Stefan Zweig als Philosoph, Biograph und Dichter

Über sein Philosophiestudium schrieb Stefan Zweig (1881-1942) in seinen Memoiren „Die Welt von gestern“, er habe dem „ganzen scholastischen Stoff“ nur ein einziges Jahr gewidmet (S. 87), um ansonsten „Emersons Axiom“ zu befolgen, „dass gute Bücher die beste Universität ersetzen“.

Er habe das Fach „nicht aus einem Gefühl innerer Berufung“ gewählt, denn seine „Fähigkeiten zu rein abstraktem Denken“ seien „gering“ gewesen (S. 69):

„Gedanken entwickeln sich bei mir ausnahmslos an Gegenständen, Geschehnissen und Gestalten, alles rein Theoretische und Metaphysische bleibt mir unerlernbar. Immerhin war hier das rein stoffliche Gebiet am eingeschränktesten, der Besuch von Vorlesungen oder Seminaren in der ‚exakten‘ Philosophie am leichtesten zu umgehen. Alles, was nottat, war, am Ende des achten Semesters eine Dissertation einzureichen und einige Prüfungen zu machen. So legte ich mir von vornherein eine Zeiteinteilung zurecht: drei Jahre um das Universitätsstudium mich überhaupt nicht bekümmern! Dann in dem einen letzten Jahr in scharfer Anstrengung den scholastischen Stoff bewältigen und irgendeine Dissertation rasch fertigmachen! Dann hatte die Universität mir gegeben, was einzig ich von ihr wollte: ein paar Jahre voller Freiheit für mein Leben und für die Bemühung in der Kunst: universitas vitae“ (S. 69).

Zweig war der Auffassung, „dass jede Wissenschaft, auch die militärische, wenn großzügig erfasst, notwendigerweise über das enge Fachgebiet hinausreichen und sich mit allen andern Wissenschaften berühren muss“ (S. 124). Seine Lebensidee war die „Internationale der Kunst“ (Briefe 96), die Herausgabe einer internationalen Klassikerbibliothek, die er im Insel-Verlag verwirklichte.

1. Freitod

Stefan ZweigWie ein roter Faden zieht sich das Thema durch Zweigs Werk. In dem Sammelband „Europäisches Erbe“ erwähnt Zweig Otto Weininger (1880-1903), Ernst Toller (1893-1939) und Joseph Roth (1894-1939) in diesem Zusammenhang. Dabei machte es für ihn keinen prinzipiellen Unterschied, ob einer sich wie Weininger erschießt oder sich wie Roth zu Tode trinkt.

Sogar bei Walther Rathenau (1867-1922), der von zwei rechtsradikalen Antisemiten ermordet wurde, stellte Zweig fest, er habe bei Antritt seines Ministeramts gewußt, auf was er sich einließ: „die Mörder Erzbergers waren von ihren Münchner Gesellen gut geschützt und jeder Nachfolger dadurch stillschweigend ermuntert worden; er wußte, daß ihm, dem Juden, eine politische Leistung, und auch die größte, nicht im gegenwärtigen Deutschland zuerkannt, wohl aber jede scheinbare Nachgiebigkeit zum Verbrechen gestempelt würde; er kannte genau den hysterischen Gegenwillen Frankreichs und die verlogene Verhetztheit der alldeutschen Kreise, die sich gegenseitig Waffen in die Hände spielten, er wußte alles und wußte auch wohl das Ende – nicht als Emphatiker des Gefühls wie die andern, sondern als tragisch Wissender ist er an den Platz getreten, den ihm sein Schicksal wies“ (S. 190).

Nachdem Zweigs Haus in Salzburg am 18. Februar 1934 nach Waffen durchsucht worden war, obwohl der unpolitische Autor keiner Partei angehörte, verließ er Österreich, in dem ein Bürgerkrieg zwischen der rechtsradikalen Heimwehr und dem sozialdemokratisch eingestellten Republikanischen Schutzbund tobte, endgültig. „Der Versuch konservativer und antisemitischer Kreise, Zweig anzuhängen, daß er den Schutzbund durch ein Waffenversteck in seinem Haus unterstützthätte, hatte vor diesem Hintergrund seine Wirkung nicht verfehlt“ (Matuschek 271).

Am 18. Mai 1940 schrieb Zweig an Max Herrmann-Neiße über die Entstehung von „Die Welt von gestern“: „Aus Verzweiflung schreibe ich die Geschichte meines Lebens. Ich kann nicht concentriert arbeiten. So will ich wenigstens ein Document hinterlassen, was wir geglaubt, wofür wir gelebt haben; ein Zeugnis ist heute vielleicht wichtiger als ein Kunstwerk“ (Briefe 312).

(Bei den folgenden Briefstellen handelt es sich um Übersetzungen aus dem Englischen.)

Am 30. Januar 1942 schüttete Zweig sein Herz Berthold Viertel aus: „Was uns fehlt, sind Bücher, Freunde unseres geistigen Kalibers, ein Konzert und der Kontakt mit den Ereignissen der Literatur“ (Briefe 346).

Am 4. Februar 1942 schrieb Zweig an seine erste Frau Friderike: „Ich bin deprimiert von der Aussicht, daß die wirkliche Entscheidung und der endgültige Sieg in diesem Jahre nicht mehr kommen werden und daß der größte Teil unserer besten Jahre für unsere Generation in diesen beiden Welt-Erschütterungen dahinging. Nach diesem Krieg wird alles verändert sein, der in einem Monat mehr verbraucht als ganze Nationen früher in Jahren verdienten, und ich fürchte, unsere alten Tage werden nicht ohne Sorgen und Schwierigkeiten sein – es gibt in dieser Zeit nicht mehr Sicherheit als zu Zeiten der Reformation oder des Untergangs von Rom. […] Was uns aber fehlt ist gutes Gespräch mit Menschen unseres Niveaus“ (Briefe 347f).

Am 18. Februar 1942 meinte er resigniert zu Friderike: „Es wird keine Rückkehr zu den Dingen von ehedem geben, und was uns erwartet, wird uns niemals mehr bieten können als jene früheren Zeiten. Ich arbeite weiter, aber nur mit einem Viertel meiner Kraft; es ist eher ein Weitermachen aus alter Gewohnheit als wirkliches Schaffen. Man muß überzeugt sein, wenn man überzeugen will, Begeisterung haben, um andere zu begeistern, und wie soll ich sie jetzt finden! Alle meine besten Gedanken sind bei Dir und ich hoffe, die Kinder finden eine gute Arbeitsmöglichkeit und kommen vorwärts. Sie werden noch die bessere Welt sehen nach dieser jetzigen“ (Briefe 350).

Zweig und seine zweite Frau Lotte vergifteten sich im Exil in Petropolis (Brasilien). Er fühlte sich altersmüde und glaubte, er könne auch nach einem Sieg der Alliierten über Hitler kein neues Leben mehr anfangen. Nachdem die Japaner Singapur erobert hatten, ordnete er seine persönlichen Angelegenheiten. Am 23. Februar 1942 fand das Dienstmädchen die beiden Toten angekleidet auf dem Bett. „Er lag auf dem Rücken, den Mund leicht geöffnet, Lotte hatte sich seitlich über ihn gebeugt und ihn umarmt“ (Matuschek 355).

An Friderike hatte er am Tag davor noch geschrieben, seine Depression sei so schlimm geworden, daß er an Konzentrationsstörungen leide. Er könne die kommenden Kriegsjahre nicht mehr ertragen, er vermisse Bücher, fühle sich einsam und müde. „Ich schicke Dir diese Zeilen in den letzten Stunden, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie froh ich mich fühle, seit ich diesen Entschluß gefaßt habe. Gib den Kindern meine lieben Grüße und beklage mich nicht […]. Alles Liebe und Freundschaftliche und sei guten Mutes, weiß Du doch daß ich ruhig und glücklich bin“ (Briefe 351).

Zweigs offizielle Abschiedserklärung (Declaração) vom selben Tag wurde in vielen großen Tageszeitungen abgedruckt:

„Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und [Streichung] meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.

Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die [Streichung] langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.

Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus“ (zit. n. WIKISOURCE).

Die überzeugendste Erklärung für Zweigs Freitod hat Carl Zuckmayer überliefert. An seinem 50. Geburtstag sagte Zweig zu ihm, er denke, es sei „‚genug'“, 60 Jahre alt zu werden. Zuckmayer erwiderte: „‚Unsereiner muß neunzig oder hundert werden'“, „‚damit wir noch einmal anständige Zeiten erleben.'“ Darauf Zweig: „‚Die kommen nicht mehr […] – […] nicht mehr für uns. Die Welt, die wir geliebt haben, ist unwiederbringlich dahin. Und zu dem, was später kommt, können wir nichts mehr beitragen. Unser Wort wird nicht mehr verstanden werden – in keiner Sprache. Wir werden Heimatlose sein – in allen Ländern. Wir haben keine Gegenwart und keine Zukunft. Das Vergangene können wir nicht zurückholen, und das Neue wird über uns weggehen. Was hat es für einen Sinn, daß man als sein eigener Schatten weiterlebt? Wir sind doch nur Gespenster – oder Erinnerungen'“ (zit. n. Arens 133).

2. Über Pädagogik

Zweigs Schulkritik in „Die Welt von gestern“ ist bemerkenswert: „Fünf Jahre Volksschule und acht Jahre Gymnasium mussten auf hölzerner Bank durchgesessen werden […]. Es war mehr als zuviel und ließ für die körperliche Entwicklung, für Sport und Spaziergänge fast keinen Raum und vor allem nicht für Frohsinn und Vergnügen. […] Denn meine ganze Schulzeit war […] nichts als ein ständiger gelangweilter Überdruss […]. Schule war für uns Zwang, Öde, Langeweile […]. Es war ein stumpfes, ödes Lernen nicht um des Lebens willen, sondern um des Lernens willen, das uns die alte Pädagogik aufzwang“ (S. 28).

Also Containerpädagogik statt Hilfe bei der Selbstverwirklichung: „Wir hatten unser Pensum zu lernen und wurden geprüft, was wir gelernt hatten; kein Lehrer fragte ein einziges Mal in acht Jahren, was wir persönlich zu lernen begehrten, und just jener fördernde Aufschwung, nach dem jeder junge Mensch sich doch heimlich sehnt, blieb vollkommen aus“ (S. 29).

Nach der Hälfte der Gymnasialzeit fand die Bildung vornehmlich „außerhalb der Schule“ statt. Die Jungen begeisterten sich „für Theater, Literatur und Kunst“ (S. 33). Sie ließen die Lehrer reden und „lasen […] unter der Bank Nietzsche und Strindberg“. Sie besuchten Anatomiehörsäle, „um Sektionen zuzusehen. […] Wir schlichen uns in die Proben der Philharmoniker, wir stöberten bei den Antiquaren, wir revidierten täglich die Auslagen der Buchhändler, um sofort zu wissen, was seit gestern neu erschienen war. Und vor allem, wir lasen, wir lasen alles, was uns zu Händen kam“ (S. 34).

Das Kaffeehaus wurde zum Schulersatz. Hier konnten die Jungen Zeitung lesen, über „Bücher, Bilder, Musik, Philosophie […] diskutieren“ (S. 35) und sich dadurch „kritische Unterscheidungsfähigkeit“ aneignen (S. 36). Die zusätzliche Lektüre erfolgte „gutenteils zum Schaden unseres Schlafs und damit unserer körperlichen Frische […]. So kann ich mich nicht erinnern, je anders als unausgeschlafen und höchst mangelhaft gewaschen in letzter Minute zur Schule gejagt zu sein, das Butterbrot im Laufen verzehrend; kein Wunder, dass wir bei all unserer Intellektualität alle hager und grün aussahen wie unreifes Obst, überdies in der Kleidung ziemlich verwahrlost. Denn jeder Heller unseres Taschengeldes ging auf für Theater, Konzerte oder Bücher“ (S. 45).

Wie Zweig über Professoren dachte, zeigt seine Bemerkung über die unerfüllte Forderung, Maxim Gorki den Nobelpreis zu verleihen: „wo Professoren entscheiden, ist die Wahrheit unter dem Tisch“ (Briefe 221). Bei Gorki hob Zweig besonders dessen Wahrhaftigkeit hervor: „Sie übertreiben nicht, und Sie unterdrücken nicht. Sie sehen alles und sehen alles klar und wahr“ (Briefe 187). „Durch Sie ist die russische Welt uns dokumentarisch geworden, der russische Mensch nicht nur in seiner weiten Seele, sondern auch in seinem täglichen Dasein, in seiner sinnlichen Irdischkeit uns nah und erschließbar. […] Wenn wir heute viel von dem russischen Volke wissen, wenn wir es lieben und seiner Seelenkraft vertrauen, so danken wir zum großen und größten Teile dies Ihnen, Maxim Gorki“ (Briefe 188).

In seinem Essay „Das Buch als Eingang zur Welt“ weist Zweig darauf hin, wie sehr unsere Geistigkeit, „unsere innere Existenz“ durch Bücher bestimmt ist, aus denen wir nicht nur Informationen ziehen, sondern auch eine Kraft, die unsere Seele bewegt (III 6).

3. Über Kunst

In „Das Geheimnis künstlerischen Schaffens“ spürt Zweig der „Konzeption eines Kunstwerks“ (III 446) nach. Da die Künstler sich selbst kaum darüber äußern, bleibt nur die Feststellung übrig, daß es sich um einen individuellen Prozeß handelt. Die einen schreiben oder komponieren wie unter Diktat, die andern quälen sich von einer Idee oder einem musikalischen Motiv ausgehend durch Skizzen und verschiedene Fassungen bis zur endgültigen Gestalt einer Dichtung oder Komposition. Die einen arbeiten täglich, die andern unregelmäßig.

Zweig legt Wert auf die Feststellung, daß man einen Menschen „nur in seiner Arbeit“ erkennt: „Es genügt nicht, daß wir mit ihm bei Tisch gesessen und geplaudert haben, daß wir zusammen spazierengefahren sind oder gemeinsam eine Reise machten. Das wirkliche Wesen gibt jeder Mensch nur in dem, was er schafft. Nur dort ist sein wahres Maß – nur dort, wo sein letztes Geheimnis ist, kennen wir einen Menschen, kennen wir ein Kunstwerk“ (III 460).

4. Über Geschichte

In „Ist die Geschichte gerecht?“ geht Zweig aus von Mt 13,12 und wendet es auf die Geschichtsschreibung an: die Sieger werden vergrößert, die Besiegten verkleinert oder verschwiegen. Man erinnert sich an den Kapitän oder König, doch die Namen der Matrosen oder Untertanen sind vergessen. Was der kleine Mann getan hat, wird dem großen zugerechnet. Deshalb soll man Geschichtsschreibung kritisch rezipieren.

„Nichts gefährlicher als die Pietät vor der einmal erkannten Größe, nichts verhängnisvoller als die Kniebeuge vor der offziell geheiligten Macht! […]

Unsere Pflicht ist darum immer, nicht die Macht an sich zu bewundern, sondern nur jene seltenen Menschen, die sie redlich und gerechterweise gewonnen. Redlich und gerecht gewinnt sie eigentlich nur immer der geistige Mensch, der Wissenschaftler, der Musiker, der Dichter, denn was er gibt, das ist niemand genommen“ (I 552f). Dagegen entbehre politische und militärische Gewalt meistens der Moral.

Den Vortrag „Geschichtsschreibung von morgen“ hielt Zweig mehrfach im Januar und Februar 1939 in den USA. Er träumt von einer humaneren Erziehung der Jugend auf der Basis einer anderen Geschichtsauffassung, einer „Geschichte, die zeigt, wie die Menschheit geworden ist“ (III 466).

Den Geschichtsunterricht „aus dem Gesichtswinkel nationalen Interesses“ will Zweig durch eine objektive Geschichtsbetrachtung ersetzen, die die ganze Menschheit einbezieht, die Folge von „Schlachten und Kriegen“ durch Kulturgeschichte ergänzen (III 467f). Der Geschichtsunterricht soll nicht durch die Sinnlosigkeit von Gemetzeln deprimieren, sondern erheben und humanisieren. Er soll nicht zum Krieg, sondern zum Frieden erziehen.

Wenn schon Tiere nicht nur gegeneinander kämpfen, sondern auch einander helfen, um wieviel mehr dann die Menschen, „die wir erziehbar sind und in deren Seelen doch der geheimnisvolle Gott durch das Gewissen spricht, uns immer weiter vom Tierischen und seinen schlechten Instinkten wegzusteigern“ (III 475)!

Anstatt den Schülern nur beizubringen, wie sich ein Land gegenüber dem andern schuldig gemacht hat, sollen sie auch erfahren, was ein Land dem andern verdankt. Sie sollen begreifen, „daß beinahe alles, was wir erfunden, erdacht, entdeckt, gedichtet, geglaubt haben, eine Kollektivleistung ist“ (III 476). Es soll ihnen bewußt werden, „daß die Menschheit eine Aufgabe hat“ und daß jedem von ihnen „in seinem kleinen Dasein ein Wort, eine Geste in diesem Drama zugeteilt ist“ (III 478).

Nur wer sein eigenes Leben „als sinnvoll empfindet“, kann „auch das Gewesene […] als sinnvoll empfinden“, indem er ihm „den Sinn einer Entwicklung zu einer immer höheren Stufe unserer Humanität“ gibt (III 479).

5. Gesellschaftskritik

In seinem Essay „Die Monotonisierung der Welt“ (1925) wehrt sich Zweig gegen die Amerikanisierung Europas. Tanz, Mode, Kino, Radio u.a. dienen der Unterdrückung der Individualität. Statt ihrer wird ein Typus geschaffen, der mit Massennahrung nach dem Motto „Vergnügen […] ohne Anstrengung“ (II 10) gefüttert wird und eine fahrige, nervöse, aggressive Langeweile an den Tag legt.

Was tun? Zweig macht sich keine Illusionen, mit Papier „gegen einen Orkan“ anzukommen (II 10). Was nützt das Schreiben von Büchern, wenn sie nicht mehr gelesen werden, weil das Lesen anstrengend ist und Bildung erfordert? So bleibt ihm nur übrig, die Geistesverwirrung seiner Zeitgenossen zu dokumentieren und sich in sich selbst zurückzuziehen. „Des geistigen Menschen höchste Leistung ist immer Freiheit, Freiheit von den Menschen, von den Meinungen, von den Dingen, Freiheit zu sich selbst“ (II 12).

6. Über Judentum und Zionismus

Jude zu sein, war für Zweig eine Selbstverständlichkeit, von der er kein Aufhebens machte: „Alles was an Stolz in den jüdischen Bekenntnissen ist, die ich so oft lese, scheint mir eine aufgetane Unsicherheit, eine umgewendete Angst, ein gedrehtes Minderwertigkeitsgefühl, was uns fehlt, ist SicherheitUnbesorgtheit – ich fühle sie auch als Jude in mir immer stärker. Es belastet das Judesein mich nicht, es begeistert mich nicht, es quält mich nicht und sondert mich nicht, ich fühle es ebenso wie ich meinen Herzschlag fühle, wenn ich daran denke, und ihn nicht fühle, wenn ich nicht daran denke“ (Briefe 65f).

Zweigs Verhältnis zum Alten Testament zeigt folgende Passage aus dem Sammelband „Europäisches Erbe“: „Martin Buber hat in seinen so bedeutsamen Reden über das Judentum die schöne Formel gefunden, daß es ein ständiger Dualismus mit steter Sehnsucht nach Einheit sei. Diese Dualität zwischen der geistigen und sinnlichen Sphäre ist nun für den Künstler die Wahl zwischen der Vision und der Analyse bei jeder innern Weltgestaltung. Schon das Alte Testament, die höchste Probe der jüdischen Kunst, birgt die Urform dieses Zwiespalts in sich, die orientalisch üppige Bilderpracht und die mathematisch reine Formulierung der Idee, den Trieb zum geistigen Gesetz, der in unendlichen Zwischenstufen aufsteigt bis zu jener unsinnlichen Form Gottes, der vielleicht bedeutendsten logischen Idee der Welt“ (S. 150f).

Den Zionismus lehnte er ab: Er wollte nie, „daß das Judentum wieder Nation wird und damit sich in die Concurrenz der Realitäten erniedrigt.“ Zweig liebte und bejahte die Diaspora „als den Sinn seines Idealismus, als seine weltbürgerliche allmenschliche Berufung. Und ich wollte keine andere Vereinung als im Geist, in unserem einzigen realen Element, nie in einer Sprache, in einem Volke, in Sitten, Gebräuchen, diesen ebenso schönen als gefährlichen Synthesen. […] Und das Einzige, worin wir uns stärken müssen, wäre, diesen Zustand nicht als eine Erniedrigung, sondern mit Liebe und Bewußtheit zu empfinden, wie ich es tue“ (Briefe 68f).

Von Martin Bubers zionistischen Vorstellungen grenzte sich Zweig scharf ab: „Für mich ist es der Ruhm und die Größe des jüdischen Volkes, das einzige zu sein, das nur eine geistige Heimat, ein ewiges Jerusalem anstrebt, während er [Buber] zur Wiederkehr ins reale Palästina gravitiert. Für mich ist es die Größe des Judentums, übernational zu sein, Ferment und Bindung aller Nationen in seiner eigenen Idee, er wünscht die jüdische Nation, und ich sehe in jedem Nationalismus die Gefahr der Entzweiung, des Stolzes, der Eingrenzung und der Eitelkeit“ (Briefe 71).

Zweig prophezeite einem zukünftigen Israel eine schlechte Zukunft: „Im Wohlergehn, in Erfüllungen war dieses Volk nie ein Wert – nur im Druck findet es seine Kraft, in der Auseinandersprengung seine Einheit. Und im Beisammensein wird es sich selbst auseinandersprengen. […] Palästina wäre ein Schlußpunkt, das Rückkehren des Kreises in sich selbst, das Ende einer Bewegung, die Europa, die die ganze Welt durchschüttert hat. Und es wäre eine tragische Enttäuschung wie jede Wiederholung“ (Briefe 83f).

Überhaupt hielt Zweig „den nationalen Gedanken für eine Gefahr“ (Briefe 104). Die Staaten betrachtete er als „nur zufällige Formen.“ Er machte sich allerdings keine Illusionen: Wenn sich Europa nicht mehr „wegen Sprachenfragen und Grenzen“ zerstört, wird es „wieder einen anderen, einen neuen Wahn haben und für den ebenso töricht sich selbst vernichten“ (Briefe 105).

7. Über Politik

Zweig hat „gelernt, die Politik, die immer überdimensionieren muß, das Wort an das Schlagwort verraten, das Dogma an seine Übertreibung, redlich zu hassen als den Widerpol der Gerechtigkeit“ (Briefe 264).

Den Nationalsozialismus betrachtete er als „Haßpsychose“, die „jede Art von Recht“ und „Freizügigkeit […] in Deutschland“ aufhob (Briefe 227). Erasmus von Rotterdam habe „durch Luther die gleichen Niederlagen erlitten […] wie die humanen Deutschen heute durch Hitler“ (Briefe 228).

Zweig wählte Erasmus als „Nothelfer“ […], den Mann der Mitte und der Vernunft, der ebenso zwischen die Mühlsteine des Protestantismus und Katholizismus geriet, wie wir zwischen die großen Gegenbewegungen von heute. Es war für mich ein kleiner Trost zu sehen, wie schlecht es ihm ging und daß man nicht allein ist, wenn man sich anständigerweise mit schweren Entscheidungen und Entschließungen quält, statt es sich bequem zu machen und mit einem Ruck auf den Rücken einer Partei zu springen“ (Briefe 242).

Seine persönliche Aufgabe sah er am 19.12.1926 darin, „Zeuge in dem ewigen Prozeß zu sein, der vor unsern Augen abläuft: Mit der größten Intensität der Wahrheit und Klarheit sein Wort auszusprechen, ist alles, was uns zu tun bleibt“ (Briefe 174).

„Das Herz Europas“ ist eine Hommage an das Rote Kreuz in Genf. Zweig empfand es während des Ersten Weltkriegs als europäisches Zentrum. Begründung: „In unsichtbarer Brandung strömt hier jeden Tag die Angst, die Sorge, die fragende Not, der schreiende Schrecken von Millionen Völkern heran. In unsichtbarer Ebbe strömt hier tägliche Hoffnung, Trost, Ratschlag und Nachricht zu den Millionen zurück. Draußen, von einem Ende zum anderen unserer Welt, blutet aus unzähligen Wunden der gekreuzigte Leib Europas. Hier aber schlägt noch sein Herz. Denn hier antwortet dem wahrhaft unmenschlichen Leiden der Zeit noch ein ewiges Gefühl: das menschliche Mitleid“ (I 152).

Die Tätigkeit des Roten Kreuzes bestand vor allem in der Identifizierung von Vermißten und in der Benachrichtigung von Angehörigen über den Ort der Gefangennahme bzw. des Todes. Außerdem überwachten die Mitarbeiter des Roten Kreuzes „die Gefangenenlager, ob in jedem einzelnen genügend Nahrung und Freiheit den Internierten gegeben werde“ (I 159). Sie kümmerten sich um die Bitten, Schwerverwundete auszutauschen, um Geldüberweisungen und Pakete.

Die Hauptschwierigkeiten bestanden in Namensgleichheiten, Rechtschreibungsvarianten, Wechsel des Gefangenenlagers, falschen Auskünften bzw. unvollständigen Angaben, der fehlenden Registrierung von Zivilpersonen, der mangelnden Auskunftsfähigkeit aufgefundener vermißter Kinder, dem Wechsel des Aufenthaltsorts ihrer Eltern und der hohen Zahl der Anfragen (viele Millionen). 

Dazu kamen die schlechten Arbeitsbedingungen, die auf der Hoffnung beruhten, der Krieg sei bald zu Ende.In dem Vortrag „Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung“ (1932) setzt Zweig beim „römischen Imperium“ an: „Hier geht zum erstenmal von einer Stadt, einer Sprache, einem Gesetz der entschlossene Wille aus, alle Völker, alle Nationen der damaligen Welt nach einem einzigen, genial durchsonnenen Schema zu beherrschen und zu verwalten“ (III 346f). Nach dem Untergang des römischen Reichs „sinkt die europäische Kultur tief unter den Wasserspiegel der orientalischen und chinesischen“ (III 348).

Die „Idee unserer menschlichen Einheit“ findet nun Ausdruck in der Kirche. Nur das Lateinische, „die Einheitssprache, die Muttersprache aller europäischen Kulturen“ bleibt erhalten (III 348f). Erst „im Zeitalter des Humanismus […] fühlt Europa wieder, daß es an einem Gemeinsamen arbeitet, an einer neuen Zukunftsform abendländischer Zivilisation“ (III 350). Mit der Wiederbelebung der antiken Geistigkeit in der Renaissance entsteht die „erste Form geistigen Europäertums“ (III 351).

Doch „die Reformation zerstört die Renaissance. Mit ihr endet gleichzeitig die Herrschaft der neuerschaffenen lateinischen Sprache, dieser letzten europäischen Einheitssprache. […] Jede Nation will jetzt allein das Imperium der Macht und der Kunst erringen, jede von ihrer eigenen Sprache aus eine Literatur schaffen“ (III 352). In der Musik „sucht das Gemeinschaftsgefühl sich eine neue Form“ (III 353).

Den nächsten Rückschlag bringen die Französische Revolution und die Kriege Napoleons. „Damit wird auch die Kunst und das Denken völlig national“ (III 354). Nun ist es Goethe, der „neben seinem deutschen Standpunkt […] sich noch ein europäisches Bewußtsein“ erschafft „und versucht, […] gleichsam aus der Seele aller Völker zu denken“ (III 355). „Zum erstenmal lebt, denkt, fühlt und erlebt das neunzehnte Jahrhundert in Europa gewisse Zustände einheitlich und identisch“, z.B. den Pessimismus der Dichter oder die Revolution von 1848 (III 356).

Am „Ende des neunzehnten Jahrhunderts aber wird der Gedanke der ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ eine politische und gleichsam überpolitische Forderung“ (III 356), der Friedrich Nietzsche, Emile Verhaeren und Romain Rolland denkerische bzw. dichterische Gestalt geben. „Unendlich viel einzelne andere haben schüchtern und leise diesen Glauben geteilt“ (III 360).

Der Erste Weltkrieg bringt wieder einen Rückschlag. Nun ist es die Technik, die die Menschen zusammenrücken läßt. Flugzeug und Radio überwinden die Entfernungen. Erstmals stehen nun „Nationalismus und Übernationalismus“gleichzeitig gegeneinander, während sie einander davor „wie Ebbe und Flut rhythmisch ablösten“ (III 362f). Ob sich Europa weiter selbst zerstören oder zu einer Einheit zusammenwachsen wird, läßt Zweig zwar offen. Doch er zweifelt nicht daran, daß der Gedanke der europäischen Einheit „richtig und wahr“ ist (III 364).

8. Gedichte

Zweigs Gedichte handeln von Liebe und Erotik, Schlaf, Traum und Tod, Natur und Kunst, Religion, Mythologie und Moral. Er selbst stand ihnen kritisch gegenüber: „Als Lyriker werte ich mich nicht sehr hoch“ (Briefe 6). Über das Verfassen eines Gedichts notierte er in seinem Tagebuch am 11. September 1912, es sei nur halb gelungen, sein Tiefsinn sei banal, es werde durch seinen Rhythmus „‚verdunkelt und verschönt'“ (zit. n. den Nachbemerkungen zu Zweigs Gedichten von Knut Beck, S. 242).

9. Dramen

In Tersites porträtierte Zweig „den leidenden Menschen statt jenes [gemeint ist Achill], der durch seine Kraft und Zielsicherheit den andern Leiden erschafft“ (Welt 114). Ludwig Barnay, der Direktor des Königlichen Schauspielhauses Berlin, war an dem Stück interessiert und wollte den Achill mit Adalbert Matkowsky besetzen. Doch Matkowsky starb, bevor es zur Aufführung kam.

Den Einakter Der verwandelte Komödiant schrieb Zweig für den Schauspieler des Wiener Burgtheaters Joseph Kainz. Dieser war begeistert, der Direktor des Burgtheaters nahm das Stück an, bevor er es auch nur gesehen hatte. Doch Kainz starb nach der Rückkehr von einer Gastspielreise an Krebs, bevor es zu einer Aufführung kam.

Die Tragödie Das Haus am Meer wurde von Alfred Baron Berger, dem neuen Direktor des Burgtheaters, angenommen, doch er starb zwei Wochen vor den ersten Proben. Schon nach dem Tod von Kainz war Zweig „abergläubisch“geworden. Nach Bergers Tod stellte er fest: „Der Fluch war also noch in Kraft, der auf meinen dramatischen Werken zu lasten schien“ (Welt 117).

In Das Lamm des Armen wollte Zweigs Freund Alexander Moissi die Hauptrolle bei der Uraufführung spielen. Zweig „lehnte […] unter einer Ausflucht ab“, weil er an den Tod von Matkowsky und Kainz dachte, ohne Moissi die Wahrheit zu sagen. „Jedenfalls: ich für meine Person wollte nicht ein drittes Mal für den größten deutschen Schauspieler der Zeit Anstoß des Verhängnisses sein“ (Welt 117f).

Doch es nützte nichts: Moissi bat Zweig um die Übersetzung von Pirandellos Non si sà mai, Zweig akzeptierte, die internationale Uraufführung sollte in Wien stattfinden, Moissi erkrankte an einer schweren Grippe, fiel ins Fieberdelirium und starb.

Zweig kommentierte: „Selbstverständlich sehe ich in dieser Wiederholung nichts als einen Zufall.“ Aber: Ohne die Toten wäre er früher erfolgreich gewesen und „hätte dafür die Jahre des langsamen Lernens und Welterkundens versäumt. Damals habe ich mich verständlicherweise als vom Schicksal verfolgt empfunden […]. Aber nur in ersten Jugendjahren scheint Zufall noch mit Schicksal identisch. Später weiß man, dass die eigentliche Bahn des Lebens von innen bestimmt war; wie kraus und sinnlos unser Weg von unseren Wünschen abzuweichen scheint, immer führt er uns doch schließlich zu unserem unsichtbaren Ziel“ (Welt 119).

In Jeremias wollte Zweig zeigen, „dass derjenige, der als der Schwache, der Ängstliche in der Zeit der Begeisterung verachtet wird, in der Stunde der Niederlage sich meist als der einzige erweist, der sie nicht nur erträgt, sondern sie bemeistert.“ Zweig sagte in dem Stück, was er während des Ersten Weltkriegs „im Gespräch mit den Menschen um mich verschweigen musste. Ich hatte die Last, die mir auf der Seele lag, weggeschleudert und war mir selbst zurückgegeben; in eben der Stunde, da alles in mir ein ‚Nein‘ war gegen die Zeit, hatte ich das ‚Ja‘ zu mir selbst gefunden“ (Welt 165f).

Zweig bezeichnete das Stück (wahrscheinlich Anfang Februar 1918) als sein „aufrichtigstes und wichtigstes Werk, das einzige, das ich in einem höheren Sinn als ein für mich notwendiges empfinde“ (Briefe 83). Als Begründung kann eine frühere Briefstelle vom 3. Mai 1917 dienen: „Denn Alles, was in mir an Widerstand, Verzweiflung wider die Zeit und ihre Wortführer niedergezwungen kämpfte, hat sich in verwandelter Form frei gemacht. Es war mein Ventil, um nicht zu ersticken in einer Welt, die einem das Wort verschloß“ (Briefe 72).

10. Biographische Schriften

Mit seinen Biographien hielt sich Zweig während des Dritten Reichs finanziell über Wasser. Die Biographien über Erasmus von Rotterdam, Magellan, Sebastian Castellio, Maria Stuart, Marie Antoinette, Joseph Fouché, Franz Anton Mesmer, Mary Baker-Eddy und Sigmund Freud sind spannend wie Romane zu lesen. Zweig fühlte sich stets von derjenigen Persönlichkeit angezogen, die „nicht im realen Raume des Erfolgs, sondern einzig im moralischen Sinne recht behält, Erasmus und nicht Luther, Maria Stuart und nicht Elisabeth, Castellio und nicht Calvin“ (Welt 114).

Seine Erasmus-Biographie bezeichnete Zweig als verschleierte „Selbstdarstellung“ (Welt 246). Für seine Biographie über Marie Antoinette hat er „tatsächlich jede einzelne Rechnung nachgeprüft, um ihren persönlichen Verbrauch festzustellen, alle zeitgenössischen Zeitungen und Pamphlete studiert, alle Prozessakten bis auf die letzte Zeile durchgeackert.“ Es war sein „Ehrgeiz, immer mehr zu wissen, als nach außen hin sichtbar wird“ (Welt 207).

Andererseits stand Zweig jeder Form der Geschichtsschreibung kritisch gegenüber: „Geschichte kann man nie genau reproduzieren – wer weiß denn ‚die Wahrheit!‘ – wir müssen sie erfinden“ (Briefe 333). Das bedeutet für seine Biographien: Man kann sie lesen, um Zweigs Sicht auf einen Menschen kennenzulernen, darf sie aber nicht als historische Fachliteratur ansehen.
So kritisierte Hermann Kesten an Zweigs Biographie über Marie Antoinette, daß in ihr „die Französische Revolution, ja die Weltgeschichte als eine Fußnote zu Freuds psychoanalytischen Vorlesungen erscheint“ (zit. n. Arens 90).

Oliver Matuschek faßt die Problematik anhand von Zweigs „Text über Gustav Mahlers Heimkehr“ so zusammen: „Tatsachenbericht und erzählerische Beigaben machten den Stoff für Zweig erst formbar, und oft genug konnte er erst durch diese Mischung die von ihm beabsichtigte Wirkung erzielen. […] Ob und wo genau die Wahrheit in Dichtung übergeht, bleibt ungewiß. Man sollte Zweig keinesfalls die Unwahrheit vorwerfen, doch darf man niemals vergessen, seine symbolgeladenen Berichte mit kritischem Blick zu lesen. Er war immer Erzähler, nicht Historiker, auch wenn er sich der historischen Dokumentation verpflichtet sah“ (S. 174). „Daß seine Phantasie und Fabulierfreude gelegentlich mit ihm durchging, nahm er zugunsten der dramatischen Wirkung seiner Texte billigend in Kauf. Dabei kannte er sehr wohl die Grenzen der Deutungsmöglichkeiten“ (S. 223f).

Der Germanist Alfred Bergmann bescheinigte Zweig sogar „eine gewisse ‚Neigung zum Schwindel'“ (Matuschek 218).Mit seinem Buch über Fouché veröffentlichte Zweig die „Biographie eines Menschen, den ich nicht mag -, um ein Bildnis des reinen Politikers zu geben, der jeder Überzeugung dient, jeden Posten annimmt, in allen Sätteln sitzt und nie eine eigene Idee hat und die gewaltigsten Menschen seiner Zeit eben durch diese Flexibilität überdauert. Es soll ein Hinweis und eine Warnung für die Politiker von heute und allezeit sein und das Gefährliche in bildnerischer Form andeuten, das der ‚brauchbare‘, der geriebene Politiker für alle Nationen und Europa bedeutet“ (Briefe 193).

Gegenüber Hermann Kesten bereute Zweig, das Buch geschrieben zu haben: Man könne nicht erfolgreich sein, wenn man über einen Menschen schreibe, der einem nicht sympathisch sei.Immer wieder wird man überrascht, etwa, wenn Mesmer als integrer Mensch und seriöser Wissenschaftler auf der Suche nach der Lebenskraft, Marie Antoinette als mittelmäßige „Durchschnittsfrau“ (S. 8) dargestellt werden. Maria Stuart wird entromantisiert, Mary Baker-Eddy als „Tyrannin und Despotin bis zum letzten Hauch“ (S. 251) geschildert, mit der es keiner ihrer Mitmenschen aushielt. Sie sei von einem einzigen Gedanken besessen gewesen: Da Gott gut sei, könne es keine Krankheit geben; sie sei nur ein Irrtum.

Zweigs Negativdarstellung der Begründerin der Christian Science basiert auf seiner Quellenbewertung: Die Biographie von Sibyl Wilbur hält er für „Schönfärberei“ (S. 130), er übernimmt Mark Twains Kritik an Baker-Eddys angeblicher Geldmacherei und Expansionsstreben und gibt aus der Biographie von Georgine Milmine vor allem die Schwarzmalerei von Baker-Eddys Zeitgenossen wieder: Milmine mache Baker-Eddy „psychologisch interessant“, Wilbur mache sie „unheilbar lächerlich“ (S. 132).

Dabei will Wilbur einfach nur „die Wahrheit […] berichten“ (S. xiii), was beim Gedächtnisschwund von Augenzeugen und dem Wuchern von Gerüchten auf der Basis von Neid und Abtrünnigkeit gar nicht leicht ist. Daß Gerede ausEifersucht sogar in die Tageszeitungen Eingang fand, ist kein Wahrheitsbeweis. Es ist mir unbegreiflich, wie Zweig von Wilburs Redlichkeit und Baker-Eddys Leid unberührt bleiben konnte, so daß er sie zu einem monströsen Popanz aufbaute.

Bei Mark Twain fielen mir vor allem die fruchtlosen Stilanalysen auf. War er nicht in der Lage, Inspiration und ihr Fehlen, Überarbeitung und das Belassen eines ursprünglichen Texts zu unterscheiden, so daß er auf die Idee kam, Science and Health habe jemand anders als Baker-Eddy geschrieben? Seine falschen und widersprüchlichen Prophezeiungen kann man ihm nachsehen, seine Auffassung, Angehörige religiöser Vereinigungen seien „jeder auf seine eigene Art“ (each in his own way) „wahnsinnig“ (insane) oder „verrückt“ (mad), ist total überzogen.

Milmines Biographie ist ausgewogen. Sie läßt alle zu Wort kommen: Baker-Eddy und ihre Mitmenschen. Warum übernimmt Zweig ausgerechnet die von Unverständnis zeugenden Aussagen anderer? Steckt dahinter allgemein ein gebrochenes Verhältnis zur Frau und zum Christentum? Er liefert immerhin drei Negativbiographien über drei Marien (Maria Stuart, Marie Antoinette, Mary Baker-Eddy)!

Da Freud noch lebte, als Zweig seine Biographie über ihn veröffentlichte, konnte er sie geringfügig korrigieren: Er sei „doch etwas komplizierter“ als ein korrekter Kleinbürger (S. 393). Zweig habe die freie Assoziation kaum angedeutet und die Ätiologie der Traumdeutung falsch dargestellt. Außerdem kritisierte Freud Zweigs Zweifel, daß auch andere gute Psychoanalytiker werden könnten.

Am schönsten sind die „Sternstunden der Menschheit“ zu lesen, weil Zweig hier nur besondere Augenblicke im Leben von zwölf historischen Persönlichkeiten festhält: Vasco Nuñez de Balboa durchquert Panama und sieht den Pazifik. Sultan Muhammad II. erobert Byzanz. Händel komponiert den „Messias“. Rouget komponiert die „Marseillaise“. Napoleon verliert die Schlacht von Waterloo. Goethe dichtet die „Marienbader Elegie“. Der Kriminelle J.A. Suter wird zum reichsten Menschen auf der Erde und verliert alles wieder. Dostojewskis Hinrichtung wird im letzten Augenblick ausgesetzt. Cyrus W. Field verlegt das erste Telegraphiekabel über den Atlantik. Tolstoi flüchtet vor seiner Frau. Scott unternimmt eine Expedition an den Südpol mit tödlichem Ausgang. Lenin reist während des Ersten Weltkriegs von Zürich nach Petersburg.

Die Kapitel über Balzac, Dickens und Dostojewski in „Baumeister der Welt“ sind keine reinen Biographien, sondern eher Würdigungen. Balzac verlor sich in seinem Werk: „Mit jedem neuen Buch schrumpfte […] sein Leben zusammen“ (S. 26). „Mit ihm beginnt […] der Gedanke des Romans als Enzyklopädie der inneren Welt“ (S. 32).

Dickens „wollte mit seinen Romanen allen armen, verlassenen, vergessenen Kindern helfen, die so wie er einst Ungerechtigkeit erlitten durch schlechte Lehrer, vernachlässigte Schulen, gleichgültige Eltern, durch die lässige, lieblose, selbstsüchtige Art der meisten Menschen“ (S. 46f). „Er hat als erster den Alltag ins Dichterische umgebogen“ (S. 48). „Helfen wollte er den Armen und den Kindern“ (S. 49). „Seine Dichtung ist eminent demokratisch – nicht sozialistisch“ (S. 50). „Wie die englischen Philosophen beginnt er nicht mit Voraussetzungen, sondern mit Merkmalen“ (S. 54).

Seine Wirkung ging „weit über das Literarische hinaus […]. Reiche Leute besannen sich und machten Stiftungen […]; Hartherzige wurden gerührt; die Kinder bekamen […] mehr Almosen auf den Straßen; die Regierung verbesserte die Armenhäuser und kontrollierte die Privatschulen“ (S. 62).

Bei Dostojewski arbeitete Zweig das Typische seiner Romanhelden heraus: „Alle leben sie Varianten eines einzigen Erlebnisses: der Menschwerdung“ (S. 104). Eine unbestimmte Kraft in ihnen wird zur Idee, die sie zu Ende denken, bevor sie sie loswerden wollen. „Ihre Selbstzerstörung zerstört nur die Schale um den inneren Menschen und ist Selbstrettung im höchsten Sinn.“ Sie „vernichten ihr soziales Ich, den dunklen Raupenstand ihres inneren Wesens, um wie Schmetterlinge sich der abgestorbenen Form zu entschwingen“ (S. 106); „alle lieben sie das Leiden, weil sie darin das Leben; das geliebte, so stark spüren […]. Es ist ihr stärkster Existenzbeweis: […] ‚ich leide, also bin ich'“ (S. 102).

Hölderlin stellte Zweig als Dichter dar, der seiner Berufung so kompromißlos folgte, daß er sich selbst zerstörte. Tolstoi galt Zweig als „so ziemlich der komplizierteste Fall der ganzen Literatur“ (Briefe 179).

Der Sammelband „Europäisches Erbe“ enthält abgesehen von Zweigs letzter Arbeit über Montaigne lauter kurze Essays, auch über wenig bekannte Persönlichkeiten. Am schönsten ist der Essay über 1001 Nacht.

„Mich lockte sehr, über Montaigne zu schreiben, den ich jetzt viel und mit großem Genuß lese, ein anderer (besserer) Erasmus, ganz ein tröstlicher Geist“ (Briefe 334), „ein Meister und Lehrer der Resignation und des Rückzugs auf sich selbst“ (Briefe 336), „‚homme libre'“, „Vorkämpfer für die innere Freiheit in einer Zeit wie der unseren [1942], der an der gleichen Verzweiflung leidet, weil er gerecht und weise bleiben will durch seinen fanatischen Freiheitssinn (unter Beiseitelassen und Verachtung für allen zeitigen äußeren Erfolg“ (Briefe 345).

11. Reiseberichte

Zu seiner „Reise nach Rußland“ im Jahr 1928 wurde Zweig von der Regierung der Sowjetunion eingeladen. Anlaß war die Feier des hundertsten Geburtstags von Leo Tolstoi (1828-1910) mit „Eröffnung des Tolstoi-Museums und des Tolstoi-Hauses“ (II 606) sowie der Enthüllung eines Denkmals. Er beschränkte sich darauf, seine Eindrücke wiederzugeben. Da war zunächst die Geduld der Russen, verbunden mit einer „unbeschränkten Leidensfähigkeit“ (II 584f): Sie konnten warten, kleine Wohnungen ertragen und ohne Luxuswaren auskommen.

Moskau war voller Kirchen. Die Photos von Lenin waren allgegenwärtig. Lenins Grabmal war überlaufen wie ein Wallfahrtsort: „Führerverehrung statt des Heiligendienstes“ (II 591). Die Regierung „hat sehr richtig gefühlt, daß, gerade weil die marxistische Lehre eine in sich sachliche, unmystische, eine logische und durchaus amusische ist, man sie rechtzeitig in Mythos verwandeln und mit aller Inbrunst des Religiösen erfüllen müsse“ (II 593).

Moskaus Museen erschienen Zweig als die „einzigen großen Revolutionsprofiteure“ (II 593). Ihre Zahl habe sich vervier- bis verzehnfacht: „nirgends so sinnlich, so glücklich wie in der Kunst drückt sich der marxistische Gedanke aus, daß alles allen gehören solle“ (II 595).

Am meisten war Zweig vom „Heroismus der russischen Intellektuellen“ beeindruckt (II 596), die in Rußland ausharrten, obwohl sie nicht anerkannt wurden. Sie harren aus, „weil sie es für ehrlos halten, ihren Posten zu verlassen um besserer Verdienstmöglichkeiten in Europa willen, und dies nur aus dem stolzen Gefühl sittlicher Verpflichtung, aus dem Bewußtsein, daß nichts heute Rußland […] so notwendig ist wie gute Universitäten, gute Schulen und Museen, eine vollendete und volksmäßige Kunst“ (II 598f).

„Als entscheidender Eindruck bleibt: wir haben alle unbewußt oder bewußt an Rußland ein Unrecht getan und tun es noch heute. Ein Unrecht durch Nichtgenugwissen, Nichtgenuggerechtsein“ (II 615). Es werde zu wenig nach Rußland gereist, die Vielfalt seiner Leistungen werde ignoriert, statt einer gerechten Beurteilung würden Vorurteile gepflegt und fremde Meinungen nachgeplappert.

Die „Kleine Reise nach Brasilien“ (1936) unternahm Zweig im Anschluß an seine Teilnahme am Pen-Kongreß in Buenos Aires (Argentinien). Sie war für ihn „geradezu eine Seelenkur. Denn ein Gemeinschaftsgefühl von Vertrauen […] hebt immer die eigene Seele mit“ (III 401).

12. Novellen

„In meinen Novellen ist es immer der dem Schicksal Unterliegende, der mich anzieht“, schrieb Zweig in „Die Welt von gestern“ (S. 114). Das Wesen der Dichtung beschrieb er allgemein von Freuds „Traumdeutung“ her: „Alle Psychologie lehrt uns, daß Träume gehemmte Wünsche sind, aus der Phantasie vorgetriebene Steigerungen über die Wirklichkeit hinaus: und was wäre Dichten denn wacher Traumakt des Künstlers? Wir steigern uns seelisch und moralisch in Werke über die eigene Unzulänglichkeit empor, wir erfinden Intensitäten des Schicksals, die uns von der Realität nichts gegeben haben: Dichten bedeutet für mich Intensificieren, sei es der Welt, sei es des Ich“ (Briefe 190).

Die spät bezahlte Schuld handelt von der Schwärmerei eines Backfischs für einen Schauspieler, Peter Sturzentaler. Als Margaret ihn zu Hause aufsucht, demütigt er sie nicht, sondern zeigt viel Takt bei seiner Abweisung. Er schützt sie sogar vor den bösen Zungen der Nachbarn, indem er seine Haushälterin bittet, sie zur Tür zu begleiten.

Viele Jahre später sieht ihn die längst verheiratete Margaret wieder, als sie sich in einem Tiroler Dorf eine Auszeit gönnt. Sie erkennt ihn nicht einmal, doch die Wirtin klärt sie auf. Margaret revanchiert sich für das Taktgefühl von Sturzentaler, indem sie den nunmehrigen Armenhäusler an seinen früheren Ruhm erinnert und ihn vor der Verachtung der Bauren in Schutz nimmt.

Die Sammlung „Menschen“ enthält zehn Novellen:

  • In Verwirrung der Gefühle geht es um einen homosexuellen Professor und die Liebesgeschichte seiner Frau mit einem seiner Studenten.
  • Aus dem Leben einer Frau erzählt 24 Stunden, in denen sie vergeblich versucht, einen Spielsüchtigen vom Selbstmord abzuhalten.
  • Die Magd Leporella bringt zuerst die Hausherrin und dann sich selber um.
  • Die Episode am Genfer See handelt von einem russischen Deserteur, der sich umbringt.
  • Phantastische Nacht gibt die Aufzeichnungen eines Barons wieder, der den Wettschein für ein Pferderennen stiehlt, gewinnt, den Gewinn wieder einsetzt, wieder gewinnt, von einer Prostituierten in eine Falle gelockt und überfallen wird. Er verhandelt geschickt, gibt den Verbrechern hundert Kronen und verschenkt den Rest des Geldes an Bettler.
  • Der Zwang handelt von einem mißachteten Einberufungsbefehl während des Ersten Weltkriegs und dem inneren Kampf des Wehrpflichtigen, der Selbstmordgedanken hat.
  • In Sommernovellette macht ein Mann durch anonyme Briefe ein Mädchen in sich verliebt.
  • In Brennendes Geheimnis verhindert ein Junge den Seitensprung seiner Mutter.
  • In der Schachnovelle besiegt ein Dilettant, der als Häftling der Gestapo Schachpartien nachvollzogen hat, einen Schachweltmeister.
  • Die unsichtbare Sammlung gehört einem Blinden, dessen Angehörige seine Sammelstücke verkaufen und ihn darüber belügen.

Der Sammelband „Novellen der Leidenschaft“ enthält ebenfalls zehn Novellen:

  • Der Amokläufer handelt von einer Frau, die die Ehe gebrochen hat, schwanger wurde und nun wegen der Abtreibung einen Arzt aufsucht. Da er als Bezahlung mit ihr schlafen will, läßt sie die Abtreibung von einer Kurpfuscherin machen und stirbt daran. Der Arzt vertuscht die Todesursache, indem er den Amtsarzt erpreßt, den Sarg im Meer versenkt und sich umbringt.
  • In Die Frau und die Landschaft küßt ein Mann eine Schlafwandlerin.
  • Der Brief einer Unbekannten handelt davon, wie ein Backfisch sich in einen Schriftsteller verliebt, ein Kind von ihm bekommt und Prostituierte wird. Nach dem Tod ihres Kinds schreibt sie ihm alles und stirbt auch.
  • In Die Mondscheingasse geht es um eine Ehekatastrophe.
  • Geschichte in der Dämmerung handelt von der Verführung eines Knaben, der die Verführerin für ihre Schwester hält.
  • Die Gouvernante bringt sich um, weil ihr wegen ihrer Schwangerschaft gekündigt wird.
  • Buchmendel sind Erinnerungen an einen außergewöhnlichen Buchhändler.
  • In Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk beobachtet der Erzähler einen Taschendieb.
  • Angst handelt von einem Ehemann, der seine ehebrecherische Frau dadurch zurückgewinnt, daß er sie von einer Schauspielerin erpressen läßt.
  • In Untergang eines Herzens regt sich ein alter Mann über die Liebschaft seiner Tochter auf, isoliert sich und stirbt.

13. Romane

Ungeduld des Herzens handelt vom Mitleid als Abwehr fremden Leids, von „jener sonderbaren Vergiftung durch Mitgefühl“ (S. 46), die einen jungen Offizier in eine Beziehung mit einem gelähmten Mädchen schlittern läßt. Sie verliebt sich in ihn und er verlobt sich mit ihr für den Fall, daß sie wieder gesund wird, obwohl er mit seinem Herzen nicht dahinter steht. Denn er will nicht in den Ruf eines Erbschleichers kommen, der es nur auf die Millionen und den Gutsbesitz ihres Vaters abgesehen hat. Vor seinen Regimentskameraden streitet er die Verlobung ab.

Die „Ungeduld des Herzens“ wird beiden bescheinigt: Leutnant Toni Hofmiller (S. 293) und Edith von Kekesfalva (S. 378):- Toni, weil er gefühlsmäßig unsicher und unverläßlich ist, weil er sich rasch entschließt und seine Absichten rasch wieder aufgibt, weil seine Stimmungsschwankungen ihn unverantwortlich machen und weil er weder ausdauernd noch standhaft ist.- Edith, weil sie nicht auf eine Nachricht von Toni wartet, als sie von seiner Abkommandierung erfährt, sondern sich eine Viertelstunde zu früh umbringt. Denn da treffen ihr Arzt und ein Telegramm von Toni ein. Hätte sie noch gelebt, hätte sie erfahren, daß Toni zu ihr steht und bei ihr bleibt, egal, ob sie nun geheilt wird oder nicht.

Tatsächlich ging es Toni nur um die eigene Ehre: Er wollte seine Feigheit wiedergutmachen (das tut er dann im Ersten Weltkrieg und bekommt dafür den Maria Theresienorden) und Edith beweisen, daß er nicht sie, sondern nur seine Mitsoldaten betrogen hat. Daß er sich umbrachte, hat sein Vorgesetzter verhindert, den er bei der Vertuschung des drohenden Skandals um Hilfe gebeten hat.

Nach Ediths Tod fühlt er sich schuldig. „Denn ich war überzeugt, durch meine Schwäche, durch mein erst lockendes und dann flüchtendes Mitleid einen Menschen und dazu den einzigen Menschen, der mich leidenschaftlich liebte, ermordet zu haben“ (S. 380). So flieht er vor Ediths Arzt, als dieser zufällig in der Oper neben ihm sitzt. Da er mit seiner blinden Frau zu spät kam, denkt Toni, er habe ihn nicht erkannt. „Aber seit jener Stunde weiß ich neuerdings: keine Schuld ist vergessen, solange noch das Gewissen um sie weiß“ (S. 383).

In Rausch der Verwandlung lernt die Postangestellte Christine Hoflehner das Leben der Reichen kennen, als sie von ihrer Tante in ein Hotel eingeladen wird. Als sie wieder in ihr altes Leben im Dorf zurück muß, erscheint es ihr sinnlos. Ferdinand Farrner, den ihr Schwager aus dem Krieg kennt und mit dem sich Christine anfreundet, arbeitet den Plan zu einem Diebstahl der Postgelder aus, dem sie zustimmt. Wenn etwas schiefgeht, wollen sich beide umbringen.

14. Legenden

In Rahel rechtet mit Gott (vgl. Ijob 13,3) bittet Rahel Gott, Jerusalem nicht zu zerstören, und weist ihn auf ihr leidvolles Leben hin (vgl. Gen 29,1-30,24). Sie habe sich Leas erbarmt und ihr geholfen, Jakob zu betrügen. Jakob habe sich ihrer erbarmt, nachdem er sie blutig geschlagen habe. Auch ihrem Vater Laban habe er verziehen und Lea nicht verstoßen. Sie, Rahel, sei eifersüchtig auf Lea gewesen, Gott sei eifersüchtig auf die andern Götter, sie habe ihren Neid bezwungen, um wieviel mehr müsse da Gott seinen Neid bezwingen. Könne er das nicht, sei er kein Gott.

Als Rahel von Licht umhüllt wird, sehen die Engel, „daß Gott mit all seiner atmenden Liebe Rahel ins Antlitz gesehen. Und sie erkannten, daß Gott die Leugnerin seines Wortes mehr liebte um ihres Glaubens Unmaßes und Ungeduld willen denn die Diener, die frommen seines Worts, um ihrer Hörigkeit“ (S. 21). Die Menschen bemerken einen sanften Wind (vgl. 1 Kön 19,11) und sehen einen Regenbogen als Zeichen von Gottes Gnade (vgl. Gen 9,13).

In Die Augen des ewigen Bruders verzichtet Virata darauf, Feldherr zu sein, weil er in der Schlacht bei Dunkelheit unwissend seinen Bruder getötet hat. Er legt sein Richteramt nieder, als ihm ein Verurteilter vorwirft, seine Strafe sei schlimmer als der Tod, und er habe sie nicht am eignen Leib erlebt. Deshalb will Virata einen Monat lang Gefängnisstrafe und Geißelung erdulden. Danach bittet er den König um die Freilassung aller Gefangenen, die er verurteilt hat: Gott soll sie richten. Er selbst zieht sich zu seiner Familie zurück und verzichtet darauf, Ratgeber des Königs zu werden. Stattdessen schlichtet er Streit, wenn er vor ihn getragen wird. Als seine Söhne einen Sklaven züchtigen, läßt er alle Sklaven frei.

Von nun an sollen seine Söhne die Arbeit selbst tun. Da sie rebellieren, vermacht er ihnen das Haus und baut sich im Wald eine Hütte. Er will leben, ohne sich schuldig zu machen. Andere folgen seinem Beispiel. Als er in ein Dorf kommt, bemerkt er den Haß einer Frau, die verarmt ist und deren Kinder gestorben sind, weil ihr Mann sie verlassen hat, um dem Beispiel Viratas zu folgen. Da verläßt Virata den Wald und wird Hundeaufseher des Königs, den er überlebt. Als er selbst stirbt, ist er vergessen. Viratas Söhne kommen nicht, als sein Leichnam verscharrt wird. Nur die Hunde heulen zwei Tage lang.

„Es ist ein Glaubensbekenntnis in Form einer Legende“, schrieb Zweig in der Woche vor Ostern 1925 an Maxim Gorki, und meinte damit wahrscheinlich „Die Augen des ewigen Bruders“ (Briefe 154).

Der begrabene Leuchter bringt die Geschichte des siebenarmigen Leuchters aus dem Tempel Salomons.

Im Jahr 455 ziehen die Vandalen gegen das unvorbereitete Rom. Das Volk erschlägt Kaiser Maximus, als er fliehen will. Papst Leo öffnet Genserich, dem König der Vandalen, die Tore der Stadt, da dieser nur Beute machen will. Die Juden, bei denen es außer den Heiligtümern aus dem Jerusalemer Tempel nichts zu holen gibt, beten.

Elf jüdische Greise und der siebenjährige Benjamin folgen dem Abtransport des Tempelschatzes. Benjamin will einem Sklaven den siebenarmigen Leuchter entreißen, stürzt aber. Der Leuchter zertrümmert ihm den rechten Arm.

Benjamin erlebt es noch, wie das Heer des byzantinischen Kaisers Justinian die Vandalen in Karthago besiegt und der siebenarmige Leuchter nach Byzanz gebracht wird. Benjamin reist hin, um ihn zurückzuholen. Der jüdische Goldschmied Zacharias, dem der Schatzmeister des Kaisers verpflichtet ist, erlangt für Benjamin eine Audienz bei Justinian. Dieser befiehlt, den Leuchter nach Jerusalem in eine christliche Kirche zu bringen. Dort soll er zum Zeichen der Überlegenheit des Christentums über das Judentum unterhalb des Altars stehen.

Zacharias fertigt ein Abbild des Leuchters. Als er dem Schatzmeister beide vorführt, kann dieser keinen Unterschied finden. Vor die Wahl gestellt, wirft er eine Münze und nimmt den falschen Leuchter für den Kaiser mit. Den echten Leuchter bringt Benjamin nach Joppe (Jaffa) und begräbt ihn in einem Sarg im Hinterland. Danach stirbt er. Der Leuchter befindet sich heute noch dort.

Die Legende der dritten Taube (vgl. Gen 8,12) hat Zweig als erster erzählt. Sie ist unsterblich und darf erst heimkehren, wenn Friede auf der Erde ist.

Die gleich-ungleichen Schwestern sind die eineiigen Zwillingstöchter des Langobarden Herilunt und einer Krämerin der Hauptstadt von Aquitanien. Die eine wird Hetäre, die andere Nonne. Da sie beide genau gleich aussehen, bringen sie die Männer durcheinander: der eine sieht in der Krankenpflegerin Sophia die Liebeskünstlerin der letzten Nacht, der andere in der halbnackten Helena die Unberührbare. Schließlich macht Helena aus Sophia eine Hetäre. Doch als das Alter die Haare grau und das Gesicht runzlig macht, gehen sie beide in ein Frauenkloster. Ihr Vermögen hinterlassen sie der Stadt.

Der Sammelband „Europäisches Erbe“ enthält noch die Legende Der Turm zu Babel aus dem Jahr 1930 (S. 214-219). Zweig erweitert Gen 11,1-9 um einen Brückenschlag zur Gegenwart: Nach und nach finden die Menschen wieder zusammen, tauschen Kultur und Bodenschätze aus, überwinden Sprach- und Ländergrenzen. „So begann er allmählich auf Europas Boden wieder zu erstehen, der Turm zu Babel, das Denkmal der brüderlichen Gemeinschaft, das Monument der menschlichen Solidarität“ (S. 217).

Doch Gott fürchtet zum zweiten Mal um seine Macht und entzweit die Menschen (im Ersten Weltkrieg). „Noch ist die Stunde nicht reif zu gemeinsamer Tätigkeit, noch zu groß die Verwirrung, die Gott in die Seelen sandte, und Jahre werden vielleicht vergehen, ehe die Brüder von einst wieder in friedlichem Wettbewerb gegen die Unendlichkeit schaffen“ (S. 218). Eines Tages, wenn jeder an seinem Platz arbeitet, „wird der Turm wieder aufsteigen, und auf den Höhen werden sich die Nationen wiederfinden“ (S. 219).

© Gunthard Rudolf Heller, 2017

Literaturverzeichnis

ARENS, Hanns (Hg.): Der große Europäer Stefan Zweig, Frankfurt am Main 1981

DIE BIBEL – Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes, Freiburg/Basel/Wien 201976

KINDLERS NEUES LITERATURLEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996

MATUSCHEK, Oliver: Stefan Zweig. Drei Leben – Eine Biographie, Frankfurt am Main 2008

MILMINE, Georgine: The Life of Mary Baker G. Eddy : and the History of Christian Science (1909), reprint Delhi 2017

SCHIERSE, Franz Joseph: Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel, Düsseldorf/Stuttgart 21986

TWAIN, Mark: Christian science, New York/London 1907, Nachdruck o.O. o.J.

WIKISOURCE: https://de.wikisource.org/wiki/Abschiedsbrief_Stefan_Zweigs

WILBUR, Sibyl: Das Leben der Mary Baker Eddy, Übersetzung der autorisierten englischen Ausgabe, Boston (Massachusetts) o.J.

ZWEIG, Stefan: Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers, Berlin 2015 (Welt)

  • Briefe an Freunde, hg. v. Richard Friedenthal, Frankfurt am Main 1984 (Briefe)
  • Europäisches Erbe, Frankfurt am Main 1981
  • Essays – Auswahl 1907-1924, Leipzig 1983 (I)
  • Essays – Auswahl 1925-1928, Leipzig 1985 (II)
  • Essays – Auswahl 1929-1942, Leipzig 1990 (III)
  • Silberne Saiten – Gedichte, Frankfurt am Main 41996
  • Tersites · Jeremias – Zwei Dramen, Frankfurt am Main 1982
  • Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Frankfurt am Main 1980
  • Magellan – Der Mann und seine Tat, Frankfurt am Main 1961
  • Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt, Frankfurt am Main 172016
  • Maria Stuart, Frankfurt am Main 1981
  • Marie Antoinette – Bildnis eines mittleren Charakters, Frankfurt am Main 1983
  • Joseph Fouché – Bildnis eines politischen Menschen, Frankfurt am Main 1995
  • Die Heilung durch den Geist – Mesmer · Mary Baker-Eddy · Freud, Frankfurt am Main 1990
  • Sternstunden der Menschheit – Zwölf historische Miniaturen, Frankfurt am Main 1979
  • Baumeister der Welt – Balzac · Dickens · Dostojewski · Hölderlin · Kleist · Nietzsche · Casanova · Stendhal · Tolstoi, Stuttgart o.J.
  • Die spät bezahlte Schuld, in: Phantastische Nacht – Erzählungen, Frankfurt am Main 1982, S. 39-69
  • Menschen – Novellen, Stuttgart/Zürich/Salzburg o.J.
  • Novellen der Leidenschaft, Stuttgart/Zürich/Salzburg o.J.
  • Ungeduld des Herzens, Stuttgart/Gütersloh/Wien/Zug o.J.
  • Rausch der Verwandlung – Roman aus dem Nachlaß, Frankfurt am Main 1988
  • Legenden, Berlin/Darmstadt/Wien 1959

Gunthard Heller