich und können die Dinge direkt eintragen?

Ein Bekannter von mir nimmt morgens getrocknete Bohnen in seine eine Hosentasche und wird im Tagesverlauf immer dann, wenn ihm etwas Positives, Neues und Gutes bzw. vermeintlich Glückbringendes passiert, eine Bohne von der einen Seite auf die andere Seite, in die gegenüberliegende Hosentasche befördern.

So kann er am Ende des Tages, abends wenn er zu Hause ankommt oder bevor er zu Bett geht, anhand der Bohnen, die von der einen auf die andere Seite gewechselt sind, nicht nur das Glück noch einmal nacherleben, sondern auch die Achtsamkeit für glücksbringende Momente erhöhen. Solche kleinen Übungen sollten wir sicher nicht überschätzen, ihre Wirkungen und zu erwartende Effekte als weltverändernd annehmen, aber sie können Teil eines insgesamt sich auch an positiven Dingen orientierenden Lebensstils werden.

Im Sinne der Trainierbarkeit auch einer positiven Einstellung, bei allen Widerständen und der Begrenztheit, die Lebensumstände beeinflussen zu können, können solche Übungen eine hilfreiche Ergänzung zu anderen medizinischen und therapeutischen Optionen sein. Noch einmal: Es geht hier nicht um Alternativmedizin oder die Negierung von notwendigen Interventionen, medizinischen oder pharmakologischen Maßnahmen, oder ungesunden Verhältnissen und Umwelten.

Es geht dagegen um die Möglichkeit, einen eigenen Teil selbst für Heilung und Gesundheit beizutragen, den viele Menschen von uns verlernt haben, sich tatsächlich zuzutrauen. Und Übung macht auch hier den Meister: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!“ (Erich Kästner)

Peter Schipek