Gehirnforschung: Die lebenslange Formbarkeit des Gehirns

Viele Menschen glauben noch immer an die veraltete Ansicht, nach der sich das Gehirn nur bei Säuglingen bzw. (Klein-)Kindern formt und gestaltet.

Sind die Gehirnstrukturen einmal gebildet, können wir später (also als Jugendliche, Erwachsene oder Senioren) nichts mehr daran ändern. Getreu dem Sprichwort: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“

Doch neuere Gehirnforschungsergebnisse entlarven diese These als falsch. Man hat herausgefunden, dass das Gehirn seine Formbarkeit das ganze Leben lang nicht verliert. Selbst im hohen Alter kann das Gehirn noch „lernen“ und seine Struktur den „Anforderungen“ gemäß verändern und anpassen.

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Lesen Sie in diesem Artikel das Interview, das Peter Schipek mit Prof. Dr. Norbert Herschkowitz zu diesem Thema geführt hat. Am Ende des Interviews finden Sie noch Angaben zu Person und Qualifikation von Prof. Dr. Norbert Herschkowitz.

Interview über „die lebenslange Formbarkeit des Gehirns“

Peter Schipek: Unter dem Titel „Plastizität – Die lebenslange Formbarkeit des Gehirns“ beschreiben Sie, dass die Art und Weise der Nutzung des Gehirns einen entscheidenden Einfluss darauf hat, welche neuronalen Verschaltungen angelegt, stabilisiert oder auch destabilisiert werden.

Die Struktur unseres Gehirns passt sich also an seine konkrete Benutzung an. Wenn unser Gehirn aber so wird, wie wir es gebrauchen, dann stellt sich die Frage, wie wir mit unserem Gehirn umgehen müssen, damit wir unser Potenzial ausschöpfen können.

Norbert Herschkowitz: Um es kurz zu fassen: mit Sorgfalt und Respekt. Das Gehirn muss vor Erschütterungen und Verletzungen geschützt werden. Alles muss getan werden, um Infektionen vorzubeugen oder sofort zu behandeln. Substanzen, die die Funktionen der Nervenzellen stören, sind zu vermeiden (Drogen, Alkohol). Wichtig ist genügend Schlaf und eine Ernährungsweise, die auch für den gesamten Körper optimal ist.

Um das Potenzial des Gehirns ausschöpfen zu können, braucht es die Bereitschaft, Neues zu lernen, aus Erfahrungen zu lernen und Herausforderungen kreativ und konstruktiv anzupacken.

Peter Schipek: „Jedes Gehirn – und damit jeder Mensch – ist einmalig“ – ein Satz aus dem Buch. Gibt es dann den (nur) gesunden und „normalen“ Menschen in Wirklichkeit kaum oder gar nicht?

Norbert Herschkowitz: Wörter wie „gesund“ und „normal“ werden durch die jeweilige Kultur und Gesellschaft definiert – und nicht durch die Neurowissenschaft.

Peter Schipek: Die meisten Menschen denken, dass wir durch unsere Gene gesteuert werden. Dieser Glaube nährt die Vorstellung, dass wir „Opfer“ unserer Gene sind. In Ihrem Buch schreiben Sie: „ … in diesem Sinn sind auch Gene plastisch und ein Leben lang formbar, sei es durch die Umgebung, den Lebensstil oder die Ernährung“. „ … ein Gen wird aktiviert oder auch nicht“.

Sie beschreiben also ein wesentlich dynamischeres und beeinflussbareres System. Was können wir uns unter dieser Steuerung vorstellen und wann und warum werden Gene an- und abgeschaltet? Müssen wir dann nicht auch zwischen angeboren und vererbt unterscheiden?

Norbert Herschkowitz: Ja, die heutige Forschung ergibt tatsächlich ein dynamischeres Modell für die Wirkung der Genetik. Jede Körperzelle enthält die jedem Menschen eigene genetische Information, die die Funktionen der Zelle steuern. Nehmen wir an, dass ein Mensch eine Kombination von Genen besitzt, die das Risiko für Lungenkrebs erhöht. Wenn er nicht raucht, werden gewisse Prozesse, die zum Ausbruch der Krankheit führen, gar nicht in Gang gesetzt.

Vielleicht hat ein Mensch eine Kombination von Genen, die das Risiko von einer Lese- Rechtschreibschwierigkeit erhöhen. Durch geeignete Übungen kann er den Einfluss dieser Gene eindämmen oder andere, günstige, aktivieren.

„Vererbt“ bezieht sich auf die Gensubstanz (DNS), Informationen, die an die nächste Generation weitergegeben wird. „Angeboren“ heißt, dass eine Eigenschaft bei der Geburt beobachtet wird. Die Interaktion von Genetik und Umwelt findet aber schon ab der Befruchtung – und während des ganzen Lebens – statt; „angeboren“ umfasst also sowohl die Gene wie auch die durch die Umgebung verursachten Veränderungen.

Peter Schipek: Gehirn und Kindheit – dazu ein Zitat aus Ihrem Buch: „Während der ersten drei Jahre findet eine emsige Bautätigkeit im Netzwerk Gehirn statt. Kenntnisse dieser Entwicklung haben Eltern gelegentlich unnötig verunsichert“.

Was stört, was nützt, was ist optimal für das kindliche Gehirn in dieser frühen Phase?

Norbert Herschkowitz: Grund für eine Verunsicherung sind die Annahmen, dass diese emsige Bautätigkeit nur durch die aktive Mitarbeit von Eltern stattfindet und dass Fähigkeiten, die wichtig für das Leben sind, sich nur in dieser Phase entwickeln. Wichtig in dieser frühen Phase sind Eltern, die einfühlsam auf das Kind zugehen und es in das Alltagsleben der Familie einbeziehen.

Das gemeinsame Anschauen und Besprechen von Bilderbüchern sowie Gespräche – die Zuhören UND Reden erfordern – regen das Kind zum Denken an und fördern seine soziale und emotionale Entwicklung. Störend sind ein Überfluss an Stimulation, Erwachsene, die keine klaren sozialen Signale geben oder das individuelle Temperament des Kindes nicht beachten.

Peter Schipek: Die Gehirnforschung lieferte in den letzten Jahren immer neue Erkenntnisse. Wie lassen sich diese Erkenntnisse in Kindergarten und Schule umsetzten?

Norbert Herschkowitz: Es ist wichtig festzustellen, dass die Hirnforschung keine direkte Einwirkung auf Kindergarten und Schule hat. Die Hirnforschung kann aber die Grundlagen liefern, die zur Erarbeitung von neuen Methoden und zum besseren Verständnis der Individualität führen.

Wichtige Gebiete sind Lernen, Aufmerksamkeit, Motivation und Temperament. Die Umsetzung der neuen Kenntnisse in die Praxis findet dann durch Eltern und Pädagogen statt.

Peter Schipek: Ein recht interessantes Thema für Eltern – Pubertät und Adoleszenz: In der Pubertät organisiert sich das Gehirn neu. Was passiert denn mit den pubertierenden Jugendlichen während der Wachstums- und Neuordnungsprozesse?

Norbert Herschkowitz: Gehirnentwicklung ist ein konstanter Prozess, der einige Wochen nach der Befruchtung beginnt und bis ins hohe Alter andauert. Wie in der Kindheit sind die Jahre zwischen 10 und 20 eine Zeit des intensiven Ausbaus im Gehirn. Parallel dazu finden intensive hormonale Reifungsprozesse statt, die den Körper auf die Fortpflanzung vorbereiten. Diese haben auch einen Einfluss auf Hirnfunktionen. Doch die „Turbulenzen“, die wir im Zusammenleben mit Pubertierenden und Adoleszenten erleben, sind zum großen Teil gesellschaftlich bedingt.

Peter Schipek: Das Altern gestalten – ein wichtiges Kapitel in Ihrem Buch. „Viele Menschen sind überzeugt, dass es im Alter nur noch bergab geht. Zahlreiche Studien wurden zur objektiven Erfassung der Veränderungen der geistigen Leistungen durchgeführt. Zusammen liefern sie ein sehr differenziertes Bild.“ – ein Zitat aus Ihrem Buch.

Welche Fähigkeiten nehmen im Alter zu und welche ab?

Norbert Herschkowitz: Sinnesfunktionen (Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen) nehmen ab, auch sämtliche Funktionen, die ein rasches Reagieren erfordern. Das „Arbeitsgedächtnis“ (die Fähigkeit Information aus dem Speicher zu holen und anzuwenden) nimmt ebenfalls ab.

Was zunimmt sind Erfahrungen, Menschenkenntnisse und Sprachgebrauch.

Peter Schipek: Dass man geistig fit bleibt, ist nicht nur Veranlagung oder Glückssache, sondern beeinflussbar, schreiben Sie. Dazu ein weiteres Zitat aus Ihrem Buch: „Eine aktive Gestaltung des Alters basiert auf den drei Prinzipien Vorbeugung, Aktivität und Integration“. Erläutern Sie bitte unseren Lesern die wichtigsten Punkte dieser drei Prinzipien.

Norbert Herschkowitz: Vorbeugung heißt, dass man seinen Lebensstil danach richtet, Krankheiten und Unfälle zu vermeiden, den Körper fit zu halten und Sinnesleistungen zu verbessern. Aktivität bedeutet körperliche sowohl wie auch geistige und soziale Aktivität. Integration bedeutet Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und umfasst zum Beispiel, Zeitung lesen, Mitgliedschaft im Verein, Diskutieren mit Freunden, Mitmachen in Theatergruppe oder Orchester, Helfen in der Nachbarschaft oder Familie.

Es geht nicht darum, das Leben mit allen Mitteln zu verlängern, sondern lebensverkürzende Verhaltensweisen zu vermeiden.

Kurzvita zu Prof. Dr. med. Norbert Herschkowitz

Prof. Dr. med. Norbert Herschkowitz ist Kinderarzt und Neurowissenschaftler. Im Rahmen seiner internationalen Forschungstätigkeit (Europa & USA), leitete er die Abteilung für Entwicklung und Entwicklungsstörungen an der Universitäts-Kinderklinik Bern. Elinore Herschkowitz-Chapman ist Pädagogin und war mehrere Jahre als Dozentin am Lehrerseminar Bern tätig. Sie lebt mit ihrem Ehemann in der Nähe von Bern.

Herschkowitz beschäftigt sich seit seinen Studientagen begeistert und fasziniert mit der Hirnentwicklung und den vielfältigen Leistungen des Gehirns. Mit seiner Frau, der Lehrerin Elinore Chapman Herschkowitz, präsentiert er auf eine für Laien ansprechende und gut verständliche Weise neue Forschungsergebnisse, die praktische Konsequenzen für den Alltag haben.“

„Das Gehirn, das dynamischste Organ des menschlichen Organismus, vernetzt Körper, Geist und Verhalten und verändert sich auf Grund von Genetik und Erfahrungen während des ganzen Lebens. Kenntnisse dieser Zusammenhänge helfen uns, die Ressourcen des Gehirns in jedem Lebensabschnitt effizienter einzusetzen.“ (Das vernetzte Gehirn – Verlag Hans Huber)

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Peter Schipek