Liebeserklärung an Spinoza – Einführung in seine Philosophie

Voltaire sagte einmal über Spinoza, daß jeder von ihm spricht, aber keiner ihn kennt. Auch heute noch wird er immer wieder von modernen Philosophen zitiert. In diesem Artikel können Sie sich einen groben Überblick über sein Leben und Werk verschaffen.

„Was Spinoza betrifft, jeder spricht von ihm, aber keiner liest ihn“ (Voltaire, zit. n. de Vries 173).

Bertrand Russell eröffnete das Spinoza-Kapitel seiner „Philosophie
des Abendlandes“ mit folgenden Sätzen: „Spinoza
(1634-1677) ist der vornehmste und liebenswerteste der großen
Philosophen. An Klugheit waren ihm einige andere überlegen,
ethisch aber steht er am höchsten. Die Folge war natürlich,
daß man ihn zu seinen Lebzeiten und noch ein Jahrhundert nach
seinem Tode für einen entsetzlich bösen Menschen hielt. Er
war geborener Jude, wurde aber aus der jüdischen Gemeinschaft
ausgeschlossen. Die Christen verabscheuten ihn ebenfalls; obwohl
seine ganze Philosophie im Zeichen des Gottesgedankens steht,
bezichtigten ihn die Orthodoxen des Atheismus“ (S. 578).

Wer sich, angeregt durch Russells Hochschätzung, an
die Lektüre von Baruch de Spinozas Werken macht, wird enttäuscht
sein. Es erwarten ihn keine Höhenflüge, keine Sensationen.
Die Schriften von Spinoza hinterlassen vielmehr den Eindruck von
Sprödigkeit und Unzugänglichkeit. Die Lektüre ist
nicht nur ausgesprochen trocken und langweilig, sondern sogar überaus
frustrierend. So fragt man sich: Woher rührt Russells
Begeisterung? Warum sollte man sich mit Spinoza abquälen?

Einfürhung in die Philosophie Spinozas

Wer
das Kapitel über Spinoza in Russells „Philosophie
des Abendlandes“ durchliest, erfährt schnell, was hinter
seiner Begeisterung steckt – Russell fand in Spinoza die eigenen
Ideale wieder: Unbestechlichkeit, intellektuelle Redlichkeit, auch
gegenüber der Bibel, durch und durch demokratische Gesinnung,
Befürwortung der Meinungsfreiheit, religiöse Toleranz, die
Übereinstimmung von Leben und Lehre. Und er erfährt auch,
was Russell an Spinoza zu Recht störte: Spinozas Hauptwerk,
seine „Ethik“, strotzt vor einer mathematisch angelegten
„Beweisführung, die zu beherrschen sich tatsächlich
nicht lohnt“ (S. 580f). „Als Ganzes kann man diese
Metaphysik unmöglich anerkennen; sie ist unvereinbar mit
moderner Logik und wissenschaftlicher Methodik“ (S. 586).

Im folgenden gehe
ich ganz kurz Spinozas Werke in der Reihenfolge durch, in der sie
(vermutlich) entstanden sind. Da Spinoza nicht viel geschrieben hat
(außer den Briefen lediglich sechs Schriften), ist es auch für
einen Laien ohne weiteres möglich, alles von ihm zu lesen. Wer
das nicht will, beschränke sich auf den „Theologisch-politischen
Traktat“, mit dem Spinoza zum Begründer der modernen
Bibelkritik wurde – noch vor Hermann Samuel Reimarus (1694-1768),
dessen „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen
Verehrer Gottes“ durch die daraus von Lessing 1774-77
veröffentlichten Fragmente berühmt wurde.

Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück

Der
Inhalt von Spinozas Erstling, entstanden zwischen 1658 und 1660, ist
in folgendem Satz am Ende von Kapitel 4 auf den Punkt gebracht: „Und
darum ist das der vollkommenste Mensch, der mit Gott (der das
allervollkommenste Wesen ist) sich vereinigt und ihn so genießt“ (S. 69).

Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes

Diese Frühschrift
ist unvollendet. Die Entstehungszeit ist umstritten (vielleicht
1661/62). Spinoza bringt nicht nur erkenntnistheoretische
Überlegungen, sondern auch praktische Lebensregeln.

Er unterscheidet vier Arten von Wahrnehmungen und bringt auch gleich passende
Beispiele dazu:

  1. Wahrnehmung (perceptio) aufgrund von Hörensagen oder Zeichen (z.B. unser Geburtstag);
  2. Wahrnehmung aufgrund einer zufälligen, unbestimmten Erfahrung, der nichts widerspricht (z. B. unser Tod);
  3. Wahrnehmung aufgrund einer Schlußfolgerung (z.B. die Einheit von Seele und Körper oder die Größe der Sonne);
  4. Wahrnehmung des Wesens oder der nächsten Ursache eines Dings (z.B. Gegebenheiten in der Mathematik oder die Seele).

Und er gibt drei Lebensregeln (vivendi regulae):

  1. Man soll sich in seinen Äußerungen nach dem Fassungsvermögen der Leute richten.
  2. Man soll sich um seine Gesundheit kümmern.
  3. Man soll sich eine materielle Grundlage in Form von Geld oder Besitz für’s Philosophieren schaffen.

Descartes‘ Prinzipien der Philosophie

Der
vollständige Titel dieser einzigen zu Lebzeiten Spinozas
veröffentlichten Schrift (1663) lautet: „Descartes‘
Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit
dem ‚Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken'“. Die Lektüre
des Werkes ist nur sinnvoll für diejenigen, die Descartes‘
Philosophie kennen, also wenigstens den Discours
de la Méthode
,
die Regulae
ad directionem ingenii
,
die Meditationes
de Prima Philosophia
(am
besten mit den Einwänden der Zeitgenossen und Descartes‘
Erwiderungen) und die Principia
philosophiae
gelesen
haben. Sonst könnte es ihnen ergehen wie Willem van Blyenbergh,
der Spinoza in seinem Brief am 27. März 1665 fragte: „Das
erste wäre, wie ich bei der Lectüre der Principien und
Ihrer metaphysischen Gedanken Ihre und Descartes‘ Meinung
auseinanderkennen kann?“ (Briefwechsel S. 128)

Ethik

Der vollständige
Titel der 1661-1665/1677 entstandenen und 1677 postum anonym
erschienenen Schrift lautet „Ethik nach der geometrischen
Methode dargestellt“. Um was es darin geht, sieht man schon
anhand des Inhaltsverzeichnisses: Spinoza empfiehlt, sich von der
Knechtung der Affekte zu befreien und der Macht des Denkens zu
vertrauen.

Zu was das führt, zeigen zwei Begebenheiten aus Spinozas Leben:

„Er erhielt in seiner Jugend Unterricht von den Rabbinern. Früh
jedoch bekam er schon Händel mit den Rabbinern der Synagoge, zu
der er gehörte; sie wurden erbittert, weil er sich gegen die
talmudistischen Träumereien erklärte. Er blieb beizeiten
aus der Synagoge hinweg. Die Rabbiner fürchteten, sein Beispiel
werde böse Folgen haben; sie boten ihm 1000 Gulden zum
Jahrgehalt, wenn er ihr beiwohnen und ruhig bleiben wollte. Er schlug
es aus. Ihre Verfolgungen gingen späterhin so weit, daß
sie ihn durch Meuchelmord aus dem Wege zu räumen bedacht waren,
und kaum entging er dem auf ihn gezückten Dolche. Er verließ
sodann die jüdische Gemeinde förmlich, ohne jedoch zur
christlichen Kirche überzutreten.“

So Hegel in seinen Philosophiegeschichtsvorlesungen (III 158), deren Lektüre auch
heute noch lohnenswert ist: Nirgends sonst erfährt man so viel
über die Verfolgung von Philosophen.

Ein zweites Beispiel: „Vom Kurfürsten von der Pfalz, Karl Ludwig, der
höchst edel und frei von den Vorurteilen seiner Zeit, wurde er
auch zur Professur nach Heidelberg gerufen, wobei er die Freiheit
haben solle zu lehren und zu schreiben, in dem ‚der Fürst
glaube, daß er sie nicht mißbrauchen werde, die
öffentlich festgesetzte Religion zu beunruhigen‘. Spinoza (in
seinen gedruckten Briefen) lehnte dieses Anerbieten aber mit gutem
Vorbedacht ab, weil er nicht wisse, in welche Grenze jene
philosophische Freiheit eingeschlossen werden müsse, daß
er nicht scheine, die öffentlich festgesetzte Religion zu
verunruhigen. Er blieb in Holland, einem für die allgemeine
Bildung höchst interessanten Lande, das zuerst in Europa das
Beispiel einer allgemeinen Duldung gab und vielen Individuen einen
Zufluchtsort der Denkfreiheit gewährte; so gehässig auch
die dortigen Theologen, z. B. gegen Bekker, Voetius gegen die
Cartesianische Philosophie wüteten, hatte dies doch nicht die
Konsequenz, die es in einem anderen Lande würde gehabt haben“
(III 159f).

Theologisch-politischer Traktat

Das Werk entstand 1665 und wurde 1670 anonym veröffentlicht. Während
er noch daran arbeitete, schrieb Spinoza an Heinrich Oldenburg: „Ich
verfasse eben eine Abhandlung über meine Auffassung von der
Schrift. Dazu bestimmen mich: 1. die Vorurteile der Theologen; diese
Vorurteile hindern ja, wie ich weiß, am meisten die Menschen,
ihren Geist der Philosophie zuzuwenden; darum widme ich mich der
Aufgabe, sie aufzudecken und sie aus dem Sinne der Klügeren zu
entfernen; 2. die Meinung, die das Volk von mir hat, das mich
unaufhörlich des Atheismus beschuldigt: ich sehe mich gezwungen,
diese Meinung womöglich von mir abzuwehren; 3. die Freiheit, zu
philosophieren und zu sagen, was man denkt; diese Freiheit möchte
ich auf alle Weise verteidigen, da sie hier bei dem allzugroßen
Ansehen und der Frechheit der Prediger auf alle mögliche Weise
unterdrückt wird“ (Briefwechsel S. 141f).

Briefwechsel mit Hugo Boxel

Boxel, „Doctor beider Rechte“, schrieb am 14.9.1674 an seinen Freund Spinoza,
um seine „Meinung über Erscheinungen und Gespenster oder Geister
zu erfahren (Briefwechsel S. 211; die im Original gesperrt gedruckten
Wörter habe ich kursiv wiedergegeben).
Der Kampf zwischen den beiden war ungleich: Boxel kannte die
einschlägige Literatur und hatte persönliche Erfahrungen,
Spinoza hatte dem lediglich einige Vorurteile entgegenzusetzen.
Andererseits war er seinem Freund im dogmatischen Argumentieren
überlegen und behielt das letzte Wort, d.h. Boxel reagierte auf
seinen letzten Brief nicht mehr.

Gleich im ersten Antwortbrief etikettierte Spinoza das Thema als „Possen und
Einbildungen“, „Hirngespinste und Einbildungen“, ließ
sich aber gern eines Besseren belehren, falls Boxel ihm eine
überzeugende Spukgeschichte schicke (S. 212). Insgesamt machten
Boxels Argumente auf ihn „mehr den Eindruck von Vermutungen als
von Gründen“ (S. 219). Boxel hielt dagegen: „Wir
nehmen es in der Welt nicht so genau, stellen bis zu einem gewissen
Grade Vermutungen an und nehmen bei unsren Schlüssen in
Ermangelung der Beweise das Wahrscheinliche hin“ (S. 225).
Spinoza warf Boxel schließlich vor, daß er seine
„Gedanken nicht auf die Hauptsache gerichtet und den springenden
Punkt der Frage außer acht gelassen“ habe und „daß
man mit dem Aufwerfen von Schwierigkeiten noch keine Gründe
vorbringt. […] Im Alltagsleben müssen wir dem
Wahrscheinlichsten, in der Speculation aber der Wahrheit folgen“
(S. 228f). Das ist natürlich richtig, doch Spinoza befolgte
seinen eigenen Grundsatz nicht, als er die Menschen, die Geister
gesehen hatten, nicht ernst nahm. Folglich schaffte er es nicht,
Boxel auf seine Seite hinüberzuziehen.

Das Wortgefecht ist interessant, weil es zeigt, wie auch ein durch und
durch aufrichtiger, redlicher Philosoph irren kann, einfach deshalb,
weil ihm bestimmte Informationen und Erfahrungen fehlen. Im folgenden
stelle ich die jeweiligen im Briefwechsel weit auseinanderliegenden
Hauptargumente einander direkt gegenüber.

Boxel führte für die Existenz der Geister die Autorität antiker Autoren
(Plutarch, Sueton, Plinius der Jüngere, Valerius Maximus,
Stoiker, Pythagoreer, Platoniker, Periptetiker, Empedokles, Maximus
Tyrius, Apulejus u.a.) sowie von „modernen Theologen und
Philosophen“ (Johannes Wier, Ludwig Lavater, Geronymo Cardano,
Philipp Melanchthon, Alessandro Alessandri) an. Außerdem berief
er sich auf die Erfahrung eines ihm bekannten Bürgermeisters und
ein eigenes einschlägiges Erlebnis (S. 211, 215f und 226f).
Spinoza wandte dagegen ein, daß Menschen ihre Erlebnisse beim
Erzählen gerne verändern und eine Überprüfung
ausgeschlossen ist, da gerade bei Erfahrungen mit Geistern keine
weiteren Zeugen vorhanden sind (S. 213). Außer Plinius und
Sueton habe er nichts lesen können, doch schon von diesen beiden
habe er genug (S. 217). „Die Autorität des Plato,
Aristoteles und Sokrates gilt bei mir nicht viel. Ich hätte mich
gewundert, wenn Sie Epikur, Demokrit, Lucretius oder einen Atomisten
oder Anhänger des Atomismus angeführt hätten“ (S.
231). Er leugne nicht die Geschichten selbst, sondern die Schlüsse,
die aus ihnen gezogen würden (S. 221). Caesar habe darüber
gelacht (S. 222). Über was? Davor ist von Gespenstern die Rede.
Das monierte Boxel in seinem Antwortbrief auch sofort, weil Sueton es
anders erzählt: Caesar habe nicht über Gespenster gelacht,
sondern darüber, sich nach irgendwelchen Vorzeichen zu richten.
Hätte er sich danach gerichtet, wäre er nicht ermordet
worden (S. 227).

Boxel schrieb, es gehöre „zur Schönheit und Vollkommenheit des Alls, daß
sie existieren“ (S. 214). Spinoza entgegnete, Schönheit sei
lediglich „eine Wirkung in dem Anschauenden“ (S. 219).
Boxel erwiderte: „Was die Schönheit anlangt, so gibt es
Dinge, deren Teile in Hinsicht auf die übrigen proportional und
besser als andere zusammengesetzt sind“ (S. 225).

Boxel meinte über die Geister: „es ist wahrscheinlich, daß der Schöpfer
sie geschaffen hat, weil sie in höherem Maße als die
körperlichen Wesen ihm ähnlich sind“ (S. 214). Spinoza
wandte ein: „Wenn ich von Gespenstern eine so klare Idee hätte
wie vom Dreieck oder vom Kreis, so hätte ich durchaus kein
Bedenken anzunehmen, daß sie von Gott geschaffen seien“
(S. 220f). Boxel: „Ich sage, die Geister sind Gott ähnlich,
weil er auch Geist ist. […] Sagen Sie mir doch, […] was
für eine Idee Sie von Gott haben, und ob diese Idee Ihrem
Verstande so klar ist wie die Idee des Dreiecks. Ich weiß, daß
Sie sie nicht haben“ (S. 226). Spinoza erwiderte: Doch, er habe
sie. Aber er unterschied zwischen Vorstellung und Erkenntnis: Er
könne sich Gott zwar nicht vorstellen, aber ihn erkennen, zwar
nicht ganz, aber „einige seiner Attribute“ (S. 230). Das
paßte zu seiner vorausgehenden Polemik: „wenn ein Dreieck
nur reden könnte, würde es geradeso sprechen, Gott sei
eminent dreieckig, und ein Kreis, die göttliche Natur sei in
eminentem Sinne kreisförmig, und auf diese Weise würde
jeder seine Attribute Gott zuschreiben und Gott sich ähnlich
machen und das übrige würde ihm häßlich
erscheinen“ (S. 229).

Boxel behauptete: „so wie es einen Körper ohne Geist gibt, so gibt es auch
einen Geist ohne Körper“ (S. 214). Spinoza hielt das für
„widersinnig“: „Sagen Sie mir doch, bitte, ob es nicht
gerade so wahrscheinlich ist, daß es Gedächtnis, Gehör,
Gesicht usw. ohne Körper gibt, weil sich Körper ohne
Gedächtnis, Gehör, Gesicht usw. finden? Oder eine Kugel
ohne Kreis, weil ein Kreis ohne Kugel existiert?“ (S. 221) Boxel
erwiderte darauf mit dem Hinweis auf die Wechselwirkung zwischen
Seele und Körper, über die wir doch kaum etwas wüßten
(S. 224). „Nichtsdestoweniger behaupte ich, so wie es Körper
ohne Gedächtnis usw. gibt, so gibt es auch Gedächtnis usw.
ohne Körper, und so wie es einen Kreis ohne Kugel gibt, so auch
eine Kugel ohne Kreis“ (S. 226).

Boxel glaubte weiter, „daß es in der obersten Luft, in der obersten
Region oder im obersten Raume keinen dunklen Körper gibt, der
nicht seine Bewohner hätte; folglich ist der unermeßliche
Raum, der zwischen uns und den Sternen liegt, nicht leer, sondern
voll von Einwohnern, eben den Geistern“ (S. 214f). Hier wandte
Spinoza nur müde ein, daß er nicht wisse, was er im
Universum als Oben und Unten bezeichnen solle, weil er nicht wisse,
ob Boxel ein geozentrisches oder heliozentrisches Weltbild
zugrundelege oder gar den Saturn in den Mittelpunkt setze (S. 221).
Boxel erwiderte, mit der Sonne als Zentrum sei doch klar, was oben
und unten sei: das, was weiter von der Erde weg sei, sei höher,
und das was näher bei der Erde liege, sei tiefer (S. 226).

Boxel meinte schließlich, „daß es Geister von aller Art gibt, nur
möglicherweise keine weiblichen“ (S. 215). Spinoza
erwiderte, das sehe ihm ganz danach aus, daß vom Volk auch Gott
zu einem Mann gemacht werde. „Ich wundere mich, daß die
Leute, die nackte Geister gesehen haben, ihren Blick nicht auf die
Geschlechtsteile gerichtet haben – vielleicht aus Furcht oder
weil sie von diesem Unterschied nichts wußten“ (S. 218).
Boxel begründete nun seine Ansicht damit, daß Gespenster
sich nicht fortpflanzen würden (S. 223).

Briefwechsel mit Albert Burgh

Einfürhung Philosophie SpinozaAm 11.9.1675 schrieb der zur katholischen Kirche übergetretene Albert Burgh an seinen
Freund Spinoza mit dem Ziel, ihn zum katholischen Glauben zu
bekehren. Der in der Druckausgabe 14 Seiten lange Brief war eine
Mischung aus Überheblichkeit, Frechheit, Unverschämtheit
und Dummheit. Nachdem ich ihn gelesen hatte, erwartete ich keine
Antwort von Spinoza, zumal die nächsten acht Briefe andere
Adressaten und Absender hatten. Doch Spinoza antwortete schließlich
auf das Drängen seiner Freunde hin mit über fünf
Seiten (ich beziehe mich wieder auf den gedruckten Text).

Er stellte fest, Burgh sei ja „nicht nur ein Glied der römischen Kirche
geworden […], sondern auch einer ihrer heftigsten Vorkämpfer“.
Er habe „bereits zu verfluchen und gegen“ seine „Gegner
unbändig zu toben gelernt“ (S. 283f). Spinoza verzichtete
darauf, „von den Lastern der Priester und Päpste“ zu
erzählen, um Burgh seinem neuen Glauben abspenstig zu machen,
und meinte stattdessen, „daß es in jeder Kirche viele sehr
ehrenwerte Männer gibt, die Gott mit Gerechtigkeit und Liebe
verehren“ (S. 284). Daraus folge, „daß alles, was die
römische Kirche von den anderen unterscheidet, vollkommen
überflüssig ist und folglich bloß aus Aberglauben
herrührt. Denn es ist […] die Gerechtigkeit und die Liebe
das einzige und gewisseste Zeichen des wahren katholischen Glaubens
und die Frucht des wahren Heiligen Geistes, und wo diese sich finden,
da ist Christus in der Tat, und wo sie fehlen, da fehlt Christus.
Denn bloß durch den Geist Christi können wir zur Liebe der
Gerechtigkeit und Nächstenliebe geführt werden. Wenn Sie
das recht bei sich hätten erwägen wollen, dann hätten
Sie nicht sich selbst verloren und hätten Ihren Eltern nicht so
bittren Kummer angetan, die jetzt ihr Geschick schmerzlich beweinen“
(S. 285).

Spinoza kritisierte besonders die Verehrung der Hostie und meinte, daß jeder seine
Religion für die beste halte. Der politische Erfolg der
römischen Kirche werde von dem der mohammedanischen Kirche noch
übertroffen, die sich nicht gespalten habe. (In diesem Punkt
irrte Spinoza. Der Islam spaltete sich schon früh in Schiiten,
Charidschiten und Sunniten. Im 8. Jahrhundert trennten sich die
Zaiditen, im 9. Jahrhundert die Ismailiten von den Schiiten. Später
entstanden noch weitere Sekten und sogar neue muslimische
Religionen.)

Schließlich forderte Spinoza seinen Freund auf: „Tun Sie diesen
verwerflichen Aberglauben von sich und erkennen Sie die Vernunft an,
die Gott Ihnen gegeben hat und pflegen Sie sie, wenn Sie nicht unter
die vernunftlosen Wesen gerechnet werden wollen. Hören Sie auf,
sage ich, unsinnige Irrtümer Mysterien zu nennen, und
verwechseln Sie nicht schmählicherweise das, was uns unbekannt
oder noch nicht erforscht ist, mit dem, was als unsinnig nachgewiesen
wird, wie die schauderhaften Geheimnisse dieser Kirche es sind, die
nach Ihrer Meinung um so mehr den Verstand übersteigen, je mehr
sie der richtigen Vernunft widerstreiten“ (S. 288).

Politischer Traktat

Diese letzte Schrift Spinozas (entstanden ab 1675) ist Fragment geblieben. Der Autor
behandelt Naturrecht, Regierungsgewalt, Staatszweck, Monarchie,
Aristokratie und Demokratie. In Kapitel XI über die Demokratie
setzt sich Spinoza in § 4 ausführlich mit dem Problem der
Gleichberechtigung der Frau auseinander. Er fragt: Warum beherrschen
die Männer die Frauen? Liegt es daran, daß sie ihnen von
Natur aus überlegen sind, oder haben sie das lediglich durch ein
Gesetz dekretiert?

Spinozas Antwort: „Ist letzteres der Fall, dann gab es keinen Grund, die Frauen von der
Regierung auszuschließen. Geht man jedoch von der Erfahrung
aus, dann sieht man, daß der Grund dafür in der Schwäche
der Frauen liegt. Denn es ist nie vorgekommen, daß Männer
und Frauen zugleich regierten, sondern überall auf der Erde, wo
Männer und Frauen leben, sieht man, daß die Männer
regieren und die Frauen regiert werden und daß auf diese Weise
beide Geschlechter einträchtig miteinnder leben. […]
Wären nun von Natur die Frauen den Männern ebenbürtig
und gleichwertig an Charakterstärke und Geist, worin ja vor
allem die Macht der Menschen und demzufolge ihr Recht besteht, dann
müßte man doch unter so vielen und verschiedenartigen
Völkern wenigstens einige finden, bei denen beide Geschlechter
gleichberechtigt die Herrschaft ausüben, und andere, wo die
Männer von den Frauen regiert und so erzogen werden, daß
sie geistig unterlegen sind“ (S. 112).

Das bedeutet: Hätte Spinoza Katharina I. (1684-1727), Katharina II. (1729-1796), Maria
Theresia (1717-1780), Victoria (1819-1901), Elisabeth II., Indira
Ghandi, Golda Meir und Angela Merkel gekannt, wäre er zu einer
anderen Schlußfolgerung gekommen. Andererseits: Dachte Spinoza
nicht an Elisabeth I. (1533-1603)? Oder war mit der englischen
Geschichte einfach nicht vertraut? Achtet man auf den genauen
Wortlaut seiner Antwort, muß man allerdings berücksichtigen,
daß Mädchen bis ins 20. Jahrhundert anders als Jungen
erzogen wurden und daß auch unter den genannten Regentinnen das
Patriarchat bestehen blieb.

Spinozas Antwort auf die Frage, warum die Männer die Frauen beherrschen, geht noch
weiter:

„Berücksichtigt man außerdem die Gefühlserregungen der Menschen, Männer
lieben nämlich die Frauen meist nur mit sinnlicher Leidenschaft,
Geist und Klugheit schätzen sie bei Frauen nur, wenn diese
zugleich sehr schön sind, sie ertragen es ferner nur sehr
schwer, wenn die von ihnen geliebte Frau auch anderen ihre Gunst
erweist, und dergleichen mehr, dann erkennt man unschwer, daß
Männer und Frauen unmöglich ohne große
Beeinträchtigung des Friedens gleichberechtigt die Herrschaft
ausüben können. Doch genug davon“ (S. 113).

Diese Passage kann man unschwer als Kritik an der Männerwelt seiner Zeit
interpretieren. Das bedeutet: Heute würde Spinoza zur
entgegengesetzten Schlußfolgerung kommen. Natürlich würde
er differenzieren: Es gibt solche und solche …

© Gunthard Rudolf Heller

Literaturverzeichnis

HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 3 Bände, Frankfurt am Main 1986

KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996

KOLBENHEYER, E. G.: Amor Dei – Ein Spinoza-Roman (1912), München 1923

LEITNER, Thea: Die Männer im Schatten – An der Seite berühmter Herrscherinnen, München/Zürich 1998

LESSING, Gotthold Ephraim: Werke, Siebenter Band – Theologiekritische Schriften I und II, München 1976

  • Werke, Achter Band – Theologiekritische Schriften III / Philosophische Schriften, München 1979

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81

RUSSELL, Bertrand: Philosophie des Abendlandes (A History of Western Philosophy, London 1945), aus dem Englischen von Elisabeth Fischer-Wernecke und Ruth
Gillischewski, München/Zürich 2004

SPINOZA, Baruch de: Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, hg. v. Carl Gebhardt, Hamburg 1965

  • Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes (Tractatus de intellectus emendatione), Lateinisch-Deutsch, hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg 61993
  • Descartes‘ Prinzipien der Philosophie auf geometrische Weise begründet mit dem „Anhang, enthaltend metaphysische Gedanken“, Übersetzung von Artur Buchenau, Hamburg 61987
  • Die Ethik, Lateinisch und Deutsch, revidierte Übersetzung von Jakob Stern, Stuttgart 1984
  • Theologisch-politischer Traktat, hg. v. Carl Gebhardt, Hamburg 51955
  • Theologisch-politischer Traktat, auf der Grundlage der Übersetzung von Carl Gebhardt neu bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick, Hamburg 31994
  • Politischer Traktat, aus dem Lateinischen übersetzt von Gerhard Güpner, hg. v. Hermann Klenner, Leipzig 1988
  • Briefwechsel, Übersetzung von Carl Gebhardt, Hamburg 21977
  • Lebensbeschreibungen und Dokumente, Übersetzung von Carl Gebhardt, Hamburg 1998

VOLPI, Franco/NIDA-RÜMELIN, Julian: Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart 1988

VRIES, Theun de: Spinoza mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 91999

Gunthard Heller