Tips zur Lektüre der Werke von Bertrand Russell

Bertrand Russel Philosophie EinführungWas
wir Bertrand Arthur William Russell (1872-1970) alles verdanken,
wissen die meisten gar nicht. Er war es, der dafür kämpfte,
daß junge Leute einander als Mann und Frau begegnen und
zusammenziehen können, ohne zu heiraten. Er war es, der die
Ehescheidung vom Nimbus der Sünde und des Versagens befreite.

Er
war es, der als Mann die Gleichberechtigung der Frau nicht nur
verkündete, sondern auch lebte. Er war es, der nicht nur für
die Emanzipation der Kinder eintrat, sondern sie in seiner privaten
Schule, der Beacon Hill School, auch verwirklichte.

Russell
war also viel mehr als ein Mathematiker und Philosoph. Er beeinflußte
das 20. Jahrhundert bis in den Alltag hinein wie kaum ein zweiter.
Bevor die Gesellschaft im 21. Jahrhundert begann, in allerlei
Fundamentalismen zurückzufallen, war sie geprägt durch
Russells moralische und politische Ansichten.

Während
des Ersten Weltkriegs kämpfte Russell für die
Friedensbewegung. Weil er dazu aufforderte, den Kriegsdienst zu
verweigern, verlor er 1916 seine Dozentur am Trinity College in
Cambridge und mußte 1918 ein halbes Jahr ins Gefängnis.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kämpfte er "öffentlich
gegen die atomare Rüstung, später auch gegen die
amerikanische Beteiligung am Vietnamkrieg und gegen die Intervention
der Warschauer-Pakt-Staaten in der Tschechoslowakei"
(MEL 20/481).

Wilhelm
Weischedel faßte Russells politisches Engagement so zusammen: "Er
kämpft gegen alles, was er auf dieser Erde als Übel
ansieht: gegen den Versailler Vertrag, gegen die Tyrannei Hitlers,
gegen die Grausamkeiten des Stalinschen Regimes, gegen den bornierten
Antikommunismus, gegen den Mißbrauch des Privateigentums, gegen
den Atomkrieg, gegen die Invasion in Vietnam" (S. 285). I. M. Bochenski faßt sich ganz kurz: "Kein
Gebiet der Philosophie, das er nicht berührt hätte"
(S. 57).

1950
bekam Russell den Nobelpreis für Literatur.

1.
Autobiographische Schriften

Den
besten Einstieg, um Russell und sein Denken kennenzulernen, bietet
seine Autobiographie. Dabei handelt es sich um eine Art Ausgabe
seiner Briefe, die er selbst mit erzählenden Zwischentexten
versehen hat.

Hier
erfahren wir sämtliche Details über seine Frauen, seinen
Charakter, seinen denkerischen Weg und allerlei Interessantes über
seine Zeitgenossen, z.B. daß David Herbert Lawrence (1885-1930)
in Lady Chatterley’s Lover seine
Frau als Constance verewigt hat. Wer nun allerdings meint,
Russell hätte den Dichter wegen seiner Freizügigkeit in
Sachen Erotika geschätzt, irrt:

"Lawrence
war […] das Sprachrohr seiner Frau. […] Seine Gedanken
waren zahllose Selbsttäuschungen unter der Maske eines strengen
Realismus. […] Es waren die Ideen eines überempfindlichen
Scheindespoten, der der Welt grollte, weil sie nicht sofort gehorchen
wollte. Wenn er wahrnahm, daß es auch andere Leute gab, so
haßte er sie. […] Seine übertriebene Betonung des
Sexuellen beruhte darauf, daß er dabei zugeben mußte,
nicht das einzige menschliche Wesen im Universum zu sein. Doch das
war so schmerzlich für ihn, daß er Geschlechtsbeziehungen
als einen ewigen Kampf ansah, bei dem jeder den andern zu zerstören
versucht" (II 21f).

Diese
Stelle ist keine Ausnahme, sondern typisch für Russell: Er packt
die Wirklichkeit geradezu mit seinen Gedanken und schreckt vor nichts
zurück. Deshalb ist die Lektüre seiner Autobiographie ein
geistiger Hochgenuß, wie man ihn in der Philosophie nur selten
findet.

Gleich
der erste Satz des ersten Kapitels, in dem Russell die bestimmenden
Beweggründe seines Lebens zusammenfaßt, ist berühmt
geworden: "Drei
einfache, doch übermächtige Leidenschaften haben mein Leben
bestimmt: das Verlangen nach Liebe, der Drang nach Erkenntnis und ein
unerträgliches Mitgefühl für die Leiden der
Menschheit" (I 7).

Schwieriger
zu lesen ist My Philosophical Development.
Es ist sehr viel dichter als die lockere Autobiographie geschrieben.

2.
Mathematik und Logik

Die
zehnjährige Arbeit an den drei Bänden der Principia
Mathematica
, die 1910, 1912 und
1913 erschienen, brachte
den beiden Autoren Alfred North Whitehead (1861-1947) und Russell je
50 Pfund Verlust ein, resümierte letzterer. Damit hätten
sie Miltons Mißerfolg mit Paradise Lost noch übertroffen (Clark 87).

Dafür
überflügelte John Milton (1608-1674) Russell inbezug auf
sein leidvolles Schicksal: Seine erste Frau Katharine Woodcock starb
nach zweijähriger Ehe bei der Geburt ihres Kindes, das ebenfalls
starb. Milton selbst wurde blind. Er erreichte weder in der Religion
noch in der Politik irgendetwas von dem, für das er kämpfte.
Doch es gibt auch eine Ähnlichkeit zwischen den beiden: Milton
hatte nacheinander drei, Russell vier Ehefrauen.

In
den Principia Mathematica geht
es darum, die Mathematik auf die Logik zurückzuführen. Das
ist nur möglich, wenn eine formalisierte Kunstsprache geschaffen
wird und "alle
mathematischen Theoreme allein aufgrund formallogischer Prinzipien
bewiesen" werden (Peter Hinst, in: KNLL 14/497).

Gemeinsam
mit Whitehead entwickelte Russell die Typentheorie. "Danach
werden die Gegenstände und Mengen in eine Hierarchie von Stufen
eingeteilt: zur untersten Stufe gehören die Individuen, zur
zweiten Stufe die Mengen von Individuen, zur dritten Stufe die Mengen
der zweiten Stufe usw. Der Begriff einer Menge, die sich selbst als
Element enthält, kann hier nicht mehr gebildet werden, da eine
Menge prinzipiell nur Mengen niedrigerer Stufen als Elemente besitzen
kann. Daher verschwinden innerhalb der Typentheorie die russellsche
Antinomie und in ähnlicher Weise auch die übrigen
mengentheoretischen Antinomien" (Stegmüller 437).

Das
bekannteste Beispiel für eine solche Antinomie ist das
Lügnerparadox: Ein Kreter sagt, daß alle Kreter lügen.
Nach Russell bedeutet dieser Satz folgendes: Der eine Kreter sagt die
Wahrheit. Er begründet diese Interpretation damit, daß man
die erste Stufe, nämlich den einen Kreter, in die zweite Stufe,
nämlich die Menge aller Kreter, nicht einschließen darf.
Würde man das tun, würde man sich in einen unauflösbaren
Widerspruch verwickeln: Der eine Kreter lügt, da ja alle Kreter
lügen. Wenn ein lügnerischer Kreter sagt, daß alle
Kreter lügen, sagen alle Kreter die Wahrheit, da sonst ja der
eine Kreter nicht lügen würde.

Die
"Einführung in
die mathematische Philosophie" aus dem Jahr 1919 ist
ausdrücklich für "Anfänger" geschrieben (S. 9), also für Laien ungleich ergiebiger als die
Formeln der Principia Mathematica.
Weitere Schriften zur Logik enthalten die "Philosophischen
und politischen Aufsätze": "Über
das Kennzeichnen" (1905), "Der
logische Atomismus" (1924), "Über
die Natur von Wahrheit und Falschheit" (1910).

3.
Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie

Eine
knappe Einführung gibt Russell in "Probleme
der Philosophie". Wer
mehr Zeit hat, kann sich das umfangreiche, für Laien
geschriebene Buch "Das
menschliche Wissen" zu
Gemüte führen. Es behandelt folgende Fragen: "Wie
kommt es, daß menschliche Wesen, deren Beziehungen zur Welt
doch kurz, persönlich und beschränkt sind, dennoch imstande
sind, so viel zu wissen, wie sie wirklich wissen? Ist der Glaube an
unsere Kenntnisse teilweise eine Einredung? Und wenn das nicht der
Fall ist, was müssen wir dann auf anderem Wege als durch die
Sinne wissen?" (S. 5) Als Aussage formuliert: "Aufgabe
dieses Buches soll es in erster Linie sein, die Beziehung zwischen
der individuellen Erfahrung und dem allgemeinen Bestande
wissenschaftlicher Erkenntnis zu untersuchen" (S. 9).

In
"Die Analyse des Geistes" (1921) versucht Russell, "zwei
Tendenzen zu vereinigen" (S. V): "die materialistische
Tendenz der Psychologen mit der antimaterialistischen der Physiker".
Darin sind ihm William James (1842-1910) und die "amerikanischen
Neurealisten" vorangegangen. Nach deren "Ansicht […]
ist […] der ‚Stoff‘, woraus die Welt besteht, weder geistig
noch materiell sondern ein ’neutraler Stoff‘, aus dem beide, Geist
und Materie, aufgebaut sind." Russell hat "in dem
vorliegenden Buch versucht, diese Ansicht in ihren Einzelheiten zu
entwickeln, soweit es sich um die Erscheinungen handelt, mit denen
sich die Psychologie befaßt" (S. VI).

Seine
Vorlesungen "Unser
Wissen von der Außenwelt"
vom März und April 1914 hat Russell 1926 überarbeitet. Sie
"stellen einen Versuch dar, Eigenart, Vermögen und
Nichtvermögen der logisch-analytischen Methode in der
Philosophie anhand von Beispielen darzulegen. […] Das
Kernproblem, an dessen Beispiel ich versucht habe, diese Methode zu
erläutern, ist das Problem des Verhältnisses der rohen
Sinnesdaten zu Raum, Zeit und dem Gegenstand der mathematischen
Physik" (Vorwort, S. 5f).

Auch
bei An Inquiry
into Meaning and Truth
handelt es sich um Vorlesungen (1940). Russell betrachtet hier die
Sprache im Hinblick auf zwei Fragen: 1. "Was bedeutet
‚empirische Evidenz für die Wahrheit einer Aussage‘?" 2.
"Was kann man aus der Tatsache schließen, daß es
manchmal eine solche Evidenz gibt?" (Einleitung, S. 9;
Übersetzung von mir).

4.
Naturphilosophie

In
"Das ABC der
Relativitätstheorie"
geht Russell von alltäglichen Erfahrungen aus, um die
Grundgedanken von Einsteins Allgemeiner und Spezieller
Relativitätstheorie verständlich zu machen.

The
Analysis of Matter
ist der
Versuch, "den
philosophischen Ertrag der modernen Physik aufzudecken" (Vorwort; Übersetzung von mir). Die Schwierigkeit einer
Beurteilung liegt für Russell
darin, daß im Jahr 1927 zwar die Relativitätstheorie
abgeschlossen dasteht, aber die Quantenphysik noch im Entstehen ist.

5.
Moralphilosophie und Pädagogik

"Eroberung
des Glücks" enthält Russells Ethik, in der es auch in dreien der "Philosophischen und
politischen Aufsätze"
geht, so in "Lob des
Müßiggangs"
(1935), in "Über
die Verbindlichkeit ethischer Urteile"
(1944) und in "Ethik" (1927). Den Inhalt des dritten dieser Aufsätze faßt
Russell selbst zusammen: "Ein
gutes Leben ist eines, das von Liebe beseelt und von Erkenntnis
geleitet wird
" (S. 196).

In "Dennoch
siegt die Vernunft" bringt Russell seine Ethik folgendermaßen auf den Punkt: "Liebe
zu allen, die uns nahestehen, und eine gütige Gesinnung gegen
jedermann sind die Gefühle, die am ehesten zu einem rechten
Verhalten führen werden" (S. 152).

In Marriage and morals rechnet
Russell ab mit der christlichen Sexual- und Ehemoral, die seiner
Ansicht nach geistige Störungen fördert. Die romantische
Liebe, die Russell für die Quelle des höchsten irdischen
Glücks hält, muß frei sein, sonst stirbt sie ab. Auch
innerhalb der Ehe plädiert er für sexuelle Freiheit, denn
er findet, es ist besser, die Eifersucht unter Kontrolle zu halten
als die Liebe.

"Freiheit
ohne Furcht" ist ein
Niederschlag von Russells Erfahrungen in der 1927 mit seiner zweiten
Frau Dora "gegründeten
Schule ‚Beacon Hill‘, einem Gegenstück zu Neills ‚Summerhill‘.
Auch Russell lehnte den traditionellen Autoritarismus in der
Erziehung entschieden ab, betonte aber im Gegensatz zu Neill die
Notwendigkeit intellektueller Bildung und der Erziehung zu
kooperativem Verhalten, ebenso wie zu individueller Spontaneität
und Kreativität"
(Zu diesem Buch, S. 4).

6.
Religionsphilosophie

Der
Vortrag "Warum ich
kein Christ bin“ hat einer ganzen Essay-Sammlung über
religiöse Themen den Titel gegeben. Russell hält die
Weltreligionen und Ideologien wie den Kommunismus "sowohl
für unwahr als auch für schädlich. Aus logischen
Gründen ist es klar, daß höchstens eine davon wahr
sein kann, da sie zueinander im Widerspruch stehen"
(Vorwort, S. 13).

Russells
Hauptargumente gegen die Religionen und Ideologien sind im Vorwort zu
dieser Essay-Sammlung folgende:

  • Die Existenz Gottes
    wird durch das Leid auf der Erde widerlegt.
  • Glaube im Sinne
    eines Fürwahrhaltens von unüberprüfbaren bis falschen
    Sätzen zementiert dieses Leid.
  • Die Ablehnung der
    Empfängnisverhütung durch die Katholische Kirche sabotiert
    den Kampf gegen Armut und Krieg.
  • Diktaturen von
    Minderheiten produzieren "Abscheulichkeiten"
    (ebd. S. 15).

Demgegenüber
propagiert er als Heilmittel eine Erziehung zum selbständigen
Denken: "Die Welt
braucht offene Herzen und geistige Aufgeschlossenheit, und das
erreichen wir nicht durch starre Systeme, mögen sie nun alt oder
neu sein" (S. 15).

Nun
zum titelgebenden Vortrag der Sammlung. Er ist nur verständlich
vor dem Hintergrund der falschen Definition, die Russell vom Christen
gibt: "Ich verstehe
unter einem Christen nicht irgendeine Person, die sich entsprechend
ihren geistigen Fähigkeiten bemüht, anständig zu
leben" (S. 17).
Positiv bringt Russell folgende Kriterien für das Christsein:
Ein Christ muß "an
Gott und die Unsterblichkeit"
und "in irgendeiner Form an Christus glauben."
Dementsprechend begründet Russell seine Ablehnung des
Christentums: Er glaubt nicht an Gott und Unsterblichkeit und er
denkt nicht, "daß Christus der beste und weiseste der
Menschen war" (S. 18).

In
die Details braucht man nicht weiter zu gehen, um Russells Standpunkt
zu widerlegen. Denn seine Kriterien entscheiden nicht über das
Christsein. Natürlich ist die Bestimmung dessen, was das
Christentum ausmacht, aufgrund der Quellenlage schwierig, doch
folgendes kann man immerhin sagen (ich bringe der Einfachheit halber
jeweils nur eine Belegstelle aus den Evangelien):

Das
Christsein ist definiert durch die Jesus-Nachfolge (Mk 8,34). Diese
Nachfolge ist nicht als Nachäffen, sondern als
Selbstverwirklichung gedacht. Das zeigt nicht nur die Formulierung,
daß jeder sein Kreuz
auf sich nehmen soll, sondern auch das Gleichnis von den Talenten (Lk
19,11-27), in dem es Jesus nach der Auffassung der meisten
Interpreten nicht um
Geld ging.

Eine
Ausnahme ist die Interpretation dieser Stelle durch Barbara Thiering: "Lukas‘
Gleichnis von den anvertrauten Pfunden gibt Auskunft über die
ursprüngliche Mission und ihre Finanzierung." So sei es "eine
Art Rechenschaftsbericht über die Anfänge der Organisation" (S. 47). Die Talente oder Pfunde sind ihrer Meinung nach kleine weiße
Steine, auf die die Namen der Täuflinge geschrieben wurden (vgl.
Offb 2,17). Auf dem Heimweg seien die Beutel der Missionare dann mit
den Beitrittszahlungen der Täuflinge gefüllt gewesen …

Die
Selbstverwirklichung (oder Selbstverleugnung im Sinne der Überwindung
des kleinen, bewußten Ich zugunsten des größeren,
umfassenderen Selbst) besteht darin, den Willen Gottes zu tun (Mt
7,21). Diesen Willen kann man nicht dadurch erfahren, daß man
irgendwelche Sätze glaubt, sondern nur dadurch, daß man in
direkter Kommunikation mit Gott steht (Mt 26,39). Um mit jemand oder
etwas Kontakt aufzunehmen, genügt es nicht, dessen Existenz
lediglich zu glauben oder sie anzunehmen. Voraussetzung für
einen solchen Kontakt sind tatsächliche Erfahrungen, wie Jesus
(Mk 1,10) und viele andere (Yogis, Mystiker, Schamanen) sie
gemacht haben.

Mit
anderen Worten: "Zunächst
einmal könnte man meinen, dass buddhistische wie benediktinische
Mönche sehr ähnliche Ziele haben, die sie auf sehr
ähnlichen Wegen zu erreichen versuchen – um
Selbstverwirklichung geht es jedenfalls beiden, das ist unstrittig."
Der das im Jahr 2006 geschrieben hat, Abtprimas des
Benediktinerordens Notker Wolf, formuliert den Unterschied so: Ziel
der Zen-Buddhisten ist es, "so
frei von sich selbst, so leer zu werden, dass von der Person des
einzelnen nichts mehr übrig bleibt"
und dadurch "die
ersehnte Verschmelzung mit dem kosmischen Kreislauf"
bzw. "das Erlebnis eines vorgezogenen Nirwanas" möglich wird. "Für
uns hingegen bedeutet Selbstverwirklichung die Erfüllung und die
Vollendung der Person in Gott. Wenn wir Gott suchen, dann um uns
selbst zu finden, nicht zu verlieren; unser Ziel ist also die
Überhöhung des Individuums, nicht die Auflösung der
Individualität"
(S. 115f).

Da
schon im Neuen Testament beide Momente, Selbstverleugnung und
Selbstverwirklichung, angelegt sind, fällt der Schluß
nicht schwer, sie als Stufen der spirituellen Entwicklung
aufzufassen: Um etwas Größeres (Transzendentes) einziehen
zu lassen, muß man sich leer machen, ist dieses Größere
eingezogen, geht es darum, seine wahre Persönlichkeit durch die
Entfaltung der Anlagen aufzubauen. Es handelt sich also nicht um
widersprüchliche Auffassungen, sondern um Stufen ein und
desselben Wegs.

Leider
hat sich das Christentum von der Lehre Jesu Schritt für Schritt
entfernt: Zunächst ist Jesus an die Stelle von Gott getreten,
dann die Nachrichten über Jesus (das Neue Testament) an die
Stelle der Erinnerung seiner Zeitgenossen, schließlich
Spekulationen über diese Nachrichten (Dogmen) und die
Überlieferung dieser Spekulationen an die Stelle des NT.

Unter
dem Strich bleibt also übrig, daß Russell ein besserer
Christ war als Menschen, die irgendwelche unüberprüfbare
oder gar falsche Sätze für wahr halten. Dafür, daß
Russell innere Erfahrungen von einer Transzendenz gemacht hat, gibt
es in seiner Autobiographie mehrere Beispiele: Er schaute nach innen
(I 47), lehnte den Materialismus wegen der offensichtlichen Erfahrung
des menschlichen Bewußtseins ab (I 49) und erlebte so etwas "wie eine mystische
Erleuchtung" (I 225)
oder "Augenblicke
mystischer Erkenntnis"
(II 106): "Eine
Macht, stärker als Worte oder als unser bewußtes Denken,
hielt uns verbunden, so daß, was das Handeln betraf, keiner von
uns einen Augenblick lang zögerte"
(II 167).

In
Russells Brief vom 23. Oktober 1916 an die verheiratete,
pazifistische Schauspielerin Constance Malleson (Colette O’Niel), in
die er sich verliebt hatte, heißt es:

"Das
Zentrum meines Ichs ist […] eine Suche nach etwas, das
außerhalb der Welt liegt, nach etwas Verklärtem und
Unendlichem – der seligen Vision – Gott – ich finde
es nicht, ich glaube nicht, daß es gefunden werden kann –
aber die Liebe dazu ist mein Leben – es gleicht der
leidenschaftlichen Liebe zu einem Gespenst. Manchmal erfüllt es
mich mit Wut, manchmal mit wilder Verzweiflung, es ist die Quelle von
Sanftmut, Grausamkeit und Arbeit, es erfüllt alle meine
Leidenschaften – es ist der eigentliche Lebensquell in mir.

Ich
kann es nicht erklären oder es anders als nur Torheit erscheinen
lassen – aber ob töricht oder nicht, es ist die Quelle all
dessen, was Gutes in mir sein mag. Ich habe andere gekannt, die es
hatten – Conrad vor allem – aber das ist selten; es
schließt einen auf merkwürdige Weise von allem aus und
gibt einem das Gefühl großer Isolierung, es läßt
das Evangelium anderer oft dürftig erscheinen. Ich bin mir
seiner jetzt oft nicht bewußt, nur wenn mich etwas stark
aufrüttelt, Glück oder Unglück. Ich versuche, davor zu
fliehen, obwohl ich glaube, daß ich es nicht sollte"
(II 108f).

Am
8. August 1918, also während der Friedensverhandlungen zum
Abschluß des Ersten Weltkriegs, schrieb Russell an Ottoline
Morrell, wegen der ihn 1911 seine erste Ehefrau Alys Pearsall Smith
verlassen hatte:

"Die
Dinge, die man sagt, sind immer erfolglose Versuche, etwas anderes zu
sagen – etwas, in dessen eigenster Natur es vielleicht liegt,
daß es nicht gesagt werden kann. […] Man sucht es in der
Musik und am Meer und in Sonnenuntergängen. Manchmal glaubte
ich, sehr nahe daran zu sein, in Menschenmengen, wenn ich stark
fühlte, was sie fühlten. Man sucht es vor allem in der
Liebe. Aber wenn man sich zu der Einbildung verleiten läßt,
man habe es gefunden, so zeigt sich gewiß durch irgendeine
grausame Ironie, daß man es nicht wirklich gefunden hat. […]

Man
kommt zu dem Ergebnis, daß man ein Gespenst ist, das ohne
wirklichen Kontakt durch die Welt schwebt. Selbst wenn man sich
anderen Leuten am nächsten fühlt, scheint etwas in einem
hartnäckig zu Gott zu gehören und sich zu weigern, in
irgendeine irdische Verbindung einzugehen – so zumindest würde
ich es ausdrücken, wenn ich glaubte, daß es einen Gott
gibt. […] Es muß etwas Wichtigeres geben, das fühlt man, obwohl ich es nicht glaube. Ich werde
verfolgt – irgendein Geist aus einer außerweltlichen
Region scheint immerfort zu versuchen, mir etwas zu erzählen,
das ich der Welt wiederholen soll; aber ich kann die Botschaft nicht
verstehen. Doch indem man diesem Spuk zuhört, fühlt man
sich selbst als Spuk" (II 134).

7.
Philosophiegeschichtsschreibung

A
History of Western Philosophy
ist
etwa doppelt so umfangreich wie Wisdom of the West. Während das erste Werk nach Philosophen gegliedert ist, ist das
zweite nach Epochen unterteilt. Beide sind ausdrücklich nicht
für Fachleute, sondern für Laien geschrieben und
dementsprechend gut lesbar. Die Schrift "Der
Pragmatismus" (1909) ist in den "Philosophischen und
politischen Aufsätzen" enthalten.

8.
Politik

Bertrand Russel Philosoph Einführung WerkEinschlägige
Themen der "Politischen
Schriften I" und der
Sammlung "Philosophische und politische Aufsätze" sind
der Erste Weltkrieg, Macht, Massenvernichtungswaffen,
Sozialdemokratie, Marxismus, Sozialismus, Bolschewismus, Kommunismus,
Kapitalismus, Faschismus, Rußland, China und Industrialismus.

Die
Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (1814-1914) hat Russell in "Freiheit
und Organisation" aufgearbeitet. Themen sind Legitimitätsprinzip, Gesellschaft,
politische Philosophen (Malthus, Bentham, James Mill, Ricardo),
Sozialismus (Owen, Marx, Engels), Demokratie und Kapitalismus in den
USA, europäischer Nationalismus und Imperialismus.

In
"Hat der Mensch noch
eine Zukunft?" geht
es um Atom- und Wasserstoffbombe, McCarthys Kommunistenjagd,
Weltregierung, Friedenssicherung, Abrüstung und Geopolitik. "Macht und
Persönlichkeit"
handelt von der Beziehung des einzelnen zur Gesellschaft.

Anläßlich
des Vietnamkriegs hat Russell im Jahr 1967 gemeinsam mit Sartre die
USA vor ein (machtloses) Tribunal von Geschworenen gestellt und nach
den im Nürnberger Prozeß (1945/46) aufgestellten Maßstäben
verurteilt (dokumentiert in den beiden Bänden "Das
Vietnam-Tribunal"):
"Verbrechen gegen den
Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit" (I 18; in Artikel 6 des Statuts für den Internationalen
Militärgerichtshof hieß es "Verbrechen
gegen die Menschlichkeit",
NP I 12).

So
erfüllte sich die Prophezeiung von Hauptankläger Justice
Robert H. Jackson vom 21. November 1945: "Denn
wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß,
mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der
Geschichte gemessen werden"
(NP II 118).

In
der "Juristischen
Stellungnahme über den Vietnamkrieg als Kriegsverbrechen und
über die Legitimität der Demokratischen Republik Vietnam
als dem einzigen geeinten Staat in ganz Vietnam"
(I 60-70) wird die Einmischung der USA als Angriffskrieg gewertet (I 70, vgl. a. I 154, 157, 160, 164 und II 18, 215, 236).

Dieser
Einschätzung kann man Reinhard Gehlens (1902-1979)
geheimdienstliche Beurteilung der sowjetischen Politik
gegenüberstellen. Gehlen, bis 1968 Präsident des BND, ging
in seinen Memoiren aus dem Jahr 1971 ausführlich auf die
politische Taktik der UdSSR ein und kam zum Ergebnis, "daß
nur das Eingreifen der USA den Verlust des gesamten indochinesischen
Raumes für die freie Welt verhindert hat" (S. 299).

Besonders
interessant sind Gehlens Ausführungen über die sowjetischen
Sprachregelungen: wissenschaftlich = marxistisch-leninistisch, also
materialistisch, dialektisch und proletarisch (S. 332), Koexistenz
mit dem Westen = Entwicklung des Westens zum Sozialismus (S. 333),
politische Entspannung = Nutzen oder Vorteil für die Kommunisten
(S. 335f). Nationale Befreiungskämpfe wie in Vietnam galten als
"’gerecht’", wenn sie der sowjetischen Politik genehm
waren, andernfalls galten sie als "’imperialistische Kriege’"
(S. 333).

Gehlens
Prognose lautete damals, der Kreml werde auch in Zukunft jede
Möglichkeit nutzen, "ein ‚Vietnam‘ für die USA
entstehen zu lassen. Dies bedeutet, die USA in ein Engagement zu
zwingen, das ohne großes eigenes und direktes Eingreifen der
Sowjets zum Nachteil Washingtons ausgenutzt und vor allem
propagandistisch vor der Weltöffentlichkeit ausgeschlachtet
werden kann" (S. 390).

Diese
Prognose macht im Hinblick auf den Nahost-Konflikt auch heute noch
nachdenklich: "Ägypten rückte rasch an die Spitze
aller von der Sowjetunion materiell unterstützten Länder,
Syrien schob sich an die zweite Stelle, der Irak folgte. […]
Der Nahe Osten erfüllt in der Gesamtkonzeption der Sowjetunion
seit langem eine Doppelfunktion. Als geopolitischer Stützpunkt ersten Ranges muß er
unter Ausnutzung des arabisch-israelischen Konfliktes die USA –
ähnlich wie in
Vietnam – binden und zugleich die NATO in ihrer strategisch
besonders gefährdeten Südflanke umfassen", schrieb
Gehlen 1971 (S. 391).

Der
im "Vietnam-Tribunal" auszugsweise wiedergegebene Vortrag
des italienischen Juristen, Abgeordneten und Soziologieprofessors
Lelio Basso bestätigt trotz der gegensätzlichen
Gesamtbeurteilung Gehlens Einschätzung: Was die Amerikaner
"’Verteidigung der freien Welt‘ nennen, ist die Aggression gegen
die Völker, die den Weg einer sozialistischen oder einfach nur
nicht-kapitalistischen Entwicklung wählen wollen, ist eine
Aggression sogar gegen die Völker, die eine wirklich neutrale
Politik wählen, wie das Beispiel Kambodscha zeigt" (I 154).

Die
von Neil Sheehan veröffentlichten "Pentagon-Papiere"
zeigen allerdings auch, daß die sog. Domino-Theorie (fällt
ein Land dem Kommunismus anheim, reißt es die anderen mit) eine
maßlose Übertreibung war:

  • 1953
    befürchtete der Nationale Sicherheitsrat "’den
    Verlust nicht nur Indochinas, sondern ganz Südostasiens an den
    Kommunismus’"
    (S. 8).
  • 1954
    prophezeite der Sicherheitsrat, "daß
    ‚der Verlust eines einzigen Landes‘ in Südostasien letzten
    Endes zum Verlust ganz Südostasiens, dann Indiens und Japans,
    führen und schließlich ‚die Sicherheit und Stabilität
    Europas gefährden‘ würde"
    (S. 4).
  • Doch
    als Präsident Johnson im Juni 1964 die CIA um eine
    Lageeinschätzung bat, erfuhr er, "daß
    wahrscheinlich nur Kambodscha ‚dem Kommunismus rasch unterliegen
    würde‘, wenn Laos und Süd-Vietnam fallen, allerdings wäre
    auch dadurch das US-Prestige angeschlagen"
    (S. XL).

Wie
sah Russell den Kommunismus (v. lat. communis = gemeinsam) bzw. Sozialismus (v. Sozialisierung = Vergesellschaftung;
gemeint ist die Aufhebung des Privateigentums an den
Produktionsmitteln)?

In
seiner Schrift "Schwächen
des Sozialismus" aus dem
Jahr 1917 (in: Politische Schriften I, 105-116) hielt er den
Staatssozialismus für undemokratisch (108), betrachtete jedoch
andererseits die "Tyrannei
der Mehrheit" als
"eine sehr reale
Gefahr" (ebd. 112).
Seine Lösung: die Vermeidung einheitlicher Regelungen, wo dies
nicht notwendig ist, z.B. in Sachen Religion, Erziehung und
Wehrdienst (112f). Die "Konzentration
wirtschaftlicher Macht in den Händen der Arbeitgeber"
betrachtete Russell als "Mißstand",
denn sie "beraubt die
Arbeitnehmer ihres rechtmäßigen Interesses an den
bedeutenden Problemen ihres Gewerbezweiges"
(114).

Kommunismus
und Faschismus lehnte Russell in "Scylla
und Charaybdis oder Kommunismus und Faschismus" aus dem Jahr 1934 (in: Politische Schriften I 192-199) gleichermaßen
ab. Er glaubte weder an den Materialismus noch an die Dialektik als
Geschichtsprinzip.

Von
Marx‘ Theorien hielt er insbesondere die Mehrwerttheorie, die den
Warenwert von den Produktionskosten abhängig macht und die
Ricardo übernommen hat, für falsch, da sie Ricardos
Rententheorie widerspreche. So hänge in der Landwirtschaft der
Ertrag auch von der Bodenqualität ab, nicht nur von der
investierten Arbeit. Dasselbe gelte für den Wert von
Grundstücken, der mit zunehmender Ausdehnung einer Stadt steige
(vgl. Freiheit und Organisation, S. 125).

Natürlich
war Russell auch gegen die Diktatur einer kleinen Gruppe, gegen
Freiheitseinschränkungen, gegen die Diskriminierung von
Intellektuellen, gegen die unkritische Haltung gegenüber Marx
und gegen den Haß der Kommunisten.

In
"Was für den
Sozialismus spricht" aus dem Jahr 1935 (in: Philosophische und politische Aufsätze
136-165) schrieb Russell: "Ich
für mein Teil bin zwar ein ebenso überzeugter Sozialist wie
der glühendste Marxist, halte aber den Sozialismus nicht für
ein Evangelium proletarischer Rachegefühle, nicht einmal ursprünglich für
ein Mittel, den gerechten wirtschaftlichen Ausgleich zu
gewährleisten" (S. 136).

Russells
Definition des Sozialismus gliedert sich in zwei Bestandteile,
nämlich 1. "daß
der Staat die höchste
wirtschaftliche Macht in Besitz hat"
(mindestens Land, Bodenschätze, Kapital, Banken und Außenhandel) und "daß
die höchste politische Macht demokratisch sei" (S. 137).

Für den
Sozialismus sprachen in seinen Augen neun Argumente:

  1. Profitgier im
    Kapitalismus führe zu Chaos.
  2. Vollbeschäftigung
    der einen führe zur Arbeitslosigkeit der andern.
  3. Wirtschaftliche
    Sicherheit im Sozialismus hebe die Qualität der Arbeit.
  4. Der Gegensatz
    zwischen kaufkräftigen Reichen auf der einen und deren
    Parasiten auf der anderen Seite gefährde die Moral von beiden.
  5. Im Kapitalismus
    seien die Ausbildungschancen nicht gleich für alle.
  6. In einem
    sozialistischen Staat könne man Mütter durch
    Kindertagesstätten entlasten, so daß sie aufgrund eines
    eigenen Einkommens unabhängig von ihren Ehemännern seien.
  7. Die Kunst leide im
    Kapitalismus unter der Ausrichtung der Künstler an finanziellen
    Gesichtspunkten.
  8. Es gebe Dinge, die
    notwendig seien, aber vernachlässigt würden, wenn sie
    unter wirtschaftlichem Aspekt betrachtet würden, z.B.
    Landesverteidigung, Straßenbau, Grünanlagen, Gesundheits-
    und Schulwesen.
  9. Wirtschaftliche
    Gesichtspunkte seien die häufigste Ursache von Kriegen.

Punkt
9 gilt Russell zufolge auch für den Vietnamkrieg. So zitierte er
in seinem "Appell an
das Gewissen Amerikas" aus dem Jahr 1966 (in: Politische Schriften I, 240-247), was
Präsident Eisenhower 1953 gesagt hatte: "’Nehmen
wir an, wir müßten Indo-China räumen. Wenn Indo-China
verlorenginge, würden Zinn und Wolfram, die wir so sehr zu
schätzen wissen, ausbleiben. Wir fahnden nach dem billigsten
Weg, ein folgenschweres Ereignis abzuwenden, – den Verlust der
Möglichkeit, unseren Bedarf aus den Reichtümern Indo-Chinas
und Südostasiens zu decken’"
(S. 240).

Soviel
zu den Sprachregelungen der US-Regierungen im Kampf um Freiheit und
Demokratie gegen die Kommunisten. Im folgenden gebe ich für
Interessierte noch eine kurze Rekonstruktion der Grundzüge des
Kriegsverlaufs (nach MEL 24/580f und 585ff mit Querverweisen):

Vorgeschichte:
Nachdem Kaiser Thu Ðuc
Handelsverträge mit den Europäern abgelehnt hatte, wurde
Süd-Vietnam von den Franzosen besetzt und 1862 zum Abschluß
eines Vertrags gezwungen. 1887 wurden die französischen Kolonien
in Südostasien zur Indochinesischen Union zusammengeschlossen.
Die vietnamesischen Befreiungsbewegungen wurden von Gelehrten
angeführt. 1930 gründete der Journalist, Photograph und
Politiker Hô Chi
Minh (1890-1969; sein Name bedeutet "der
nach Erkenntnis Strebende")
die Kommunistische Partei Indochinas, aus der 1941 die Vietminh (Abk.
für "Liga für
die Unabhängigkeit Vietnams")
hervorging. Im Zweiten Weltkrieg unterlagen die Franzosen den
Japanern. 1945 wurde Ho Chi Minh Präsident der Demokratischen
Republik Vietnam (DRV).

Vietnam-Krieg
(1946-1975): Trotz des Abkommens vom 6. März 1946 versuchten die
Franzosen gegen den Widerstand der Vietminh den alten Koloniestatus
Vietnams wiederherzustellen. 1949 setzten sie Bao-Ðai
als Staatschef von Vietnam ein. 1950 riefen die Franzosen die
Amerikaner zu Hilfe. Nach der militärischen Niederlage der
Franzosen 1954 wurde Vietnam auf der Indochina-Konferenz in Genf
vorläufig bis zu geplanten, aber dann nicht durchgeführten
freien Wahlen im Jahr 1956 in zwei Zonen geteilt, wobei der Norden
mit der Hauptstadt Hanoi der Vietminh, der Süden mit der
Hauptstadt Saigon den Franzosen zugesprochen wurde.

Während
Ho Chi Minh Verträge zur gegenseitigen Hilfe mit der UdSSR und
China abschloß und in Nord-Vietnam eine Landreform durchführte,
setzte Bao-Ðai in
Süd-Vietnam den antikommunistisch und antikolonialistisch
gesinnten Katholiken Ngô
Ðinh Diêm
als Regierungschef ein. Diêm
ließ 1955 die Republik Süd-Vietnam ausrufen, deren
Präsident er wurde. Seine unterdrückerische Politik führte
1960 zur Gründung der Front National de Libération du
Viet-nam Sud
(FNL) durch den
Vietcong (Abk. für "vietnamesische
Kommunisten").

1963
wurde Diêm
im Rahmen eines Militärputschs entmachtet und umgebracht. 1965 wurde General Nguyên Văn Thiêu Staatschef, 1967
Präsident. 1969 bildete die FNL die Provisorische
Revolutionsregierung von Süd-Vietnam (PRRSV). 1975 besiegten
Truppen der FNL die Regierung von Saigon, so daß die FNL die
Macht übernehmen konnte. Noch im selben Jahr wurde sie von 98
Staaten anerkannt.

1976
wurden Nord- und Süd-Vietnam offiziell vereinigt und in der
Sozialistischen Republik Vietnam (SRV) zusammengefaßt. 1977
erfolgte die Aufnahme Vietnams in die UNO.

9.
Erzählungen

Die
unter dem Titel Satan in the Suburbs gesammelten fünf Erzählungen (die erste gab dem Buch den
Titel) hat Russell geschrieben, weil es ihm "Spaß
gemacht hat, sie zu schreiben
"
(Vorwort, S. 5). Seine Hoffnung, daß auch die Lektüre Spaß
macht, ist zumindest bei mir in Erfüllung gegangen.

"Satan
in den Vorstädten" handelt von einem bösartigen Arzt.
In "Die korsische Probe der Miss X" geht es um einen
Geheimbund auf Korsika. "Das Infra-Rotioskop" handelt von
einer Verschwörung von
Naturwissenschaftlern und einer Invasion von Marsianern. Eine
Professoren-Intrige ist Thema von "Die Hüter des Parnass".
"Das Vorrecht der Geistlichen" ist eine Art Remake von
Shakespeares "Der Widerspenstigen Zähmung".

© Gunthard Rudolf Heller, 2012

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