Unbewusstes Lernen: Wie „privilegiertes Lernen“ funktioniert

Unbewusstes Lernen ist uns aus dem Alltag bestens vertraut. Das Sprechen unserer Muttersprache, sowie motorische Fähigkeiten wie z. B. das Gehen werden von uns weitgehend beiläufig und unbewusst erworben. Einige Sprachschulen versprechen in ihrer Werbung schnelle und „einfache“ Methoden.

unbewußt lernenFremdsprachenlernen ohne Vokabeln oder Grammatik-Regeln, Zeitersparnis bis zu 80%, Lernen so ganz nebenbei … – darauf berufen sich einige Sprachschulen und verweisen dabei auf Forschungsergebnisse. Doch sind derartige Versprechen wirklich seriös?

Fakt ist, dass es unbewusstes – oder "privilegiertes" Lernen gibt. Daher interessieren mich Fragen, wie das unbewusste Lernen funktioniert und mit welchen Grenzen man rechnen muss. Um die genannten Fragen zu beantworten, habe ich ein Interview mit Dr. Ralph Schumacher geführt, das uns mehr Aufschluss über diese Art des Lernens bieten soll.

Vielleicht springen auch für Sie einige Anregungen durch dieses Interview heraus, die Sie selbst in der Praxis nutzen können.

Viel Spaß beim Lesen!

Interview mit Dr. Ralph Schumacher zum Thema „unbewusstes Lernen“

Peter Schipek: Herr Dr. Schumacher – Ihre Arbeitsgebiete sind die Philosophie des Geistes, die Kognitionsforschung, Theorien des Bewusstseins und der Wahrnehmung. In der Dezember-Ausgabe des Magazins „Gehirn&Geist“ schreiben Sie zum Thema „unbewusstes Lernen“.

Wie können wir uns die Forschung auf diesem Gebiet vorstellen?

Ralph Schumacher: Forschungen in diesem Gebiet fallen in den Bereich psychologischer Untersuchungen, bei denen anhand von Tests sowie mithilfe von Verhaltensbeobachtungen geprüft wird, über welche Kompetenzen Personen verfügen.

Die meisten Studien zum unbewussten Lernen sind nach dem folgenden Schema aufgebaut: Zunächst einmal werden mit einem Vortest die Kompetenzen der Versuchspersonen in einem bestimmten Bereich geprüft. Anschließend gibt man ihnen die Gelegenheit, bestimmte Inhalte, wie zum Beispiel künstliche grammatische Regeln oder bestimmte Regelmäßigkeiten bei der Abfolge von Zahlen- oder Buchstabenreihen, unbewusst bzw. implizit zu erlernen.

Danach wird mit einem Test erfasst, ob sie tatsächlich neues Wissen erworben haben und daher in der Lage sind, bestimmte Aufgaben zu lösen. Wenn dies der Fall ist, wird anschließend mit einem weiteren Test geprüft, ob sie zudem in der Lage sind, das Wissen, das ihnen für die Lösung der Testaufgaben zur Verfügung steht, auch zu beschreiben.

In den Fällen, in denen das Wissen zwar für Problemlösungen, aber nicht für Beschreibungen zur Verfügung steht, wird von unbewusstem bzw. implizitem Wissen gesprochen.

Auf diese Weise konnte zum Beispiel die Psychologin Elsbeth Stern in einer gemeinsamen Studie mit dem amerikanischen Psychologen Robert S. Siegler zeigen, dass Grundschulkinder auch bestimmte Strategien zum Lösen von Rechenaufgaben unbewusst erlernen können.

Die Kinder waren nämlich in der Lage, bestimmte Rechenstrategien anzuwenden, aber sie konnten diese Strategien nicht korrekt beschreiben. Gegenwärtig untersuchen wir am Institut für Verhaltenswissenschaften der ETH Zürich, ob etwas Ähnliches auch auf den Erwerb von Problemlösungsstrategien im Bereich der Physik zutrifft.

Peter Schipek: Ich darf mit einem Zitat aus Ihrem Artikel beginnen: „Unbewusstes Lernen ist ein Phänomen, das uns aus dem Alltag bestens vertraut ist, denn viele Kompetenzen, wie zum Beispiel das Sprechen unserer Muttersprache oder motorische Fähigkeiten werden von uns weitgehend beiläufig und unbewusst erworben“.

Genügt es also für Kinder ein „sprechendes Umfeld“ zu haben, um die Muttersprache zu erlernen?

Ralph Schumacher: Ja, sicher. Das liegt daran, dass es sich beim Erwerb der Muttersprache um einen Lernprozess handelt, bei dem die Abfolge der einzelnen Lernschritte durch genetisch festgelegte Lernprogramme gesteuert wird. Diese Lernprogramme begnügen sich mit den sprachlichen Reizen, die Kinder in einer ganz normalen Umgebung erhalten.

Beispielsweise hat die amerikanische Psychologin Patricia Kuhl in einer Reihe von Untersuchungen sehr eindrucksvoll belegt, wie bereits Säuglinge Sprachlaute anhand der relativen Häufigkeit ihres Auftretens identifizieren und auf die Weise die Grundbausteine ihrer Muttersprache kennen lernen – und zwar bevor sie deren Bedeutung verstehen! Dieses statistische Lernen der Säuglinge erfolgt natürlich unbewusst.

Diese Art des Lernens – das wir zum Beispiel auch bei motorischen Fähigkeiten wie der Fähigkeit zum aufrechten Gehen finden – wird in der Psychologie als „privilegiertes Lernen“ bezeichnet, weil es durch Lernprogramme angestoßen und angeleitet wird, die im Zuge der Evolution entstanden sind.

Auf den Erwerb anderer Inhalte und Fähigkeiten wie physikalisches Wissen oder die Fähigkeit zum Prozentrechnen konnte uns die Evolution hingegen nicht mit entsprechenden Lernprogrammen vorbereiten, weil diese kulturellen Errungenschaften erst vor vergleichsweise kurzer Zeit entstanden sind. Der Erwerb dieser Inhalte und Fähigkeiten wird daher als „nicht-privilegiertes Lernen“ bezeichnet.

Es zeichnet sich gegenüber dem privilegierten Lernen dadurch aus, dass es durch geeignete Instruktionen, wie zum Beispiel schulischen Unterricht, angeleitet werden muss. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten des Lernens ist von großer Bedeutung. Und er muss unbedingt beachtet werden, um nicht zu falschen Schlüssen zu gelangen. Denn daraus, dass manche sprachliche und motorische Fertigkeiten unbewusst erlernbar sind, darf nicht vorschnell geschlossen werden, dass sie auch auf andere Inhalte und Fähigkeiten zutrifft, die „nicht-privilegiertes Lernen“ erfordern.

Peter Schipek: Wir lernen die Wörter und Grammatik-Regeln unserer Muttersprache also weitgehend unbewusst. Warum fällt uns das Fremdsprachenlernen im Erwachsenenalter dann oft so schwer?

Liegt es daran, dass wir das Erlernen einer Fremdsprache auf einem zu „intellektuellem“ Weg angehen? Können wir auch im späteren Alter eine Fremdsprache unbewusst (ohne stures Lernen von Vokabeln und Grammatik-Regeln) lernen?

Ralph Schumacher: Das Erlernen von Fremdsprachen fällt uns vor allem deshalb schwerer als der Erwerb unserer Muttersprache, weil wir unsere Muttersprache schon sehr gut beherrschen – und weil es dadurch zu Konflikten zwischen den neuen Informationen und unserem bereits vorhandenem sprachlichen Wissen kommt.

Wenn es um das Lernen von Fremdsprachen im Erwachsenenalter geht – und wir reden hier nicht von zweisprachig aufwachsenden Kindern – dann führt am Vokabeln- und Grammatiklernen kein Weg vorbei.

Dies kann natürlich durch implizites Lernen unterstützt werden, beispielsweise wenn man sich in einem Land aufhält, dessen Sprache man gerade lernt. Aber dieses implizite Lernen von Sprachen kann bestenfalls unterstützend sein. Das bewusste Sprachenlernen kann es nicht ersetzen.

In diesem Fall ist es entscheidend, zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Fällen zu unterscheiden: dem Erwerb der Muttersprache im Zuge „privilegierten Lernens“ und dem Lernen weiterer Sprachen im Erwachsenenalter im Zuge „nicht-privilegierten Lernens“, das Konzentration, Aufmerksamkeit und Bewusstsein erfordert.

Peter Schipek: Viele Sprachschulen versprechen in ihrer Werbung schnelle und „einfache“ Methoden. Fremdsprachenlernen ohne Vokabeln oder Grammatik-Regeln, Zeitersparnis bis zu 80 %, Lernen so ganz nebenbei und berufen sich dabei auf Forschungsergebnisse.

Wie ernst zu nehmen sind denn solche Versprechen und was halten Sie davon?

Ralph Schumacher: Das sind unseriöse Werbeversprechen, die durch keinerlei Forschungsergebnisse gestützt werden – und die nur falsche Erwartungen wecken.

Peter Schipek: Wie lernen wir nun unbewusst? Sind in unserem Gehirn verschiedene „Systeme“ für bewusstes und unbewusstes Lernen zuständig?

Ralph Schumacher: Es gibt tatsächlich Untersuchungen, die dafür sprechen, dass bewusstes und unbewusstes Lernen in verschiedenen kognitiven Systemen stattfinden.

In diesen Studien konnte gezeigt werden, dass manche unbewussten Lernprozesse – zum Beispiel beim Golfspielen – nicht von zusätzlichen bewussten Aktivitäten – wie dem aufmerksamen Zählen von Tonsignalen – beeinträchtigt werden.

Daraus wurde dann der Schluss gezogen, dass die betreffenden kognitiven Prozesse offenbar in Systemen stattfinden, die voneinander unabhängig sind. Ob diese verschiedenen kognitiven Systeme aber auch auf neuronaler Basis in unterschiedlichen Hirnarealen realisiert sind, ist eine bislang weitgehend unbeantwortete Frage.

Peter Schipek: Ist für unser Gehirn unbewusstes Lernen genauso aufwändig wie bewusstes Lernen?

Ralph Schumacher: Da es automatisiert – sowie ohne Lernabsicht und Aufmerksamkeit – erfolgt, ist es zunächst einmal weniger aufwändig. Das heißt, durch unbewusstes Lernen werden weniger kognitive Ressourcen einer Person in Anspruch genommen als durch bewusstes Lernen.

Man muss aber hinzufügen, dass unbewusstes Lernen auch seine Nachteile hat. Da es nämlich nicht mit einer bewussten Lernabsicht erfolgt, ist es auch nicht hypothesengeleitet. Es geht dabei also nicht darum, eine bestimmte Vermutung gezielt auszuprobieren.

Dies hat zur Folge, dass sich implizites Lernen eher an Oberflächenmerkmalen orientiert. Hinzu kommt, dass einige Studien dafür sprechen, dass sich implizit Erworbenes weitaus schlechter auf andere Inhaltsbereiche übertragen lässt als Wissen, das wir mit Bewusstsein erworben haben.

Peter Schipek: Wo sind denn die Grenzen unbewussten Lernens? In den 90er Jahren untersuchten Psychologen die Rechenfertigkeiten von brasilianischen Straßenkindern, die regelmäßig auf dem Markt mithalfen. In standardisierten Rechentests schnitten die Schüler schlecht ab.

Beim Verkaufen auf ihren Marktständen dagegen rechneten sie immer richtig. Sie kamen jedoch auf ganz andere Art und Weise zu den richtigen Ergebnissen. Können wir auch Bereiche der Mathematik, z. B. das Rechnen unbewusst erlernen?

Ralph Schumacher: Die eingeschränkten Rechenfähigkeiten dieser Kinder haben eher nichts mit unbewusstem Lernen zu tun. Vielmehr veranschaulichen sie einen ganz wichtigen anderen Aspekt der menschlichen Kognition – nämlich ihre Bereichsspezifität.

Die Kinder haben ihre Rechenfähigkeiten in einem ganz spezifischen inhaltlichen Kontext erworben und konnten sie nicht spontan auf andere Bereiche – in diesem Fall auf die anders dargestellten Rechenaufgaben – übertragen.

Die bereits erwähnte Studie von Stern und Siegler belegt, dass einige mathematische Lösungsstrategien auch implizit erlernt werden können. Man muss sich aber davor hüten, dies nun einfach zu generalisieren! Wir sind, was das unbewusste Lernen kognitiv anspruchsvoller Inhalte und Fähigkeiten betrifft, in der Forschung noch ganz am Anfang!

Peter Schipek: Inwiefern erweitern Ihre Erkenntnisse die gängigen Lerntheorien und welche Bedeutung haben diese Erkenntnisse für die Gestaltung des Unterrichts an den Schulen oder auch für die Weiterbildung im Erwachsenenalter?

Ralph Schumacher: Eine wichtige Botschaft sollte sein, dass in diesem Bereich noch ganz viele Forschungsfragen offen sind und dass man daher als Lehrer und Pädagoge nicht auf Versprechungen zum unbewussten Lernen hereinfallen sollte. Die sind nämlich allesamt haltlos. Es gibt in diesem Bereich einfach nur ganz wenige gesicherte Erkenntnisse – und daher auch noch keine verlässlichen Patentrezepte.

Es ist aber trotzdem interessant zu überlegen, inwieweit unbewusstes Lernen auch in anspruchsvollen Inhaltsbereichen unterstützend herangezogen werden kann. Gegenwärtig untersuchen wir an der ETH Zürich zum Beispiel, ob Schüler Strategien zur Lösung physikalischer Probleme implizit erlernen können. Wir sind gespannt auf die Ergebnisse!

Peter Schipek: Herr Dr. Schumacher – herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

Peter Schipek