Warnung vor Fichte: Einführung ins Werk von Johann Gottlieb Fichte

Wer sich für das Thema Philosophie interessiert, sollte von dem großen Denker Johann Gottlieb Fichte gehört haben. In diesem ausführlichen Aufsatz über Fichte bekommen Sie eine Einführung über sein Leben und Werk.

Folgende Themen werden angesprochen:

  • Einleitung
  • 1. Was meint Fichte mit „Wissenschaftslehre“?
  • 2. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 1. Vortrag
  • 3. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 2. Vortrag
  • 4. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 3. Vortrag
  • 5. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 4. Vortrag
  • 6. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 5. -10.Vortrag
  • 7. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 11. -20.Vortrag
  • 8. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 21. -28.Vortrag
  • 9. Fichte als Vorläufer des Nationalsozialismus
  • 10. „Die Wissenschaftslehre“ (1812)
  • 11. Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796)
  • 12. Fichte im Urteil seiner Kritiker
  • Literaturverzeichnis

Die Wissenschaftslehre wurde deshalb in den Mittelpunkt des Aufsatzes gestellt, weil sie von Fichtes Werk am schwersten zugänglich ist, Fichte aber so wichtig war, daß er sie immer wieder in einer neuen Version vorgetragen hat.

Die „Reden an die Deutsche Nation“ und „Der geschlossene Handelsstaat“ wurden aufgenommen, weil sie aus der heutigen Sicht zum Teil wie eine gedankliche Einstimmung auf die Entwicklung Deutschlands von 1933 bis 1945 wirken können.

Am Schluß des Aufsatzes gehe ich noch darauf ein, wie andere Philosophen über Fichte gedacht haben – kaum ein Philosoph ist im Urteil seiner Kollegen so schlecht weggekommen wie Fichte.

Einleitung

Johann Gottlieb Fichtes (1762-1814) Philosophie ist extrem schwer zugänglich. Zur Lektüre empfehlen kann ich außer seiner Novelle „Das Thal der Liebenden“ (1786, VIII 439-459), seiner Rede über die „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten“ (1793, VI 1-35) und seinen „Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten“ (1811, XI 145-208) nur seine Schriften zur Religionsphilosophie (Bd. V). Dieser Satz ist ernst und wörtlich gemeint. Wer sich darüber hinwegsetzt, ist selber schuld, wenn er seine Zeit verplempert – es sei denn, er ist bereit, alles zu lesen – einen Autor ganz kennenzulernen lohnt sich immer.

Fichtes Stil ist hochtrabend und arrogant. Er steht zum dürftigen bis widerlichen Inhalt seiner Philosophie in einem krassen Mißverhältnis. Was Fichte über Ich, Freiheit und Vernunft von sich gibt, bleibt in logischen Erwägungen stecken. Was er über Gott und Moral schreibt, sind romantische Ergüsse mit dem Umhang eines wissenschaftlichen Mäntelchens. Seine „Wissenschaftslehre“ ist nicht mehr als das Dreschen von leerem Stroh.

Was Fichte in seinen berühmten „Reden an die Deutsche Nation“ verkündet hat, kann man im Nachhinein als Programm für Hitlers totalitären Polizeistaat interpretieren. Das ist nicht übertrieben. Weiter unten werde ich die einschlägigen Stellen zitieren.

Zur Einstimmung noch ein kleiner Vorgeschmack, wie Fichte über die Menschenrechte dachte. In „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre“ (1796) heißt es: „Auf dem Gebiete des Naturrechts hat der gute Wille nichts zu thun. Das Recht muss sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen guten Willen hätte; und darauf geht eben die Wissenschaft des Rechtes aus, eine solche Ordnung der Dinge zu entwerfen. Physische Gewalt, und sie allein, giebt ihm auf diesem Gebiete die Sanction“ (III 54). „Es ist daher nichtig von einem Rechte auf Denkfreiheit, Gewissensfreiheit, u. s. f. zu reden. Es giebt zu diesen inneren Handlungen ein Vermögen und über sie Pflichten, aber keine Rechte“ (III 55).

Nach dieser Logik, wäre sie denn schlüssig, ist unser Grundgesetz Schall und Rauch. Die Grund- und Menschenrechte zeichnen sich ja gerade dadurch aus, daß sie (zumindest theoretisch) auf dem Rechtsweg durchsetzbar sind.

1. Was meint Fichte mit „Wissenschaftslehre“?

Wer’s nicht lassen kann, lese zuerst Fichtes „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“ (1797, I 519-534). Insgesamt hat Fichte seine Wissenschaftslehre zwölfmal dargestellt, zuerst 1794, zuletzt 1812 (vgl. die Bände I, II und X). Dazu kommt noch ein Vergleich der Wissenschaftslehre mit dem System eines gewissen Prof. Schmid (II 421-458). Fichte fühlte sich unverstanden, hat aber die Hoffnung nicht aufgegeben, irgendwann doch noch verstanden zu werden.

Was die Wissenschaftslehre ist, hat Fichte oft genug definiert. Das Problem ist, daß man es, liest man alle diese Definitionen, hinterher immer noch nicht weiß. Das mag daran liegen, daß Fichte es selbst nicht so genau wußte. Seine Äußerungen erwecken mehr den Eindruck eines unbestimmten Suchens und Ahnens als den der Gewißheit. Bei den folgenden Beispielen habe ich die Kommas und Strichpunkte nach kursiv gedruckten Worten einheitlich im Normaldruck wiedergegeben; im Text, einer photomechanischen Reproduktion der Ausgaben von 1845/46 (Werke in acht Bänden) und 1834/35 (Nachlaß in drei Bänden) sind sie willkürlich mal normal, mal kursiv gedruckt. Den Sperrdruck des Nachlasses (Bände IX – XI) habe ich kursiv wiedergegeben.

Aus „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre“ (1794, 21798): „Die Wissenschaftslehre soll für alle mögliche Wissenschaften die Form aufstellen“ (I 66). „Das Object der Wissenschaftslehre ist nach allem das System des menschlichen Wissens“ (I 70).

Aus „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“ (1794, 2 1802): „Darin besteht nun das Wesen der kritischen Philosophie, dass ein absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts höheres bestimmbar aufgestellt werde, und wenn diese Philosophie aus diesem Grundsatze consequent folgert, so wird sie Wissenschaftslehre“ (I 119). „Die Wissenschaftslehre soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes“ (I 222).

„In dem Satze, welcher das Resultat der drei Grundsätze der gesammten Wissenschaftslehre war: das Ich und das Nicht-Ich bestimmen sich gegenseitig, lagen folgende zwei; zuvörderst der: das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich […]; und dann folgender: das Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich“ (I 246).

„Wenn daher die Wissenschaftslehre doch eine Metaphysik, als vermeinte Wissenschaft der Dinge an sich, haben sollte, und eine solche von ihr gefordert würde, so müsste sie an ihren praktischen Theil verweisen. Dieser allein redet […] von einer ursprünglichen Realität; und wenn die Wissenschaftslehre gefragt werden sollte: wie sind denn nun die Dinge an sich beschaffen? So könnte sie nicht anders antworten als: so, wie wir sie machen sollen. Dadurch nun wird die Wissenschaftslehre keinesweges transcendent; denn alles, was wir auch hier aufzeigen werden, finden wir in uns selbst, tragen es aus uns selbst heraus, weil in uns etwas sich findet, das nur durch etwas ausser uns vollständig erklären lässt“ (I 286).

Aus „Sonnenklarer Bericht an das grössere Publicum, über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen“ (1801). „Gewisse Freunde des transcendentalen Idealismus, oder auch des Systems der Wissenschaftslehre, haben diesem Systeme den Namen der neuesten Philosophie beigelegt“ (II 323). „Kurz, die Philosophie ist dem Menschen angeboren; dies ist die gemeine Meinung, und darum hält Jeder sich für berechtigt, über philosophische Gegenstände zu urtheilen. Wie es sich mit dieser angebornen Philosophie verhalten möge, lasse ich hier gänzlich an seinen Ort gestellt, und behaupte nur von der neuesten, von der meinigen, die ich selbst am besten kennen muss: sie sey nicht angeboren, sondern müsse gelernt werden, und es könne daher nur derjenige über sie urtheilen, der sie gelernt habe“ (II 327).

„Dies also, mein Leser, lass unter uns ausgemacht und festgesetzt seyn, und merke es dir auf immer: die Wissenschaftslehre ist die systematische Ableitung eines Wirklichen, der ersten Potenz im Bewusstseyn“ (II 354). „Die Wissenschaftslehre ist nicht Psychologie, welche letztere selbst nichts ist“ (II 365). Das „Princip der Wissenschaftslehre“ ist „die absolute Anschauung der Vernunft durch sich selbst“ (II 375). Die „Wissenschaftslehre […] construirt das gesammte gemeinsame Bewusstseyn aller vernünftigen Wesen schlechthin a priori, seinen Grundzügen nach, ebenso wie die Geometrie die allgemeinen Begrenzungsweisen des Raumes durch alle vernünftige Wesen schlechthin a priori construirt“ (II 379). „Die Wissenschaftslehre soll ein getroffenes Bild des Grundbewusstseyns geben“ (II 395). „Die Wissenschaftslehre giebt sich bloss für eine Abbildung des Lebens, keinesweges für das wirkliche Leben selbst aus. […] Es sind eigentlich nur Gedanken von Gedanken, die man hat, oder haben sollte“ (II 396).

Aus „Vergleichung des von Herrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre“ (1795): „Die Wissenschaftslehre endet mit Aufstellung der reinen Empirie; sie bringt ans Licht, was wir wirklich erfahren können, nothwendig erfahren müssen, begründet sonach wahrhaft die Möglichkeit aller Erfahrung“ (II 456).

Aus „Die Wissenschaftslehre“ (1813): „W.-L. ist also nur dasjenige Wissen, welches schlechthin nicht wieder Objekt werden kann eines neuen Wissens, sondern durchaus nur Bewußtsein ist“ (X 5). „Darin besteht ja die W.-L., alles Sein der Erscheinung aus dem Verstande abzuleiten“ (X 27). „Also die W.-L. ist der durchgeführte Schmeatismus des Absoluten“ (X 81).

Ich fasse zusammen: Die Wissenschaftslehre ist die Konstruktion einer Art von Wissenschaftstheorie, in die logische Erwägungen und Gedanken einflossen, die Fichte in sich selbst vorfand.

Über „Die Wissenschaftslehre“ in der Fassung von 1804 schreibt Walter Schweidler: „Die Schrift stellt einen der schwierigsten und kühnsten Texte der Philosophie überhaupt dar, dessen Tiefen bis heute kaum ausgeschritten sind, ebensowenig wie die der von Fichte im Jahr 1812 erweiterten und überarbeiteten Wissenschaftslehre“ (Lexikon der philosophischen Werke 822f).

Damit mir niemand vorwirft, ich würde lediglich Zitate aus dem Zusammenhang reißen und Fichtes Gedankengänge nicht vollständig nachvollziehen, werde ich letzteres bei diesen beiden Darstellungen der Wissenschaftslehre aus dem Nachlaß tun. Ich werde versuchen, die „Tiefen“ auszuschreiten, sofern ich dabei nicht ertrinke.

2. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 1. Vortrag

Es handelt sich um eine Reihe von 18 Vorträgen (X 87-314).

I. Vortrag. Fichte setzt voraus, daß es Wahrheit gibt und daß man sie finden kann, wenn man sie aus sich selbst erzeugt. Als Schützenhilfe dafür kann er lediglich „die Bedingungen der Einsicht angeben“. Wer sie befolgt, bekommt diese Einsicht „ohne […] weiteres Zuthun […] schon von selbst“ (X 90). Worin besteht diese Einsicht? Im Begreifen der Wissenschaftslehre. Was passiert, wenn jemand Fichtes Bedingung nicht befolgt? Der denkt, die Wissenschaftslehre sei Schall und Rauch.

Ich bin bisher genau zu diesem Ergebnis gekommen, da ich weiter oben Fichtes Wissenschaftslehre mit dem Dreschen von leerem Stroh verglich. Das wirft die Frage auf: Hab ich bei der Lektüre der früheren elf Fassungen der Wissenschaftslehre etwas falsch gemacht?

Fichte fordert seine Zuhörer zum Mitdenken auf. Nur das, was sie selber denken und für wahr halten, soll zählen, nichts anderes. Fichte will unseren Blickwinkel verändern. Wir sollen auf etwas schauen, das wir selbst erst noch erzeugen. Diesen Vorgang bezeichnet Fichte als Einweihung in die „Kunst des Philosophierens“. Sie besteht darin, uns „ein System von Regeln und Maximen des Denkens“ zu geben (X 91).

Doch wir sollen nicht denken, daß die Wissenschaftslehre, auf die uns Fichte mit seiner Einweihung vorbereitet, genauso leicht verständlich ist wie die Vorbereitung. Wer von letzterer alles versteht, hat zwar hinterher einen „Begriff von der W.-L.“, aber nicht die Wissenschaftslehre selbst. Er ist also noch kein Philosoph, sondern bloß ein „Raisonneur“ (X 92).

Fichte bestimmt die Wissenschaftslehre als philosophisches System. Thema der Philosophie ist die Wahrheit. Wahrheit ist „absolute Einheit und Unveränderlichkeit der Ansicht“ (X 92). Das „Wesen der Philosophie“ besteht für Fichte darin: „Alles Mannigfaltige […] zurückzuführen auf absolute Einheit“ (X 93). „Absolute Einheit“ ist für Fichte „das Wahre, Unveränderliche an sich“ (X 93). Die Wissenschaftslehre hat dieselbe Aufgabe: die „Darstellung des Absoluten“ (X 94).

Von anderen philosophischen Systemen unterscheidet sich die Wissenschaftslehre durch ihren Begriff vom Absoluten – erstere halten das Sein für das Absolute, letztere stellt ein neues Prinzip auf: die Einheit von Sein und Bewußtsein. So neu ist dieses Prinzip allerdings auch wieder nicht. Schon Kant hat es entdeckt und damit die Transzendentalphilosophie begründet. Daraus ergibt sich: „Die W.-L. ist Transscendental-Philosophie“ (X 96).

Doch es gibt auch eine Differenz zwischen Wissenschaftslehre und der Philosophie von Kant. Worin sie besteht, sagt Fichte allerdings erst im zweiten Vortrag.

3. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 2. Vortrag

II. Vortrag. Kant begriff das Band zwischen Sein und Denken „nicht in seiner reinen Selbstständigkeit an und für sich, wie es die W.-L. aufstellt, sondern nur als gemeinsame Grundbestimmung oder Accidens seiner drei Urmodifikationen“ (X 102f), die Thema seiner drei Kritiken sind: „In der Kritik der reinen Vernunft war ihm die sinnliche Erfahrung das Absolute“. In der „Kritik der praktischen Vernunft“ ging es um „das zweite Absolute, eine moralische Welt“ (X 103). Die Einleitung zur „Kritik der Urtheilskraft“ schließlich enthält „das Bekenntniß, daß die übersinnliche und sinnliche Welt denn doch in einer gemeinschaftlichen, aber völlig unerforschlichen Wurzel, zusammenhängen müßten, welche Wurzel nun das dritte Absolute […] wäre“ (X 103f).

Nach Kant verbindet das dritte Absolute die beiden anderen, doch da es unerkennbar ist, kann Fichte weder diese Funktion verifizieren noch die ersten beiden Absoluten aus dem dritten Absoluten heraus begreifen. Deshalb stellt Fichte der Wissenschaftslehre genau diese Aufgabe: „eben in der Erforschung der für Kant unerforschlichen Wurzel, in welcher die sinnliche und die übersinnliche Welt zusammenhängt, dann in der wirklichen und begreiflichen Ableitung beider Welten aus Einem Princip, besteht ihr Wesen“ (X 104). Zur Terminologie: mit der übersinnlichen Welt ist hier Kants moralische Welt gemeint.

Fichte will also die Erkenntnisgrenze, die Kant gesetzt hat, überschreiten. Die Maxime der Wissenschaftslehre „ist, schlechthin nichts Unbegreifliches zuzugeben, und Nichts unbegriffen zu lassen“ (X 104). Falls das nicht gelingt, d.h., falls doch etwas Unbegreifliches auftaucht, so begreift es die Wissenschaftslehre wenigstens „als absolut unbegreiflich“ (X 105), und das ist ja auch eine Art des Begreifens.

Machen wir uns nochmals klar, was Fichte hier behauptet: Der Fortschritt der Wissenschaftslehre gegenüber Kants Transzendentalphilosophie besteht darin, daß die Unbegreiflichkeiten Kants als Unbegreiflichkeiten begriffen werden.

Zum Abschluß dieses Vortrags stellt Fichte den eigenen Ansatz A = S + D (Absolutes = Sein + Denken) den drei Absoluten x, y und z von Kant gegenüber: sinnliche Erfahrung (x), moralische Welt (y) und deren beider Wurzel (z). Aus Kants z = x + y macht Fichte per Interpretation A = x + y + z, was er anschließend Kant unterschiebt. Dann behauptet er, A = S + D sei demgegenüber ein Fortschritt. Dabei hatte das Kant schon von Anfang an behauptet, nur daß Fichte noch orakelt, Kant habe das Unbegreifliche nicht als Unbegreifliches begriffen, er, Fichte, aber schon.

Um der besseren Übersichtlichkeit willen stelle ich die Buchstaben und Formeln einander nochmals gegenüber:

Kant Fichte
z (Wurzel)
x (sinnliche Erfahrung)
y (moralische, übersinnliche Welt)

z = x + y

A (Absolutes)
S (Sein)
D (Denken)

A = x + y + z (Fehlinterpretation Kants)

A = S + D (Fortschritt der Wissenschaftslehre)

Kurz: Fichte kreiert seine Wissenschaftslehre dadurch, daß er Kant plagiiert und dieses Plagiat dadurch vertuscht, daß er Kant eine eigene Fehlinterpretation unterschiebt, die er hinterher unter anderen Bezeichnungen wieder aufhebt. Das ist Scharlatanerie, keine Philosophie. Oder, mit der von mir in der Einleitung zu diesem Aufsatz gewählten Formulierung: das Dreschen von leerem Stroh, garniert mit dem Betrug, die Spelzen für Körner auszugeben.

Als ob er ein schlechtes Gewissen hätte, umnebelt Fichte seinen Variablenkram noch weiter: Es komme nicht auf die Spaltung von A in x, y und z (die Fichte ohnehin nur „problematisch vorausgesetzt“, nicht „vollzogen“ haben will; X 105) oder S und D an, sondern darauf, daß diese beiden Spaltungsarten untrennbar miteinander verbunden seien. Kein Wunder, unterscheiden sie sich doch nur dadurch, daß Fichte sie eigens als verschieden ausgegeben hat.

Fichtes schlechtes Gewissen ist immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Also setzt er noch eins drauf: Man könne „beide Spaltungen gar nicht unmittelbar, wie es von der ersten bisher erschien, sondern nur mittelbar, vermittelst der höhern Einsicht ihrer Einheit“ einsehen, behauptet er, und hält das für einen „höchst bedeutenden Wink“, für „einen Charakterzug unserer Spekulation“ (X 105). Letzteres ist zweifellos richtig.

Zur Kontrolle noch ein Blick in Kants „Kritik der Urteilskraft“: „Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben, wovon der Begriff, wenn er gleich weder theoretisch noch praktisch zu einem Erkenntnisse desselben gelangt, mithin kein eigentümliches Gebiet hat, dennoch den Übergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen, zu der nach Prinzipien der anderen, möglich macht“ (B XX; Sperrdruck habe ich kursiv, die durch Kursivdruck abgehobenen Abweichungen zur 1. Auflage habe ich im Normaldruck wiedergegeben).

4. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 3. Vortrag

III. Vortrag. Fichte schlägt einen Salto vom Absoluten zum Wissen „als qualitative in sich durchaus unveränderliche Einheit“ (X 107). Beweisen kann er dabei nichts, es ist ihm evident, denn das Wissen ist stets dasselbe, auch wenn seine Gegenstände wechseln. Das ist eine Erkenntnis a priori oder „aus erschöpftem und geschlossenem Probiren“. Falls „der alte, empirische Dämon“ auftaucht, will Fichte ihn einfach umbringen (X 108).

Fichte spekuliert also herum, empirische Zweifel würgt er ab. Wer zur selben Überzeugung kommen will, muß dasselbe tun und diese Überzeugung in sich erzeugen. Das Prinzip der Wissenschaftslehre scheint also zu sein, daß man sich etwas wider den gesunden Menschenverstand einredet.

Eine Seite weiter unten bezeichnet Fichte die „Einsicht, daß das Wissen eine für sich selber bestehende qualitative Einheit sei“, als „bloß provisorisch“ (X 109). Die Beantwortung der Frage, was das Wissen, „als diese qualitative Einheit, eigentlich ist“ (X 108), macht für Fichte „das eigentliche Wesen der W.-L.“ aus (X 109).

Ob man „dieses Wesen des Wissens“ nun in sich konstruiert oder ob es sich selbst konstruiert, dürfte „hier ganz einerlei sein“ (X 109). Da es konstruiert wird, gibt es dieses Wissen, dem Fichte unterschiebt, daß es von sich selber weiß. „Es ist daher klar, daß die W.-L. und das sich selber in seiner wesentlichen Einheit darstellende Wissen ganz und gar dasselbe sind“ (X 110). Mit anderen Worten: Die Wissenschaftslehre ist ein Wolkenkuckucksheim, das zwei Erzeuger hat: Fichte und sich selbst.

Daß die Wissenschaftslehre sich auch selbst erzeugt, macht sie „unerforschlich“ (X 110) – sie ist also ein „Geheimnis des Glaubens“, mit den Worten der katholischen Dogmatik ausgedrückt. Erst jetzt macht Fichte den Fortschritt gegenüber Kant wirklich deutlich: Kant hat dasselbe Ergebnis nur gedacht, Fichte dagegen ist „das reine Licht aufgegangen“, d.h. er ist durch Erleuchtung zur Wissenschaftslehre gekommen (X 110f).

Daß Kant das höchste Wissen als „Band der sinnlichen und übersinnlichen Welt“ auffaßt, wird in den Augen Fichtes geradezu zu einem Manko, denn durch diese Bestimmung wird dieses Wissen aus der Einheit zur Zweiheit (X 111). Für Fichte ist die „höchste faktische Evidenz […] die Einsicht des absoluten Fürsichbestehens des Wissens, ohne alle Bestimmung durch irgend Etwas ausser ihm“. Zu dieser Einsicht konnte er nur dadurch gelangen, daß er „über alle Fakticität sich erhob“ (X 111).

Während die Mathematik „nur faktischer Evidenz fähig“ ist, hat Fichte herausgefunden, „daß die Principien ihrer eigenen Möglichkeit in einer anderen, höhern Wissenschaft liegen“ (X 112), deren Evidenz nicht faktisch, sondern genetisch ist: Man sieht sie also nicht ein, weil sie den Tatsachen gerecht wird, sondern weil Fichte sie erschaffen hat. Das unterscheidet die Wissenschaftslehre „von allem bisherigen wissenschaftlichen Vernunftgebrauche“. Man kann sie von keinem Standpunkt aus angreifen oder widerlegen, da jeder Standpunkt nur „faktisch evident“ ist, „und Nichts von dieser Art giebt die W.-L. unbedingt zu, sondern nur unter Bedingungen, welche sie erst selber in ihrer Genesis bestimmt“ (X 113).

Fichte hat also eine Art totalitärer Wissenschaftsdiktatur errichtet: wahr ist, was er dafür hält, mögen die Tatsachen sein, wie sie wollen. Da jede Kritik sich Fichtes Bedingungen unterwerfen muß, macht sich in seinen Augen jeder „lächerlich“, der das nicht tut (X 113). Ein rechter Kritiker muß ganz in die Wissenschaftslehre eindringen, bevor er beweisen kann, daß sie in sich widersprüchlich oder unzulänglich ist. Dabei bleibt folgender Satz unausgesprochen: Wer in die Wissenschaftslehre eindringt, wird dadurch so gehirngewaschen, daß er gar nicht mehr kritisieren kann.

Doch Fichtes Fehler liegt auf der Hand: Dadurch, daß er ein Spielfeld mit eigenen Regeln erschaffen hat, hat er nichts gezeigt oder bewiesen als nur eben gerade das. Ein Vergleich mit Gesellschaftsspielen möge das verdeutlichen: Es ist, als ob der Erfinder des Schachspiels behauptet, sein Spiel sei kein Spiel wie alle anderen, sondern das Spiel der Spiele. Man muß es erst vollständig beherrschen, um das zu begreifen. Tatsächlich ist es ja so, daß für den Schachspieler im Augenblick des Spiels die wirkliche Welt keine Bedeutung mehr hat. Erst wenn das Spiel vorbei ist, taucht der Schachspieler wieder ins richtige Leben ein. Fichte nun ist wie ein Schachspieler, der vergißt, daß es sich nur um ein Spiel handelt und daß es auch noch andere Spiele gibt.

5. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 4. Vortrag

IV. Vortrag. Fichte bringt folgende Formel (im Original sind die Schrägstriche durchgezogen, so daß sie ein nach unten offenes Dreieck bilden), um zu verdeutlichen, was die Wissenschaftslehre ist:

Schema Fichte

Die Wissenschaftslehre ist die Einheit von A und dem Punkt darunter. Fichte will dadurch ausdrücken, daß die Wissenschaftslehre „weder in der Einheit, noch in der Mannigfaltigkeit, sondern im Vereinigungspunkte beider steht“ (X 114).

Das Begreifen des Unbegreiflichen vollzieht Fichte dadurch, daß er das Begreifen sich selber aufheben läßt. In seinen eigenen Worten: „Soll das absolut Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, einleuchten, so muß der Begriff vernichtet, und damit er vernichtet werden könne, gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Begriffes leuchtet das Unbegreifliche ein“ (X 117).

Fichte differenziert noch weiter (das übergehe ich hier), um dann nochmals zusammenzufassen, wie alles gekommen ist, was er da getrieben hat: „Soviel ich mich, und ich denke wir alle uns erinnern, ging dieses so zu, daß wir die Begriffe und Prämissen, von denen wir ausgingen, frei construirten, sie eben so frei an einander hielten, und in diesem Aneinanderhalten von der Ueberzeugung ergriffen wurden: sie gehörten schlechthin zu einander, und seien nur in unabtrennlicher Einheit“ (X 120).

Erinnern wir uns: Fichtes „Freiheit“ bestand darin, daß er Kant etwas untergeschoben hat: Aus Kants z = x + y wurde A = x + y + z, dem Fichte dann sein eigenes A = S + D gegenüberstellte. Die Wissenschaftslehre ist eine doppelte Einheit: die Verbindung der von Fichte erfundenen Differenz zwischen Kants und seiner eigenen Auffassung (in der obigen Formel dargestellt durch Schrägstriche) und die Verbindung zwischen dem Absoluten als Einheit und als ein die Vielheit Umfassendes (in der obigen Formel dargestellt als A und Punkt darunter).

Summa summarum: Die Wissenschaftslehre ist das Ergebnis eines Betrugs und einer doppelten Synthese, die Fichtes Bewußtsein so überwältigt haben, daß er davon überzeugt wurde.

6. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 5. -10.Vortrag

Im V. Vortrag bringt Fichte nichts Neues. Er sagt lediglich, welche Einstellung er von seinen Zuhörern erwartet (sie sollen aufmerksam zuhören) und wiederholt den IV. Vortrag „auf eine zweckmäßige Weise“, weil er meint, er habe sein Publikum überfordert (X 128). Auch im VI. und VII. Vortrag bleibt Fichte „bei der weiten Entwicklung des bisher Vorgetragenen stehen“ (X 131).

Im VIII. Vortrag befestigt Fichte den Inhalt des VII. Vortrags. Er meint, seine Hirngespinste durch folgende Behauptung absichern zu können: „Nur was sich aus dem Princip ableiten läßt, ist Phänomen; was sich aus ihm nicht ableiten läßt, wird vielleicht, nebenbei auch noch unmittelbar, wenn man sich aber etwa dieses direkten Beweises überheben wollte, mittelbar durch die bloße Nichtableitung, zum Irrthume“ (X 146). Außerdem stellt Fichte hier eine neue Formel zur Erklärung des Seins auf: Sein = Denken + Begriff + Licht (X 152). Das ist nichts prinzipiell Neues, da er doch alles durch Denken und Erleuchtung begreift.

Im IX. bis XI. Vortrag folgt dann „eine tiefere Untersuchung, als die bisherigen es waren“ (X 153). Sehen wir zu. Die erste Tiefe, die ich im IX. Vortrag erkennen kann, ist, daß Fichte die Einheit von Licht und Begriff finden will. Das ist deshalb wichtig, weil er aus der Einheit die Vielfalt ableiten will (X 157). Fichte meint mit Vielfalt nicht Zeit, Raum, Körper-, Verstandes- und Vernunftwelt oder gar die Welt der Intelligenzen, „denn alles dieses, und was man noch etwa dazusetzen könnte, existirt wirklich und in der That gar nicht, sondern es ist die, falls man nur seine Nichtexistenz erst begriffen hat, gar leicht zu begreifende Erscheinung des Einen wahrhaft Existenten“ (X 158).

Für die Wissenschaftslehre gibt es weder Seelen (die sind für Fichte Gespenster) noch Sterblichkeit oder Unsterblichkeit, sondern „nur Leben, und dieses ist ewig in sich selber, und was Leben ist, ist eben so ewig, wie dies: also sie hält es wie Jesus: wer an mich glaubet, der stirbt nie, sondern es ist ihm gegeben, das Leben zu haben in ihm selber“ (X 158). Hier lernen wir einen weiteren Aspekt der Wissenschaftslehre kennen: Es handelt sich um eine Heilslehre, die in Aussicht stellt, was einst Jesus versprochen hat.

Es folgt noch eine Erläuterung der Seinsformel aus dem VIII. Vortrag. Zur Erinnerung: Sein (S) = Denken (D) + Begriff (B) + Licht (L) (X 152). Nun die Erklärung: „Was hier Begriff heißt, hieß im ersten Vortrage inneres Wesen des Wissens, was hier Licht, dort fremdes Sein desselben, das erste lediglich intelligibel, das letztere Intuition; denn es ist klar, daß das innere Wesen des Wissens nur eben im Begriffe, und zwar in einem Urbegriffe, ausgedrückt werden kann; wiederum, daß dieser Begriff, als Einsicht in sich selber, doch abermals Einsicht oder Licht setzt. Es ist daher klar, daß dieselbe Aufgabe, die hier ausgesprochen: die Einheit von B und L zu finden, dieselbe ist, die dort durch die Sätze: das Wesen des Wissens [im Original: „Wesens“; Verbesserung v. mir] nicht ohne sein Sein, und v. v. [vice versa = umgekehrt; Anm. v. mir] oder Intelligiren nicht ohne Intuition und v. v., welche eingesehen, sonach die in ihnen liegende Disjunktion in der Einheit der Einsicht Eins werden sollte“ (X 160).

Setzt man die Begriffe der Erläuterung in die Formel ein, kommt folgendes heraus: Sein = Denken + inneres Wesen des Wissens (intelligibel) + fremdes Sein des Wissens (Intuition). Wer mit dieser Formel vor Augen das obenstehende Zitat noch einmal liest, kann es ohne weiteres verstehen. Mit „Disjunktion“ ist die Sonderung einer Einheit in Begriff und Licht bzw. inneres Wesen und fremdes Sein des Wissens bzw. Intelligiren und Intuieren gemeint.

X. Vortrag. Die Wissenschaftslehre hat die Aufgabe, „L einzusehen, als genetisches Princip von B und umgekehrt, also die Einheit und Disjunktion beider zu finden“ (X 161). Hat sie das erledigt, ist sie „im Wesentlichen beendigt.“ Sie „beantwortet daher eine Frage, die sie selbst erst aufwerfen muß, löset einen Zweifel, den sie selbst erst erhoben hat; es darf daher Keinem wunderbar erscheinen, daß von der gewöhnlichen Ansicht zu ihr es keine Brücke giebt, und daß man Alles, was sie ist, erst in ihr selber lernen muß“ (X 162).

In einem fast zwei Seiten langen Abschnitt (X 168f) hat Fichte „den gesammten Inhalt der W.-L. zusammengedrängt. Wer dies gefaßt hat, und es ihm als nothwendig einleuchtet, […] der kann nun hier nichts Neues mehr lernen und er kann nur das Eingesehene sich durch Analyse noch deutlicher machen“ (X 169f).

Ich muß leider gestehen, daß ich kein Wort davon verstanden habe. Also kann ich noch viel lernen und muß weiterlesen. Wer den Abschnitt versteht, kann sich die weitere Lektüre dieses Aufsatzes ersparen. Bei der zweiten Lektüre des Absatzes von Fichte hab ich immerhin verstanden, daß er das Wesen des Begriffs anhand der „Durchheit“ (X 168) zu erfassen sucht und einen Syllogismus bringt, bei dem ich nur die Prämissen, nicht aber die Konklusion erkennen kann. Doch vielleicht verstehe ich ja mehr, wenn ich alle Vorträge gelesen habe.

7. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 11. -20.Vortrag

XI. Vortrag. Fichte erklärt die Zusammenfassung der Wissenschaftslehre im vorigen Vortrag. Davon verstehe ich nicht viel mehr, als daß die Durchheit etwas mit dem Leben zu tun hat: „das Leben soll die Bedingung und die Existenz des Durch, das Bedingte […] sein.“ Wie das? Der Begriff „construirt ein lebendiges Durch, und dies zwar problematisch. Soll dieses sein, so folgt daraus die Existenz des Lebens“ (X 171).

Bis hierher habe ich wenigstens eine ungefähre Ahnung, was Fichte sagen will, aber der Rest versinkt unter Wasser. Ich muß gestehen: ich kann die Tiefen der Wissenschaftslehre auch nicht ausschreiten und frage mich, ob es Fichtes Zuhörern nicht noch schlimmer gegangen sein muß. Sie konnten nämlich nicht zurückblättern, um einen Abschnitt nochmals zu lesen. Ich muß mich fragen: Bin ich nur einer der Kritiker, von denen Fichte im V. Vortrag sagte, sie würden nicht an der Wissenschaftslehre, sondern an dem Hirngespinst, zu dem sie jene deformiert haben, irre werden, „wodurch endlich die Verwirrung soweit gediehen, daß sich erwarten läßt, man werde nun bald inne werden, daß man verworren sei“ (X 113)?

Was tun? Wieder von vorne anfangen? Aufgeben? Die letzte verstandene Stelle suchen und von da an weiterlesen? Mein Rezept: einfach weiterlesen, in der Hoffnung auf die nächste verständliche Passage. Ein Trost: zu Fichtes Lebzeiten war „die wahre W.-L.“ unbekannt. Nur ein Gespenst von ihr trieb sich in Deutschland herum (X 174).

Gegen Schluß des Vortrags bringt Fichte eine Zusammenfassung (X 176ff): Idealismus und Realismus „sind […] gleich möglich“ (X 177). Fichte schlug sich mit der Wissenschaftslehre bisher auf die Seite der Realisten, doch er stellt auch eine Synthese in Aussicht.

Die Regel, mit der Fichte den Vortrag schließt, ist es wert, zitiert zu werden: „Sage mir nur genau, was du Alles nicht weißest und nicht begreifest, und ich will a priori auf’s Genaueste alle die Irrthümer und Hirngespinnste angeben, an die du glaubst, und es soll gewiß zutreffen“ (X 178; im Original ist a priori nicht in Fraktur gedruckt wie alles andere – deshalb habe ich es kursiv wiedergegeben).

XII. Vortrag. Aus den Äußerungen der Zuhörer in einer Gesprächsrunde schließt Fichte, daß er verstanden wurde. Von seiner nachfolgenden Wiederholung verstehe ich nichts. Meine Hauptschwierigkeit ist, daß ich derartige Spekulationen für sinnlos halte. Mir wird nicht einmal klar, was Fichte unter Idealismus und Realismus versteht.

Ein Blick in die Wörterbücher zeigt, daß die Abgrenzung tatsächlich schwierig ist. Der Grund: „Irgend etwas Wirkliches nimmt schließlich jeder an“ (Brugger 316). Das Hauptproblem ist, daß der Begriff Realismus für zwei Auffassungen herhalten muß, von denen die erste eigentlich idealistisch ist (die weiteren Differenzierungsmöglichkeiten lasse ich hier beiseite): 1. Universalien, Abstraktionen und Sammelbegriffe sind nicht nur Produkte unserer geistigen Tätigkeit, sondern existieren unabhängig davon; 2. die Wirklichkeit ist unabhängig von unserer geistigen Tätigkeit (Prechtl/Burkard 495). Beim Idealismus ist es einfacher: Alle Positionen gehen in irgendeiner Weise vom Primat des Geistigen (der Ideen) aus.

Am Schluß des Vortrags charakterisiert Fichte die Wissenschaftslehre einmal mehr als Begriffsfuchserei (Intuition ist für Fichte das, was unmittelbar einleuchtet, X 181): „Das verblaßte Ansich […] ist immer in der Intuition, und ist darum todt. Für uns ist es im Begriffe, und ist darum lebendig, und darum ist für uns in der Intuition Nichts, weil im Begriffe Alles ist. Dies ist nun der allerschärfste Unterscheidungspunkt der W.-L. vor allen möglichen Standpunkten des Wissens, die es nicht sind. Sie begreift das Ansich; jede andere Denkart begreift es nicht, sondern schaut es nur an, und tödtet es in sofern gewissermaßen. Jede dieser Denkarten nun begreift sie selber aus ihrer eigenen heraus, und als deren, nicht zwar absolute, aber privative Negationen“ (X 186).

XIII. Vortrag. Das Weiterlesen hat sich gelohnt. Fichte bringt prägnante Definitionen: „Realismus = Genesis des Lebens; und Idealismus = Genesis des Begriffs“ (X 187). Weiter unten bezeichnet er den Realismus als Objektivismus (X 197). Es wird auch klarer, was Fichte unter Wissenschaftslehre versteht: Sie „läugnet die Gültigkeit der Aussagen des unmittelbaren Bewußtseins, schlechthin als solche, und grade darum, weil sie das ist, und beweiset diese ihre Abläugnung; und so allein bringt sie die Vernunft in sich zur Ruhe und zur Einheit. Nur das schlechthin zu Intelligirende, die reine Vernunft, bleibt als allein gültig übrig“ (X 195).

Mit der Wissenschaftslehre macht Fichte also genau das, was Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ kritisierte: Er spekuliert ohne Anschauung in Begriffen. Mit dieser Methode kann er alles und sein Gegenteil beweisen – das war der Grund, weshalb Kant nichts davon hielt. Es handelt sich folglich bei Fichtes Wissenschaftslehre um eine Art von Reaktion auf die Aufklärung: Durch die Hintertüre wird wieder hereingeholt, was Kant durch den Haupteingang hinausgeworfen hat, und das wird auch noch als Fortschritt oder Weiterentwicklung hingestellt. Dabei ist es nichts anderes als ein Rückfall in die mittelalterliche Scholastik.

Durch seine Spekulationen auf der Basis der reinen Vernunft immunisiert sich Fichte gegen Kritik: „In der der reinen Vernunft läßt sich der Zweifel nicht mehr anbringen; diese trägt und hält sich und Jeden, der in ihre Region kommt, fest und unverrückt“ (X 195). Der Gedanke an die päpstliche Unfehlbarkeit liegt nahe. Fichte benützt sogar die kirchliche Sprache, nachdem er Schelling kritisiert hat, der angeblich dasselbe wie Fichte macht, aber behauptet, es sei etwas Besseres: „Ich für meine Person habe dies nur historisch und zur Erläuterung meines Standpunktes gesagt, keinesweges aber, um bei irgend Jemand die Achtung vor seinem Helden zu schwächen, oder dieselbe auf mich zu leiten. Denn so Jemand schlechterdings zum Irrthum verdammt sein will, habe ich Nichts dagegen“ (X 198).

XIV. Vortrag. Fichte enttarnt seinen Realismus als Idealismus (X 203, vgl. a. X 258f).

XV. Vortrag. Fichte will die Objektivität „in absoluter Einsicht“ vernichten. Die Wissenschaftslehre gliedert er in „zwei Haupttheile“: in „eine Vernunfts- und Wahrheitslehre“ und eine „Erscheinungs- und Scheinlehre“ (X 205).

Im XVI. Vortrag unterscheidet Fichte Existenz und Sein: „ich werde das Wort Existenz vorläufig ausschließend von dem äussern Sein brauchen, dagegen Sein, was nur immer verbaliter zu verstehen ist, dem innern, im absoluten Grundsatz aufgestellten Sein vorbehalten“ (X 217).

Im XVII. Vortrag bringt Fichte u.a. eine Art kosmologischen Gottesbeweis: „Setzen Sie das rein immanente Sein, als das Absolute, Substante, Gott, wie dies allerdings richtig sein wird, und die Erscheinung, die hier in ihrem höchsten Punkte als innerlich genetische Construction des Absoluten verfaßt ist, als die Offenbarung und Aeusserung Gottes; so ist hier die letztere eingesehen, als schlechthin nothwendig, und im Wesen des Absoluten selber begründet“ (X 223).

XVIII. Vortrag. Fichte formuliert als „Grundregel“, daß man den Idealismus nur von einem realistischen Standpunkt aus kritisieren kann. Wer im Idealismus verharrt, kann nicht anders, als „im Zirkel herumgetrieben zu werden“ (X 232). Weiter unten nivelliert er die Differenz zwischen Realismus und Idealismus: „Der Unterschied zwischen realer und idealer Sichconstruction des Seins […] ist völlig aufgehoben. Sein, oder Vernunft und Licht sind Eins“ (X 235).

Zum XIX., XXIV und XXVI. Vortrag habe ich nichts zu sagen. Beim XX. Vortrag fällt mir auf, daß Fichte meint, die Wissenschaftslehre sei „eine vollständige Lösung des Räthsels der Welt, und des Bewußtseins“ (X 251).

8. „Die Wissenschaftslehre“ (1804) – 21. -28.Vortrag

Eine Passage im XXI. Vortrag zeigt, wie Fichte seine Gewißheiten über die Welträtsel durch synthetische Künste untermauert: „Es giebt keine Einsicht in das Wesen der Vernunft ohne Voraussetzung des Verstandes als absolut; und wiederum keine Einsicht in das Wesen des Verstandes, ausser vermittelst seiner absoluten Vernichtung durch die Vernunft. Das Höchste aber, worin wir bleiben, ist die Einsicht in beide, und diese setzt nothwendig beide, wiewohl das Eine, um es zu vernichten“ (X 261).

Für den, der ihm dabei nicht folgen will oder kann, hat Fichte auch noch eine Bemerkung parat: „Noch dies; was ich Ihnen so eben vorgetragen, halte ich selber keineswegs für leicht. Aber das liegt in der Sache, und einmal müssen wir hindurch, wenn wir festen Grund sehen wollen. Etwas mehr Licht hierüber kann ich Ihnen wohl aus der Einsicht des noch zu suchenden Princips versprechen, aber sodann wird die Schwierigkeit im Princip selber liegen“ (X 261).

Fichte bekennt also ganz offenherzig, daß er die Schwierigkeiten seiner Wissenschaftslehre selbst nicht beheben kann. Wer nichts versteht, wird auf ein Prinzip vertröstet, das erst noch gefunden werden muß. Doch dadurch findet er keine Klarheit, sondern bekommt nur eine weitere Schwierigkeit aufgehalst.

Was uns heute allerdings fehlt, sind die zwischen die Vorträge eingeschalteten Gesprächsrunden (Conversatorien) – insofern hatten Fichtes Zuhörer gegenüber uns einen Vorteil, den wir durch Zurückblättern und wiederholtes Nachlesen nicht wettmachen können.

Im XXII. Vortrag nimmt sich Fichte vor, dem Publikum die Fähigkeit zu geben, „das System der Wahrheit im Ganzen und aus Einem Stücke in sich aufzubauen“ (X 262). Er entlarvt die Wissenschaftslehre als „Kunst“ (X 269), d.h., sie ist wie Mathematik oder Logik ein konstruiertes System, letztlich eine Schöpfung (Genesis), keine Erkenntnis. Ihre Möglichkeiten beruhen (wie übrigens auch Hegels „Phänomenologie des Geistes“) auf der Gleichsetzung von Begriffen, etwa Absolutes = Sein = Licht (X 262) = Vernunft (X 235) = Gewißheit (X 276). Mit solchen Methoden kann man so ziemlich alles „beweisen“. Solche Schwierigkeiten kann niemand überwinden, da sie im Prinzip selber liegen.

XXIII. Vortrag. Fichte verbreitet sich über die „innere“ (X 271) oder auch „reine Gewißheit“. Sie ist ein „unerschütterliches Verbleiben und Beruhen in demselben unwandelbaren Eins“ (X 272), „durchaus und schlechthin in sich selbst begründet“ (X 273). Sie ist „absolute Gewißheit, schlechthin in sich und von sich = Ich oder Wir; uns oder sich selber, was ganz dasselbe heißt, durchaus unzugänglich, rein in sich geschlossen und verborgen“ (X 274).

Im XXV. Vortrag stellt Fichte folgerichtig lapidar fest: „Wir sind hier unmittelbar das absolute Wissen“ (X 288), von dem kein Weg weiterführt. „Auch ist merkwürdig, daß uns jetzt der Begriff der W.-L., als eines besondern Wissens, ganz und gar entschwunden ist.“ Das Heilmittel dagegen: „die W.-L. müßte als besonderes Wissen wieder heraustreten“ (X 289).

Indem er auf Werte und Christentum abhebt, wird Fichte nun wieder konkreter und stellt fest, daß er eigentlich nichts Neues sagt. „Dieses Resultat: nur das rechte Wissen oder die Weisheit hat Werth, ist nun sehr anstößig in unserm bloß auf äussere Werkthätigkeit berechneten Zeitalter, und würde demselben ohne Zweifel als eine große Neuerung erscheinen. Merkwürdig ist es, daß diese Lehre gerade die uralte, die des Zeitalters hingegen eine Neuerung ist […]. Im Christenthume, […] wovon ich mehrmals geäussert, daß dasselbe in seinen Quellen mit der durchgeführten Philosophie vollkommen übereinstimme, […] ist der letzte Zweck der, daß der Mensch zum ewigen Leben […] komme.“ Ewiges Leben haben heißt bei den Christen, Gott und Jesus erkennen, bei Fichte: „das Urgesetz und sein ewiges Bild“ erkennen (X 291).

Wenn auch das noch Christentum ist, dann gibt es nur Christentum, kann ich dazu lediglich sagen.

XXVII. Vortrag. Je mehr er mit seiner Vortragsreihe zum Ende kommt, desto unausstehlicher wird Fichte: „Ohne Zweifel waren es doch Wir selber, die W.-L., die jene Einsicht in das Wesen des Sehens erzeugten“. Ja, Sie haben richtig gelesen: Fichte identifiziert sich (das „Wir“ als Pluralis majestatis aufgefaßt) bzw. auch alle, die noch mitdenken können, mit der Wissenschaftslehre. Doch es kommt noch doller:

„Nämlich, ich sage: Sehen, als Sehen gesetzt, sagt, daß wirklich gesehen werde; oder: das Sehen sieht nothwendig.“ Peinlich genug. Fichte vergißt nicht, von „der anscheinenden Leichtigkeit dieses Satzes“ zu sprechen, den er für so wichtig hält, daß er ihn „schwer […] machen“ will: „Offenbar ist dieser Satz die Vollziehung dessen, was in dem Ihnen Allen bekannten scholastischen Beweise für Dasein Gottes, als des entis realissimi [„des wirklichsten Seienden“, Anm. v. mir] gefordert, aber nicht geleistet wird, – aus dem bloßen Gedachtwerden eines Etwas auf sein Dasein zu folgern“ (X 300f). Ist das nicht der Wunschtraum aller Spintisierer?

„Diese von uns so eben vollzogene Einsicht ist nun die absolute Vernunfteinsicht = absolute Vernunft selber; wir sind in dieser Einsicht die absolute Vernunft unmittelbar geworden, und in ihr aufgegangen“ (X 301). „Anders ausgedrückt: die absolute Vernunft durchdringt sich selber, als Vernunft eben in dem angezeigten absoluten Effekte. Der Satz ist bedeutend, ist, wie ich glaube, unmittelbar klar“ (X 302). Für die, denen er noch nicht klar ist, bringt Fichte eine Erläuterung: Indem sich das Sehen vernichtet, erzeugt es Sein …

Habe ich das falsch zusammengefaßt? Fichte macht mehr Worte darum: „In der vorigen Stunde durchdrang sich das formale Sehen, als ein absolutes Aeussern (Projiciren), vernichtete sich darum und setzte dadurch Sein; also nicht unmittelbar, sondern vermittelst u. s. w. Hier, in der absoluten Vernunft ist es anders: es geschieht ohne alle Vermittlung“ (X 302).

XXVIII. und letzter Vortrag. Fichte scheint immer sicherer zu werden: „Dieses ohne Zweifel sahen wir nun ein“ … (X 308). Was es ist, interessiert mich schon längst nicht mehr. Ich kann nur noch den Kopf schütteln.

Resultat: die Vernunft […] zerfällt“ (X 309). Offensichtlich. Ja, ich weiß, es ist bösartig, so zu zitieren, doch warum sollte man dieses Zerfallen der Vernunft noch genauer wissen wollen, da doch die Wissensschaftslehre als Ganzes ohnehin den Eindruck hervorruft, sie habe sich von dem, was wir den gesunden Menschenverstand nennen, so weit entfernt, daß sie zu überhaupt nichts mehr nütze ist, nicht einmal zur Erbauung? „Viel Worte machen hilft nicht zur Klarheit, es kann sogar den bessern Köpfen die Sache verdunkeln“ (X 314).

Man mag gegen meine Darstellung einwenden, ich hätte von Fichtes Wissenschaftslehre nicht eben viel verstanden. Doch ich halte es für besser, die Verständnislücken einzugestehen als sie hinter arroganter Heuchelei zu verstecken. Was wohl die folgende Fassung der Wissenschaftslehre bringen wird? Eine Wiederholung? Etwas völlig Neues? Bevor wir uns daran zusammen die Zähne ausbeißen, verschaffe ich Ihnen etwas Abwechslung:

9. Fichte als Vorläufer des Nationalsozialismus

Die beiden Wörter „national“ und „sozialistisch“ finden wir sogar in der Sekundärliteratur: In den „Reden an die Deutsche Nation“ (1808, VII 257-516) „entwickelt Fichte nun den Gedanken einer Nationalerziehung, die freie Menschen im Sinne seiner Philosophie heranbilden soll. […] Das Charakteristische der Reden liegt darin, daß die Befreiung der Menschheit in bewußter Abkehr vom Kosmopolitismus der Aufklärung allein von den Deutschen erwartet wird, denen sich allerdings andere Nationen anschließen dürfen. Denn allein die Deutschen sind ein Volk, ja das ‚Urvolk‘. […] Und Fichte versteigt sich zu dem Satz: ‚Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend.‘ […] Die Nationalerziehung soll, um äußere Einflüsse abzuhalten, in geschlossenen Anstalten vor sich gehen. Ein ABC der Anschauungen und Empfindungen zusammen mit körperlicher Ertüchtigung soll anstatt zu totem Wissen zu lebendigem Gebrauch aller Kräfte führen. Ziel ist, Selbstüberwindung zu lernen, damit das Leben dann nur von Vernunft bestimmt werde. Wirtschaftliche Autarkie der Anstalten soll die des ganzen Staates vorbereiten, wie sie Fichte schon 1800 in Der geschlossne Handelsstaat verlangt hatte“ (Klaus Podak, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon, 5/546).

Das klingt schon verdächtig genug, aber es kommt noch besser: Fichte hat „das in der Zeit sich regende Nationalbewußtsein in einer Weise benutzt und philosophisch überhöht, die später einen unheilvollen Mißbrauch ermöglichte. Die neben hochmütiger Deutschheit ausgesprochene Einladung an andere Nationen zur Beteiligung wurde in militärisches Vormachtstreben umgedeutet, republikanisch-demokratische Tendenzen in Totalitarismus verkehrt“ (Podak, a.a.O.).

In „Der geschlossene Handelsstaat“ (1800, III 387-513) entwirft Fichte „als erster Deutscher ein in seinen Grundzügen sozialistisches Staatswesen“ (Redaktion Kindlers Literatur Lexikon, 5/542).

Im folgenden gehe ich die beiden Schriften unter dem Blickwinkel durch, was denn da pränationalsozialistisch sein könnte.

Zuerst also die Reden an die Deutsche Nation“. Die von Fichte gewünschte „Nationalerziehung der Deutschen“ (VII 280) „würde […] gerade darin bestehen müssen, dass sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernähme, die Freiheit des Willens gänzlich vernichtete, und dagegen strenge Nothwendigkeit der Entschliessungen und die Unmöglichkeit des entgegengesetzten in dem Willen hervorbrächte, auf welchen Willen man nunmehr sicher rechnen und auf ihn sich verlassen könnte“ (VII 281).

Während die Nazis die Juden wenigstens noch mit Insekten verglichen, sind die Kinder für Fichte also eine Art Ackerland, das vor der Aussaat durchgepflügt wird. Das Ziel: die Gleichschaltung nicht nur der Gedanken, sondern sogar des Willens. Davon war die Erziehung in Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) noch weit entfernt. So meinte Rüdiger Freiherr von Wechmar: „Man sollte sich überhaupt von der Vorstellung lösen, alles wäre damals bei uns von oben bis ins Detail gesteuert worden und das ganze deutsche Volk sei ein Haufen begeisterter Nazis und williger Vollstrecker gewesen oder wir in Spandau eine scharf auf Nazikurs steuernde Eliteformation von künftigen Würdenträgern des Reiches“ (zit. n. Leeb 36). Doch Fichte wollte offensichtlich genau das.

Noch ein Beispiel: Hans Fischach sah die Reichsschule Feldafing so: „Ich fühlte mich in der Gemeinschaft zu Hause und geborgen, zu keiner Zeit gegen meine Überzeugung bevormundet oder von einem Machtapparat ‚vereinnahmt'“ (zit. n. Leeb 40). Doch Fichte propagierte genau das: „Willst du etwas über ihn [den Menschen; Anm. v. mir] vermögen, so musst du mehr thun, als ihn bloss anreden, du musst ihn machen, ihn also machen, dass er gar nicht anders wollen könne, als du willst, dass er wolle“ (VII 282).

In den Adolf-Hitler-Schulen ging es allerdings anders zu als in den Napolas. Hardy Krüger erzählt: „Als Adolf-Hitler-Schüler fühlten wir uns den Jungmannen in den Napolas haushoch überlegen.“ Aber: „Mir lag einfach die Schleiferei, dieser schreckliche militärische Drill nicht. Es war ja wie in einer preußischen Kadettenanstalt“ (zit. n. Leeb 63). „Alles geschah, abgesehen von den Unterrichtsstunden, im Kommandoton und Gleichschritt“ (ebd. 65). „Politisch war ich damals schon – etwas übertrieben ausgedrückt – der Meinung, daß Hitler gleichbedeutend ist mit dem, was Jesus für die Katholiken ist“ (ebd. 63). „Die Lehrer und Erzieher brauchten neun Jahre, um mir die Flausen von deutscher Weltherrschaft und Überlegenheit in den Kopf zu blasen. Bei meinen Filmkollegen genügten sechs Monate, um mich davon zu heilen“ (ebd. 67). „Ich wußte von den NS-Verbrechen und glaubte den Ufa-Leuten mehr als den Erziehern in der Ordensburg“ (ebd. 68).

Weiter unten im Text ergreift Fichte die „Gelegenheit, die neue Erziehung im Gegensatze mit der bisherigen noch tiefer zu bezeichnen. Eigentlich nemlich und unmittelbar geht die neue Erziehung nur auf Anregung regelmässig fortschreitender Geistesthätigkeit“ (VII 288). Fichte spricht hier ebenfalls von der Nationalerziehung, von nichts anderem. Wie soll man ihn verstehen? Will er seine Privatlogik mit Gewalt in die Köpfe pflanzen, so daß alle Schüler in seinen Bahnen denken, um das dann „Anregung“ zu nennen?

Otto Schuster berichtet: „Manchmal frage ich mich selber, ob ich so naiv war, um die Indoktrination nicht zu erkennen. Ich weiß es nicht. Im nachhinein bin ich davon überzeugt, daß die Nazi-Atmosphäre der Schule kein Deut ausgeprägter war als in ganz Großdeutschland“ (zit. n. Leeb 106f). Wurde er also lediglich im Sinne Fichtes „angeregt“ statt indoktriniert? Uwe Lamprecht schreibt: „Ich wurde zu einem durchaus kritischen, fürsorglichen, mitdenkenden Gehorsam erzogen. Ich konnte widersprechen, mußte das aber begründen“ (ebd. 118). Leopold Chalupa: „Ordnung und Disziplin waren die besonderen Zielsetzungen, die uns zunächst meist als ‚unnütze Gängelei‘ erschienen und auch manche Auswüchse hervorbrachten“ (ebd. 127).

Wieder Fichte: „Diese Bildung ist daher in ihrem letzten Erfolge Bildung des Erkenntnissvermögens des Zöglings, und zwar keinesweges die historische an den stehenden Beschaffenheiten der Dinge, sondern die höhere und philosophische, an den Gesetzen, nach denen eine solche stehende Beschaffenheit der Dinge nothwendig wird“ (VII 286). Adolf Martin Bormann, der Sohn des Reichsleiters Martin Bormann, zog folgendes Resümee: „Ich bin dankbar, daß ich in Feldafing selbständig denken gelernt habe und ein relativ richtiges Gesamt-Weltbild bekam. Und daß wir ethisch nicht verformt worden sind. Von meinen Kameraden haben alle den Nationalsozialismus als das erkannt, was er ist: als unvereinbar mit dem Menschenbild der Deklaration der Menschenrechte“ (zit. n. Leeb 154f). Hertha von Bergh: „Aber ich halte es für läppisch zu sagen, es war alles schlecht“ (ebd. 168). „Aber schlecht ist, wenn man das Gute von damals einfach unter den Teppich kehrt“ (ebd. 170).

Zusammenfassung: „‚Die Adolf-Hitler-Schüler sollen sich ihr Leben nach eigenen Gesetzen gestalten. Sie wissen, daß ein Gemeinschaftsleben ohne Kameradschaft und Disziplin, ohne Gehorchen und Befehlen undenkbar ist. Das Prinzip der Selbstführung, nach dem die gesamte Hitlerjugend aufgebaut ist, findet auch auf den Adolf-Hitler-Schulen seine Anwendung. Der Geführte soll langsam selbst zum Führenden werden, der Junge, der gelernt hat, zu gehorchen, soll auch selbst Befehle geben können'“ („Volksstimme“ vom 12.3.1943, Linz; zit. n. Leeb 182f).

Nun zu Fichtes Deutschtümelei. Sie beginnt mit der vierten Rede über die „Hauptverschiedenheit zwischen den Deutschen und den übrigen Völkern germanischer Abkunft“ (VII 311), nachdem in der zweiten und dritten Rede die „Nationalerziehung“ oder „neue Erziehung“ behandelt wurde. Diese „Hauptverschiedenheit“ ist die deutsche Sprache. Sie ist „eine bis zu ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache“. Dagegen reden „die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache. […] Zwischen Leben und Tod findet gar keine Vergleichung statt, und das erste hat vor dem letzten unendlichen Werth; darum sind alle unmittelbare Vergleichungen der deutschen und der neulateinischen Sprachen durchaus nichtig“ (VII 325).

Konsequenz: Deshalb muß das „in diesen Reden vorgeschlagene Bildungsmittel eines neuen Menschengeschlechtes […] zu allererst von Deutschen an Deutschen angewendet werden“ (VII 311). Wer im Register von „Mein Kampf“ nachschlägt, was unter dem Stichwort „Nationalerziehung“ zu finden ist, erfährt, daß Hitler auf S. 12 den „Mangel an deutscher Nationalerziehung“ beklagt und auf S. 34 die Nationalerziehung als „Vorbedingung zur Nationalisierung“ betrachtet.

Fichte: „Sind wir bisher im Gange unsrer Untersuchung richtig verfahren, so muss hiebei zugleich erhellen, dass nur der Deutsche – der ursprüngliche, und nicht in einer willkürlichen Satzung erstorbene Mensch, wahrhaft ein Volk hat, und auf eins zu rechnen befugt ist, und dass nur er der eigentlichen und vernunftgemässen Liebe zu seiner Nation fähig ist“ (VII 378). Zum Vergleich eine Stelle aus Hitlers „Mein Kampf“: „für mich aber und alle wahrhaftigen Nationalsozialisten gibt es nur eine Doktrin: Volk und Vaterland“ (S. 234). Der Unterschied liegt in der Fortsetzung: Fichte schreibt anschließend an die zitierte Stelle über Religion, Hitler über Rassismus. Uwe Lamprecht, ehemaliger Schüler an der Napola Plön, erinnert sich: „Wir kannten die Tagessprüche, vor dem Essen im Rittersaal: Du bist nichts, dein Volk ist alles“ (zit. n. Leeb 119).

Wieder Fichte: „Das aus Asien stammende und durch seine Verderbung erst recht asiatisch gewordene, nur stumme Ergebung und blinden Glauben predigende Christenthum war schon für die Römer etwas Fremdartiges und Ausländisches; es wurde niemals von ihnen wahrhaft durchdrungen und angeeignet“ (VII 344). „An den eingewanderten Germaniern erhielt diese Religion Zöglinge, in denen keine frühere Verstandesbildung ihr hinderlich war, aber auch kein angestammter Aberglaube sie begünstigte, und so wurde sie denn an dieselben gebracht, als ein zum Römer, das sie nun einmal seyn wollten, eben auch gehöriges Stück, ohne sonderlichen Einfluss auf ihr Leben“ (VII 345).

Konsequenz: „Wir erkennen heute, daß die zentralen Höchstwerte der römischen und der protestantischen Kirche als negatives Christentum unserer Seele nicht entsprechen, daß sie den organischen Kräften der nordisch-rassisch bestimmten Völker im Wege stehen, ihnen Platz zu machen haben, sich neu im Sinne eines g e r m a n i s c h e n Christentums umwerten lassen müssen. Das ist der Sinn des heutigen religiösen Suchens.“ Das hat nun nicht Fichte geschrieben, sondern Alfred Rosenberg in seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ (S. 215).

In der siebten Rede schickt Fichte sich an, die „Ursprünglichkeit und Deutschheit eines Volkes“ noch tiefer zu erfassen. Zunächst beklagt er, „dass dermalen unter den Deutschen selber wenig Deutsches mehr übrig sey“ (VII 359). Das betrifft auch die Philosophie: Fichte unterscheidet hier die „Ausländerei“, die von einem unveränderlichen und deshalb toten „Seyn“ ausgeht, und die „deutsche Philosophie“, die „von dem Einen, reinen, göttlichen Leben“ ausgeht. „Ihr entsteht das Seyn, was jene sich vorausgeben lässt. Und so ist denn diese Philosophie recht eigentlich nur deutsch, d. i. ursprünglich; und umgekehrt, so jemand nur ein wahrer Deutscher würde, so würde er nicht anders denn also philosophieren können“ (VII 361f).

Dieser Gedanke ist nicht originell, sondern lediglich die Fichtesche Version der alttestamentlichen Unterscheidung zwischen dem lebendigen Gott und den toten Götzen. Ein Beispiel: „Unselig aber sind jene, die auf Totes ihre Hoffnung setzen und Werke von Menschenhand als Götter bezeichnen“ (Weish 13,10). „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, / so lechzt meine Seele, Gott, nach dir. / Meine Seele dürstet nach Gott, / nach dem lebendigen Gott“ (Ps 42,2f). Fichte hat also die Fremdheit der asiatischen Religion dadurch ins Deutschtum integriert, daß er sie zur Philosophie erklärt hat. Unbewußtheit? Windbeutelei?

Auch die Nationalsozialisten sind die Bibel nicht losgeworden, als sie Hitler in der NS-Presse zum „‚Erlöser'“, „‚Erretter des deutschen Volkes aus Schande und Not'“ (zit. n. Orzechowski 168) und „‚Gott'“ (ebd. 173) stilisierten. „‚Er ist die Wahrheit selbst‚“, schrieb Goebbels am 31.12.1944 in der Nr. 53 von „Das Reich“ (ebd. 174) in Anspielung auf Jesu Wort „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6).

Und in einem Sitzungsbericht vom 14.8.1943 heißt es: „Sofortige und bedingungslose Abschaffung sämtlicher Religionsbekenntnisse nach dem Endsieg […] mit gleichzeitiger Proklamierung Adolf Hitlers zum neuen Messias. […] Der Führer ist dabei als ein Mittelding zwischen Erlöser und Befreier hinzustellen – jedenfalls aber als Gottgesandter, dem göttliche Ehren zustehen. Die vorhandenen Kirchen, Kapellen, Tempel und Kultstätten der verschiedenen Religionsbekenntnisse sind in ‚Adolf Hitlere Weihestätten‘ umzuwandeln.

Ebenso haben sich die theologischen Fakultäten der Universitäten auf den neuen Glauben umzustellen und besonderes Gewicht auf die Ausbildung von Missionaren und Wanderpredigern zu legen, die sowohl im Großdeutschen Reich, als auch in der übrigen Welt die Lehre zu verkünden und Glaubensgemeinschaften zu bilden haben, die als Organisationszentren zur weiteren Ausbreitung dienen sollen'“ (ebd. 175).

Nun zum zweiten Teil des Wortes „Nationalsozialismus“. In „Der geschlossene Handelsstaat“ entwickelt Fichte seine eigene Form von Sozialismus, wenn er schreibt, „es sey die Bestimmung des Staats, jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigenthum erst einzusetzen, und sodann erst, ihn dabei zu schützen“ (III 399). Vom Eigentum hat Fichte eine besondere Vorstellung: Es entsteht nicht durch Alleinbesitz, sondern dadurch, daß andere Menschen davon ausgeschlossen werden, an ihm tätig zu sein (III 444), im Fall von Ackerland also: es zu bebauen.

„Die Producenten verbinden sich, so viele Producte zu gewinnen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch die in ihrem Staatsbunde vorhandenen und ihnen bekannten Künstler sich davon ernähren können“ (III 404). Mit den „Producenten“ meint Fichte hier die Landwirte, mit den „Künstlern“ die Arbeiter in der Industrie (vgl. „der Ackerbau und die Fabriken“, III 504). Auch für die Kaufleute wird durch Verträge in Fichtes sozialistischer Utopie gesorgt: „Es ist sonach ein Tausch, […] und zwar ein verbindender; nicht dass man tauschen und abliefern nur dürfe, sondern dass man es müsse“ (III 405).

Das „geschlossen“ im Titel des Werks bedeutet folgendes: „Alles, was im Lande gebraucht oder verkauft wird, ist im Lande erbaut oder gearbeitet, und umgekehrt, alles, was im Lande erbaut oder gearbeitet wird, wird in demselben auch gebraucht und verkauft“ (III 505). Daraus folgt die „Forderung“: „Aller unmittelbare Verkehr des Bürgers mit irgend einem Ausländer soll durchaus aufgehoben werden“ (III 484). Es gibt aber Ausnahmen: „Zu reisen hat aus einem geschlossenen Handelsstaate nur der Gelehrte und der höhere Künstler“ (III 506). Die „höheren Künstler“ sind wahrscheinlich das, was wir unter „Künstlern“ verstehen, denn auf der nächsten Seite nennt Fichte seinen Staat „den Sitz des blühendsten Ackerbaues, der Fabriken, der Künste“ (III 507), teilt also hier anders ein als weiter oben (III 504).

Kriege hält Fichte für unvermeidlich, es sei denn, daß die Kriegsgründe fortfallen: „Jeder Staat muss erhalten, was er durch Krieg zu erhalten beabsichtigt, und vernünftigerweise allein beabsichtigen kann, seine natürlichen Grenzen“ (III 482). In diesem Fall „bedarf dieser Staat nicht mehr stehender Truppen, als zur Erhaltung der inneren Ruhe und Ordnung nöthig sind; indem er keinen Eroberungskrieg führen will, und, da er auf allen Antheil an den politischen Verhältnissen anderer Staaten Verzicht geleistet hat, einen Angriff kaum zu fürchten hat. Für den letzteren äusserst unwahrscheinlichen Fall übe er alle seine waffenfähige Bürger in den Waffen“ (III 508).

Was hat das mit der zweiten Hälfte des Worts „Nationalsozialismus“ zu tun? Schauen wir ins Parteiprogramm der NSDAP vom 24.2.1920: „Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres Bevölkerungs-Überschusses“ (zit. n. Tyrell 23). „Wir fordern Verstaatlichung aller (bisher) bereits vergesellschafteten (Trusts) Betriebe. […] Wir fordern Gewinnbeteiligung an Großbetrieben. […] Wir fordern eine unseren nationalen Bedürfnissen angepaßte Bodenreform, Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke. Abschaffung des Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekulation“ (ebd. 24). „Zur Durchführung alles dessen fordern wir die Schaffung eienr starken Zentralgewalt des Reiches“ (ebd. 26).

Natürlich sind das nicht alle 25 Punkte, aber bei den zitierten (Nr. 3, 13f, 17, 25) überraschen doch die Ähnlichkeiten mit Fichtes Vorstellungen, der den „‚geschlossenen Handelsstaat‘ […], wie wir aus sichererer mündlicher Ueberlieferung wissen, gelegentlich wohl sein bestes, durchdachtestes Werk“ nannte (Immanuel Hermann Fichte: Vorrede des Herausgebers, III XXXVIII). Den 1929-1932 zum Schlagwort geronnenen Gedanken der Autarkie übernahmen die Nationalsozialisten von bürgerlich-nationalistisch eingestellten Kreisen (Eichholz 386f).

10. „Die Wissenschaftslehre“ (1812)

Diese Vortragsskizze in Stichworten (X 315-492) besteht aus einer Einleitung und drei Kapiteln. Das unverhältnismäßig lange dritte Kapitel ist in drei Abschnitte, der dritte Abschnitt in zwei Teile gegliedert. Es handelt sich um den unzugänglichsten Text von Fichte, den ich kenne. Eine Zusammenfassung müßte länger sein als der Text selbst, da man von ihr ja ganze Sätze erwarten würde. Deshalb deute ich hier den Inhalt lediglich an.

Einleitung. Fichte vergleicht seine Wissenschaftslehre mit dem System von Spinoza.

Kapitel I. Grundbegriffe der Wissenschaftslehre. Freie Phantasie über den Satz „Die Erscheinung erscheint sich“ (X 347).

Kapitel II. Deduktion der Fünffachheit in der Form der Erscheinung. Fichte bringt zwei Interpretationen des o.g. Satzes: 1. „Die Erscheinung ist, und erscheint„. 2. „Die Erscheinung ist“ (X 351). Wer fragt, was denn die fünf Glieder der Erscheinung sein sollen, erfährt folgendes: Sie „zerfällt in eine Fünffachheit, indem sie doppelte Bilder: Anschauung und Begriff, von sich giebt, deren jeder sich wieder spaltet in Subjekt und Objekt; Alles in absoluter Einheit. Diese fünffache Synthesis liegt absolut in der Sicherscheinung, und ist sie. Darum sind die Glieder nirgends zu trennen; sie erscheint sich nicht, ohne zu erscheinen als erscheinend, und umgekehrt; sie erscheint nicht qualitativ, ohne daß sie sich erscheine, als eben seiend“ (X 356).

Kapitel III. Fichte spricht breit über die Bedeutung der Reflexion. Der zentrale Satz: „Ohne Reflexion erscheint das, was eigentlich nur ein Bild ist, als Sache, weil es erscheint als Princip“ (X 381). Wem das etwas spanisch vorkommt, beherzige folgende Erläuterungen: „Die W.-L. hat es mit absoluten Formen zu thun, unbekümmert, was dieselben im wirklichen Bewußtsein bedeuten, und wie sie da erscheinen“ (X 405). Und: „Die faktische Welt ist ein System von Bildern und Begriffen von gewissen Bestimmungen des Sehens, und schlechthin nichts Anderes. Dies ist der Idealismus der W.-L.“ (X 423).

11. Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796)

Ich greife hier nur ein Thema heraus: das Verhältnis von Mann und Frau. Fichte handelt es in den ersten drei Abschnitten im „Grundriss des Familienrechts“ („Erster Anhang des Naturrechts“, III 304-353) ab. Der bare Unsinn, den Fichte hier produziert, ist bei aller korrekten Anwendung der Logik nur dadurch erklärbar, daß die beiden Prämissen falsch sind, aus denen er seine Schlußfolgerungen zieht.

Prämisse 1: Beim Geschlechtsakt verhält sich der Mann „nur thätig“, die Frau „nur leidend“ (III 306).

Prämisse 2: „Der Charakter der Vernunft ist absolute Selbstthätigkeit: blosses Leiden um des Leidens willen widerspricht der Vernunft und hebt sie gänzlich auf“ (III 306f).

Aus diesen Prämissen leitet Fichte folgendes ab: Für den aktiven Mann ist die Befriedigung des Geschlechtstriebs durch eine aktive Tätigkeit entsprechend dem tätigen Vernunftcharakter unproblematisch. Die passive Frau verliert beim Geschlechtsakt jedoch ihre Menschenwürde, es sei denn, sie macht sich selbst dabei zum Mittel für höhere Zwecke: die Befriedigung des Mannes oder die Fortpflanzung. Ihre Würde bewahrt sie dadurch, daß sie das nicht um der Befriedigung des eigenen Geschlechtstriebs willen, sondern aus Liebe tut.

Schon in den Prämissen (einmal angenommen, sie seien wahr, was sie nicht sind) vermischt Fichte verschiedene Kategorien: die Aktivität beim Geschlechtsakt wird unsinnigerweise mit der Aktivität der Vernunft assoziiert.

Prämisse 1 gilt nur für das Sexualverhalten ganz bestimmter Männer, nämlich solcher, die in Ermangelung einer Frau auch mit einer aufblasbaren Puppe oder ähnlichem vorliebnehmen.

Prämisse 2 läßt außer acht, daß die Vernunfttätigkeit zwei Komponenten hat: eine aktive, nämlich das Denken (das sinnvolle Verbinden von Begriffen), und eine passive, nämlich das Wahrnehmen von Gedankblitzen, Einfällen, Intuitionen usw. Das Wort „Vernunft“ kommt bekanntlich von dem Verbum „vernehmen“ (vgl. Duden Bd. 7).

Fichtes „Deduction der Ehe“ (III 304) ist also eindeutig sexistisch. Insofern stellt Fichte als Philosoph einen dankbaren Gegner für Feministinnen dar …

12. Fichte im Urteil seiner Kritiker

Einer von Fichtes Hörern meinte: „‚Sein Auge ist strafend und sein Gang ist trotzig'“ (zit. n. Weischedel 190). Goethe bemerkte: „‚Er philosophiert so, als ob die Welt sein privater Besitz wäre'“ (zit. n. Schweizer 32). Novalis schrieb 1797 an Friedrich Schlegel: „‚Fichte ist der gefährlichste unter allen Denkern, die ich kenne. Er zaubert einen in seinem Kreise fest'“ (zit. n. Jacobs 136). „Im August 1799 erklärte sich der von allen einzig bewunderte Kant öffentlich und scharf gegen die Philosophie Fichtes“ (Jaspers 275).

Caroline Schlegel schrieb an ihren späteren Mann Schelling im Februar 1801 über Fichte: „‚Ich weiß nicht, wie ers macht bei seiner Rechtschaffenheit um falsch zu sein, aber es ist doch manchmal so was bei ihm vorhanden'“ (zit. n. Jaspers 287).

Schelling selbst wehrte sich gegen Fichtes Behauptung, er „habe die Wissenschaftslehre nie durchdrungen“, damit, daß er meinte, er sei „nicht gesonnen, sie so zu durchdringen, daß er bei dieser Durchdringung der Durchdrungene sei“ (Jaspers 289). In seinem letzten Brief an Fichte vom 25. Januar 1802 warf ihm Schelling vor, daß er unaufrichtig sei: „‚Meine Erklärung existiert nicht, welche Sie gegen mich erbittert hat, aber Ihre zweideutige Äußerung in der Ankündigung der Wissenschaftslehre und der Brief an Herrn Schad existieren wirklich'“ (zit. n. Jaspers 291).

Jaspers kommentiert: „Der Bruch erfolgt über persönliche Beleidigungen, die Fichte Schelling zu Anfang mit Unrecht vorwirft, aber selber vollzieht. Doch diese Beleidigungen sind nicht Grund, sondern Folge. […] Fichte hält (nicht anders als im Grunde auch damals schon Schelling) seine Philosophie für die Philosohie, seine Sache für die Sache. Er wird unruhig beim ersten Spüren einer Selbständigkeit Schellings, dann schulmeisterlich und moralpathetisch. Schelling ist in diesem Verhältnis offen; Fichte verbirgt, verhält sich indirekt, ist vorsichtig. Der Bruch entsteht, sobald dies Mißtrauen und die Vorsicht da sind. Damit beginnt Fichte, der Ältere. Er will sich im Besitz und der Vorherrschaft seines Werks behaupten. Er begehrt Schüler und Kommentatoren, nicht selbständige neue Denker“ (S. 294). „Beide erheben in ihrem Herrschaftsdrang den Absolutheitsanspruch ihrer Philosophie“ (S. 295).

Jaspers selbst charakterisierte den Philosophen folgendermaßen: „Fichte ist ein bohrender Konstrukteur, fanatisch und dogmatisch, nationalistisch und moralistisch, aktivistisch als Rhetor, mit der Neigung zur Sensation im Dreinschlagen, Barbar, von fragwürdigem Anstand, nicht selten unwahrhaftig. […] Wo er hinkommt, macht er Krach“ (S. 282f).

Und: „Fichte hat Neigung, sich an Massen zu wenden; sein Denken, das auf dem Wege so viel von Freiheit handelt, gipfelt im Totalitären“ (S. 296). „Es ist unmöglich, daß er unrecht hat, da er völlig gewiß ist und diese Gewißheit für das Kennzeichen der Philosophie hält. Daß andere recht haben, ist gegen die Bedingung seiner Existenz. Wer so die Wahrheit besitzt, kann sie nur allein besitzen, und andere müssen gehorsam ihm folgen“ (S. 298).

Wilhelm Weischedel schrieb von Fichtes „gewalttätigen Ausfällen“ und der „Gewaltsamkeit, mit der Fichte seine Mitwelt behandelt. Er will ‚Schwerter und Blitze‘ reden. Immer ist Streit um ihn. Widerspruch will er nicht dulden, und wer nicht mit ihm übereinstimmt, den überschüttet er mit zornigen Ausfällen […] oder er streitet ihm gar die Existenz ab […]. All diese Händel betreibt Fichte nicht ohne grimmiges Vergnügen […] So ist es nicht verwunderlich, wenn der berühmte Jurist Anselm Feuerbach schreibt: ‚Es ist gefährlich, mit Fichte Händel zu bekommen. Er ist ein unbändiges Tier, das keinen Widerstand verträgt und jeden Feind seines Unsinns für einen Feind seiner Person hält. Ich bin überzeugt, daß er fähig wäre, einen Mahomet [= Mohammed] zu spielen, wenn noch Mahomets Zeit wäre, und mit Schwert und Zuchthaus seine Wissenschaftslehre einzuführen, wenn sein Katheder ein Königsthron wäre.'“ Kurz: Fichte „begnügt […] sich nicht damit, die Menschen zu überzeugen; er will sie mit Gewalt zu seiner Wahrheit bekehren.“ Aber Weischedel blieb gerecht: „Doch das ist nur die eine Seite dieses Philosophen. Neben dem gewalttätigen Streiter steht der Mann des stillen und versunkenen Mühens um Einsicht“ (S. 189f).

Arsenij Gulyga meinte in seiner Schelling-Biographie lakonisch: „Weder die Persönlichkeit noch das Werk Fichtes sind mir sympathisch. Aber man muß natürlich objektiv sein. Um Mißverständnisse zu vermeiden, wollen wir deshalb zwei seiner Gedanken genauer betrachten“ (S. 34).

Nach soviel Kritik noch ein wenig Selbst“kritik“: Fichte „betonte gegenüber seinen Studenten, dass er bereits fünfzehn Jahre Vorlesungen über Philosophie halte, aber noch niemandem bisher erklären konnte, was er denn genau sagen wolle“ (Schweizer 131). „‚Man hat bei dem Vorwurf der Arroganz, den man mir und anderen Verteidigern der Wissenschaftslehre so häufig gemacht, gerade den allerschlimmsten Punkt unserer Anmaßungen übersehen; den, daß wir in allem Ernste Anspruch machen, Wissenschaft – ich sage Wissenschaft, zu besitzen und zu lehren'“ (zit. n. Jaspers 298).

Literaturverzeichnis

DIE BIBEL – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart/Klosterneuburg 41987

BRUGGER, Walter: Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien 171985

DUDEN Band 7: Das Herkunftswörterbuch – Eine Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zürich 1963

EICHHOLZ, Dietrich: Autarkie, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hg. v. Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß, München 31998, S. 386f

FICHTE, Johann Gottlieb: Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, 11 Bände, Berlin 1971

GRUNDGESETZ mit Vertrag über die abschießende Regelung in bezug auf Deutschland, Menschenrechtskonvention, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Parteiengesetz und Gesetz über den Petitionsausschuß, hg. v. Prof. Dr. Günter Dürig und Prof. Dr. Jutta Limbach, München 351998

GULYGA, Arsenij: Schelling – Leben und Werk, aus dem Russischen übertragen von Elke Kirsten, Stuttgart 1989

HITLER, Adolf: Mein Kampf, o. O. o. J.

JACOBS, Wilhelm G.: Johann Gottlieb Fichte mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 1984

JASPERS, Karl: Schelling – Größe und Verhängnis (11955), München/Zürich 1986

KANT, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 11974 (B = 2. Auflage von 1793)

KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996

LEEB, Johannes: „Wir waren Hitlers Eliteschüler“ – Ehemalige Zöglinge der NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, München 32000

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81

MITTELSTRASS, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 2004

LEXIKON DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988

ORZECHOWSKI, Peter: Schwarze Magie – Braune Macht, Ravensburg o. J.

PRECHTL, Peter/BURKARD, Franz-Peter (Hg.): Metzler-Philosophie-Lexikon, Stuttgart/Weimar 21999

ROSENBERG, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 49/501935

SCHIERSE, Franz Joseph: Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel, Düsseldorf/Stuttgart 21986

[SCHLEGEL-SCHELLING, Caroline:] „Lieber Freund, ich komme weit her schon an diesem frühen Morgen“ – Caroline Schlegel-Schelling in ihren Briefen, herausgegeben und mit einem Essay eingeleitet von Sigrid Damm, Darmstadt/Neuwied 21981

SCHWEIZER, Frank: Nur einer hat mich verstanden … Philosophenanekdoten, Stuttgart 2006

TYRELL, Albrecht: Führer befiehl … – Selbstzeugnisse aus der ‚Kampfzeit‘ des NSDAP, Bindlach 1991

WEISCHEDEL, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe – 34 große Philosophen in Alltag und Denken, München 121984

Gunthard Heller