Rudolf Steiner: Die Kunst mit allen Sinnen zu lernen …

Traditionell spricht man von den fünf Sinnen, mit denen wir unsere Umwelt wahrnehmen. Wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. Es fällt nicht schwer, diese Sinne einem Teil unseres Körpers bzw. einem Organ zuzuordnen. Kann es denn sein, dass wir zu dem werden, was wir sind, durch die Aufnahme über unsere Sinnesorgane?

Diese Sinne haben neben der aufnehmenden Funktion auch noch eine steuernde Funktion – sie üben Kontrolle über uns aus. Wir brauchen uns nur im jeweiligen Wortfeld umschauen, und schon entdecken wir manche Auffälligkeiten.

Wir sehen nicht nur, sondern wir gelangen zu Einsichten und von anderen Menschen abweichenden Ansichten. Wir hören nicht nur, wir lauschen nicht nur, wir sind bei Reden nicht nur Zuhörer, oft wird auch erwartet, dass wir gehorchen.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Geschmäcker sind unterschiedlich. Manches können wir nicht schmecken, und das bedeutet so viel wie ertragen.

Beim Riechen kann es sein, dass wir uns davon betören lassen, aber auch, dass wir einen fremden, einen nicht vertrauten Geruch überhaupt nicht ausstehen können.

Beim Tasten erkennen wir, dass wir manche Gegenstände anfassen, angreifen müssen, um etwas, und zwar das Wesen der Dinge begreifen zu können. Nur durch das Tasten, nur durch die Berührung entstehen auch Gefühle, zu Dingen ebenso wie zu Menschen. Wenn wir uns diese dem Körper zugeordneten Sinne ansehen, dann merken wir, dass dies bei weitem noch nicht alles sein kann, was uns Menschen ausmacht, dass wir zweifellos mehr sind, als bloß das, was aus dem Gebrauch dieser Sinne in uns entsteht.

Sinneslehre von Rudolf Steiner

Daher ist es richtig und wichtig, dass wir uns der Sinneslehre von Rudolf Steiner zuwenden. Er benennt zwölf Sinne. Nicht nur die physischen, sondern auch geistige und seelische Sinne. Erst in der Gesamtheit werden wir vollständig.

Es ist völlig normal, dass wir unterschiedlich begabt sind und unsere Sinne unterschiedlich ausgeprägt sind. Nicht jeder von uns hat einen Blick wie ein Fotograf, nicht jeder so ein Gehör wie ein Musiker oder nicht jeder so einen Geschmack wie ein Koch. Aber Talente entwickeln sich schon in früher Kindheit. Wo ein Kind Bestätigung und Aufmunterung erfährt, dort arbeitet es an der Entwicklung der auch von einer Bezugsperson nur so empfundenen Begabung weiter. Hingegen dort, wo es ein negatives Feedback erfährt, wo es sich blamiert fühlt, dort stellt es möglicherweise seine Bemühungen um Verbesserung der Fähigkeiten ein.

Sinneslehre von Rudolf SteinerVon der Geburt an begleitet uns der Lebenssinn. Wir freuen uns, auf der Welt zu sein. Wir sind neugierig, diese Welt zu erforschen und kennen zu lernen, zu begreifen. Jetzt scheint es so, dass sich in die Wortwahl Begriffe einschleichen, die möglicherweise auch in ein anderes Feld gehören.

Daher empfiehlt es sich, dass wir uns darüber verständigen, dass es nicht um eine einwandfreie Einteilung in Kästchen, Häuser oder Felder geht, sondern um die Erkenntnis, dass wir Menschen sinnliche Wesen sind, die gut daran tun, ihre Sinne, ja den Kosmos ihrer Sinnlichkeit, bestmöglich zu entfalten.

Wir sind mit zunehmendem Alter von Gewohnheiten geleitet, daher beachten wir kaum Hunger und Durst, und wenn wir auf körperliche Signale antworten, dann bringen wir das nicht immer automatisch mit unserem Lebenssinn in Verbindung. Erst wenn sich durch falsche Lebensgewohnheiten die Qualität unseres Lebens verschlechtert, auch Leiden und Schmerzen auftreten, bemerken manche, was sie früher falsch gemacht haben. Wir erkennen meist spät die Signale und Botschaften, die uns der Körper schon früh zukommen ließ.

Reden wir vom Gleichgewichtssinn. Jeder kennt natürlich aus dem Biologie-Unterricht die Stelle im Ohr, die dafür zuständig ist, dass wir nicht durch die Welt taumeln, sondern wissen, was oben und unten ist, dass wir uns orientieren können. Aber es geht noch um mehr. Unser Leben soll im Gleichgewicht, in Harmonie sein. Wir wollen uns ein Bild davon machen, wer zu unseren Freunden gehört und wer uns ablehnt.

In einer Gruppe soll ein Gleichgewicht bestehen zwischen dem Geben und dem Nehmen, damit sich alle Zugehörigen fair behandelt und geachtet fühlen können. Der Gleichgewichtssinn macht auch aus, dass wir einen festen Platz im sozialen Raum haben, dass wir einen Standpunkt einnehmen können und dabei auf einem festen, gesicherten Boden stehen. Wir haben Probleme mit diesem Sinn, wenn wir an der Seekrankheit leiden oder beim Bergwandern neben uns die Leere, einen Abgrund spüren.

Bewegungssinn nach Rudolf SteinerWir wollen aber nicht nur an einem Platz fest stehen, sondern wir brauchen Bewegung. Daher haben wir auch einen Bewegungssinn. Indem wir uns bewegen, lernen wir mehrere verschiedene Standpunkte kennen.

Rudolf Steiner hat in seiner Schule dem Tanzen, der Eurythmie, größte Bedeutung geschenkt. Hier soll auf der körperlichen Ebene verarbeitet werden, dass wir nicht in einem alten Karma stecken bleiben, sondern durch das Weiterbewegen neue Interessen finden.

Wir werden bereit, einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Bewegungen im Kleinen, im Tanz, sind immer auf Ziele ausgerichtet, so wie im Großen die Bewegung unseres Lebens unseren Lebensweg, unser Schicksal, mitbestimmt.

Nun zu einem Sinn, der in der frühen Menschheitsgeschichte von größter Bedeutung war. Das ist der Temperatur- oder Wärmesinn. Als der Mensch noch vollkommen von der Natur abhängig war, konnte er Temperaturschwankungen besser wahrnehmen. Bei manchen Menschen hat sich Wetterfühligkeit bis in unsere Tage erhalten. Heute sind es die Zellen auf unserer Haut, die uns über Kälte oder Wärme informieren.

Wir reagieren auf Temperaturschwankungen. Nach einer langen Hitzeperiode sind wir über eine kleine Abkühlung froh und diese kann unser Wohlempfinden steigern. Nach einer Zeit der bitteren Kälte sind wir schon zufrieden, wenn sich die Temperaturen auf einen für die Jahreszeit üblichen Wert zu bewegen. Wir sollten es uns überlegen, ob wir uns etwas Gutes tun, immer nur in völlig klimatisierten Räumen zu leben, in denen es immer gleich warm ist.

Noch ein Wort zu unseren Lebensräumen. Wir gestalten sie nach unserem Empfinden mit warmen oder mit kalten Farben. Ein Bild an der Wand kann den Charakter eines Raumes und unser Befinden an diesem Ort bedeutend verändern.

Nun zu einem Sinn, der mit dem Hören eng zusammenhängt. Das ist unser Sprachsinn oder der Wortsinn.

Unsere Muttersprache ist uns vertraut, sie hat eine ganz bestimmte Melodie. Sie bestimmt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe.

Unser Sprachsinn ist somit auch ein sozialer Sinn. Etwas anders ist dies bei der Musik, sie ist im Grunde genommen international, auch wenn wir die Heimat von Walzer, Polka oder einem Marsch jeweils woanders zuordnen.

Rudolf Steiner Lernen mit allen Sinnen Es ist ein oft wiederholtes gedankliches Experiment gewesen: Warum können wir nicht eine Weltsprache schaffen, eine Kunstsprache mit Elementen aus mehreren Sprachen dieser Welt?

So schön auch der Gedanke sein mag, eine Kunstsprache wurde bisher so gut wie nicht angenommen und hat keine Chance, die globale Kommunikation zu bestimmen.

Unsere Sprache, unsere Wörter, weisen allerdings nur darauf hin, dass wir damit Vorstellungen und Gedanken verbinden. Unser Gedankensinn ist unsere größte schöpferische Kraft. In unserer Vorstellung entwickeln wir, wie wir selbst und unsere Umgebung sein sollten, wie wir sie formen und gestalten möchten.

Die Sprache und unsere Gedanken sind aber nur Instrumente, mit denen wir den Versuch unternehmen können, anderen Menschen begreiflich zu machen, was wir meinen. Das gelingt uns zumeist recht gut in unserer Muttersprache, aber wohl jeder Übersetzer wird immer wieder an Stellen geraten, die einfach nicht übersetzbar sind (oder auch eine andere Übersetzung und damit Deutung zulassen).

Und nun zum letzten der zwölf Sinne, zum Ich-Sinn. Wir haben es nötig, uns von den übrigen Menschen auch abgrenzen zu können, nicht von anderen Individuen gelenkt und manipuliert zu werden, sondern unseren eigenen Lebensweg selbst zu bestimmen. Nur indem wir ein selbstbestimmtes und nicht ein fremdbestimmtes Leben führen, können wir uns so entfalten, wie es für jeden von uns richtig und stimmig ist.

Indem wir alle unsere Sinne kennen und schätzen, haben wir die Chance sie auch einzusetzen, um mit ihrer Hilfe genau das zu lernen, was in uns steckt, und zu finden, wo unsere Interessen liegen. Und mit dem Kosmos in uns schaffen wir eine angenehme, passende Außenwelt.

Noch ein Hinweis zum Abschluss: Eine gute Einführung in die Sinneslehre Rudolf Steiners findet man bei: Albert Soesman, Die zwölf Sinne. Tore der Seele. Verlag Freies Geistesleben. Zeist, 1994.

Günter Wittek

Günter Wittek