Religionskritik: Schopenhauer und der Islam

Arthur Schopenhauer (1788-1860) hielt den Islam zwar für „die schlechteste aller Religionen“, schätzte aber dessen Schicksalsglauben und den Sufismus, „diese sehr schöne Erscheinung, welche durchaus indischen Geistes und Ursprungs ist und jetzt schon über tausend Jahre fortbesteht“ (II 775).

Schopenhauer Religion KritikBesonders dessen „sehr
heitern Charakter“ hob er
hervor, im Gegensatz zum „düstern und schmerzlichen“
der christlichen Mystik, während die Mystik „der Hindu […]
die Mitte“ zwischen den beiden erstgenannten halte (II 785).

Er
wurde also der wahren Bedeutung des griechischen Verbs krinein gerecht, von dem das Wort „Kritik“ abgeleitet ist. Es bedeutet u.a. „unterscheiden,
auswählen, beurteilen, ausforschen“, hat also nicht
ausschließlich die negative Bedeutung von „verurteilen,
verdammen“ (Menge-Güthling 404f).

Die
Sufis, benannt nach dem wollenen Gewand, das sie tragen (arab. suf),
sind die muslimischen Mystiker. Sie wurden vor allem durch ihre
Lehrgeschichten bekannt, von denen Idries Shah viele übersetzt
und kommentiert hat. Der bekannteste Held dieser Geschichten, die in
der Türkei als „Witze“ sogar an Touristenständen verkauft werden, ist Mullah Nasrudin
(Nasreddin). „Mullah“,
türkisch hoca (Hodja,
Hodscha), bedeutet „Lehrer“.

Ein
Beispiel: Hodja Nasreddin sucht eine Mühle auf und füllt
das Korn aus den Säcken des Müllers in seine eigenen Säcke.
Als der Müller ihn fragt, was er denn da mache, sagt Nasreddin,
er sei ein Narr und müsse seinen Einfällen folgen. Da fragt
der Müller, warum es ihm denn nicht einfalle, das Korn aus den
eigenen in seine (also des Müllers) Säcke zu füllen.
Nasreddin antwortet, er sei doch „nur
ein Narr und kein Idiot!“ (202 Witze von Nasreddin Hodja, Nr. 97)

1.
Stellung der Frau

Schopenhauer
hatte keine gute Meinung von den Frauen. Er hielt sie für
verschwenderisch, töricht, unmündig, der Aufsicht durch
Männer bedürftig (besonders in Geldsachen), stiefmütterlich
und verlogen. „Denn
ich glaube, daß das weibliche Geschlecht, in Masse genommen,
täglich dreimal soviel Lügen in die Luft schickt als das
männliche und noch dazu mit einem Anschein von Wahrhaftigkeit
und Aufrichtigkeit, den das männliche nie erlangt“
(V 309), schrieb er im 9.
Kapitel seiner „Paralipomena“
(= Nachträge) aus dem Jahr 1851 über „Rechtslehre
und Politik“
(V 284). Das Zeugnis der
Frauen vor Gericht betrachtete er als nur halb soviel wert wie das
Zeugnis der Männer.

Doch
was im Gegensatz zu ihm die Mohammedaner über die Frauen
dachten, hielt er doch für übertrieben. Schopenhauers
Gewährsmann war in diesem Punkt ein junger, gebildeter Türke.
Dieser belehrte ihn, daß sie die Frau mit einem Acker
verglichen, in dem man den Samen ausstreut. Aus diesem Grund sei die
Religionszugehörigkeit der Frau egal: Muslime könnten
Christinnen heiraten, ohne von ihnen zu verlangen, daß sie sich
bekehrten.

Das
Urteil des jungen Türken über die Frauen widerspricht der
Einstellung Mohammeds (um 570-632) zum Teil: Nachkommen sind zwar
erwünscht, doch als Grundlage der Ehe gilt die gegenseitige
Liebe. Ein Muslim kann problemlos eine Jüdin oder Christin
heiraten, eine Ehe zwischen einer Muslimin mit einem Christen ist
allerdings ungültig. Die Frau muß dem Mann gehorchen, und
er darf sie zur Strafe schlagen. Doch sie ist nicht sein Eigentum. Im
Haus und unter nahen Verwandten ist sie frei, in der Öffentlichkeit
soll sie sich verschleiern, damit sie nicht belästigt wird
(Khoury u.a. 190-197).

In
religiöser Hinsicht sind Frauen im Islam gleichgestellt. Während
der Menstruation sind Frauen vom Gebet, während der
Schwangerschaft und in der Stillzeit sind sie vom Fasten befreit. Die
Pilgerfahrt nach Mekka müssen sie nur dann unternehmen, wenn sie
genügend Geld haben und sie jemand begleiten kann. Am
Freitagsgebet können sie teilnehmen, müssen es aber nicht.

Frauen werden bei sexuellen Vergehen oft härter, bei religiösen
Vergehen aber milder als Männer bestraft. Die Ausübung
eines öffentlichen Amts war den Frauen in der Vergangenheit
untersagt. Das Erbe der Töchter ist nur halb so groß wie
das der Söhne, die verpflichtet sind, für die anderen
Familienangehörigen aufzukommen. Das Blutgeld für eine
getötete Frau ist geringer als das für einen getöteten
Mann. Vor Gericht ist das Zeugnis einer Frau nur halb soviel wert wie
das eines Mannes (ebd. 250-253).

2.
Moral und Kultur

Die
Moral der Christen hielt Schopenhauer für höherstehend als
die der europäischen Religionen. Damit meinte er also die
Religionen der Griechen, Römer, Kelten usw. Andererseits fand
er, daß die Christen in puncto „Redlichkeit,
Treue, Toleranz, Sanftmut, Wohltätigkeit, Edelmut und
Selbstverleugnung“
nicht besser seien als die Muslime, Parsen, Hindus und Buddhisten
(III 768).

Den
Einfluß der Religionen auf die Kultur betrachtete Schopenhauer
grundsätzlich als schädlich. Daß das Abendland zu
seiner Zeit am besten dastand, wie er meinte, führte er darauf
zurück, daß das Christentum im Untergang begriffen war.
Nur China gab er in kultureller Hinsicht fast den gleichen Rang wie
Europa – weil dort der Einfluß von Islam, Hinduismus und
Buddhismus geringer als in anderen Ländern war (V 466).

Hier
ließ Schopenhauer außer acht, daß in Europa vor
allem Christentum und Islam zu Kulturträgern wurden. Lediglich
Industrialisierung und Technisierung entwickelten sich außerhalb
der Religionen.

Sigrid
Hunke hat zusammengetragen, was wir dem Islam alles verdanken. Es ist
viel zuviel, um es hier zusammenzufassen. So kann ich nur ein paar
Andeutungen machen: die Überlieferung der antiken Kultur, die
moderne Medizin (Narkose, Hygiene, Blutkreislauf, Erfordernis der
Zulassung für Ärzte), ungezählte chemische
Fachausdrücke (Alkohol, Amalgam, Droge, Kalium, Natron, Soda
u.a.), die romantische Liebe (durch die Troubadoure) … Vieles
geriet allerdings wieder in Vergessenheit und wurde Jahrhunderte
später neu entdeckt.

3.
Der Koran

Die
Heilige Schrift der Muslime, den Koran, schätzte Schopenhauer
ganz und gar nicht: „dieses
schlechte Buch [im Manuskript: „elende
Machwerk“] war hinreichend, eine Weltreligion zu
begründen, das metaphysische Bedürfnis zahlloser Millionen
Menschen seit 1200 Jahren zu befriedigen, die Grundlage ihrer Moral
und einer bedeutenden Verachtung des Todes zu werden, wie auch, sie
zu blutigen Kriegen und den ausgedehntesten Eroberungen zu
begeistern. Wir finden in ihm die traurigste und ärmlichste
Gestalt des Theismus. Viel mag durch die Übersetzungen
verlorengehn; aber ich habe keinen einzigen wertvollen Gedanken darin
entdecken können“
(II 209).

Was
Schopenhauer wahrscheinlich nicht wußte: Die Mohammed vom Engel
Gabriel mitgeteilten Offenbarungen, die später im Koran zu Suren
zusammengefaßt und (mit Ausnahme der 1. Sure) der Länge
nach geordnet wurden, bezogen sich auf konkrete Situationen im
alltäglichen Leben. Das bedeutet: Es handelt sich zum großen
Teil um Interpretationen und Verhaltensregeln, die demjenigen, der
die interpretierte bzw. regelungsbedürftige Szene nicht kennt,
nicht viel sagen (vgl. die Mohammedbiographie von Ibn Ishaq).

Ansonsten
enthält der Koran Überlieferungsgut, das als Ergänzung
zur Bibel wichtig ist (nach Kamal Salibi ist das Jesusbild des
Johannesevangeliums ein Niederschlag der Jesus-Überlieferung,
die später im Koran mitgeteilt wurde), Diskussionen Mohammeds
mit Andersgläubigen und Legenden zur Warnung vor Sünden.

Was
Schopenhauer über den Gott im Koran (Allah = „der
Gott“;
Bobzin 58) sagte, gilt auch mehr oder weniger für
den Gott des Alten Testaments: Laut Koran hat Allah Adam, Noah
und Abraham erwählt (Sure 3, Vers 34), den Juden die Thora (die
fünf Bücher Mose), den Christen die Evangelien und den
Muslimen den Koran gegeben (3,4; 4,154). Er ist allmächtig,
allwissend und barmherzig, verflucht aber diejenigen, die vom Glauben
abfallen (3,88). Er duldet keine anderen Götter neben sich
(4,49.117) und erwartet Gehorsam bis zum Tod (4,60.75). Er hetzt
gegen seine eigenen Anhänger Feinde auf (4,91) und hat schon
ganze Völker vernichtet (6,7; 32,27). Nicht der einzelne Muslim
tötet, sondern Allah (8,18). Er gibt dem Satan die Erlaubnis, den Menschen Schaden
zuzufügen (58,11). Schopenhauer
identifiziert Allah übrigens
nicht nur mit Jehova (Jahwe), sondern auch mit dem persischen Ormuzd
und dem indischen Indra (II 800f).

Was
könnte für Schopenhauer ein „wertvoller
Gedanke“ sein? Er
betrachtete die Upanishaden, Platon und Kant als Voraussetzung zur
Verständnis seines Hauptwerks „Die
Welt als Wille und Vorstellung“,
nicht die Bibel oder den Koran. „Gegenstand des Werkes ist die
unausweichlich an ein Bewußtsein geknüpfte menschliche
Erfahrung. […] Die Geltung eines einzigen Gedankens soll
erwiesen werden: Diese Welt, in der wir leben, ist ihrem ganzen Wesen
nach durch und durch Wille und zugleich durch und durch Vorstellung“
(Volker Spierling, in: LphW 805).

Mit
der Bibel hat sich Schopenhauer allerdings gründlich befaßt.
Ansonsten war er mit Verurteilungen nicht zimperlich (vgl. seine
Invektiven gegen Hegel!). Das muß man bei seiner zu Beginn
dieses Aufsatzes zitierten Generalverdammung des Islam
berücksichtigen.

Im
übrigen hat Schopenhauer anscheinend doch einen zumindest richtigen Gedanken im Koran gefunden: Als Beleg seiner These, daß
Verschwendung nicht nur verarmt, sondern kriminell macht, führt
er einen Koranvers an: „Mit Recht sagt demnach der Koran (Sure
17, Vers 29): ‚Die Verschwender sind Brüder der Satane‘ (Saadi
[übersetzt von Graf]“ (V 246).

Wolfgang
Freiherr von Löhneysen, der die von mir verwendete Ausgabe von
Schopenhauers Werken herausgegeben hat, bringt in einer Anmerkung die
tatsächliche Übersetzung von Saadi: „‚Der
Vorrat der Schatzkammer ist der Bissen der Armen, nicht die Speise
der Satansbrüder'“ (V
246). Zum Vergleich (es gibt verschiedene Verszählungen): „denn die
Verschwender sind Brüder des Satans“
(17,28; Ullmann/Winter). „Die
Verschwender sind Brüder der Teufel“
(17,28; Ahmad).

4.
Religionspolitik

Eine
merkwürdige Passage: „Religionen
sind Kinder der Unwissenheit, die ihre Mutter nicht lange überleben.
Omar, Omar hat es verstanden, als er die alexandrinische Bibliothek
verbrannte: sein Grund dazu, daß der Inhalt der Bücher
entweder im Koran enthalten oder aber überflüssig wäre,
gilt für albern, ist aber sehr gescheut, wenn nur ‚cum grano
salis‘ verstanden, wo er alsdann besagt, daß die
Wissenschaften, wenn sie über den Koran hinausgehn, Feinde der
Religionen und daher nicht zu dulden seien. Es stände viel
besser um das Christentum, wenn die christlichen Herrscher so klug
gewesen wären wie Omar. Jetzt aber ist es etwas spät, alle
Bücher zu verbrennen, die Akademien aufzuheben, den
Universitäten das ‚pro ratione voluntas‘ [für die Gründe
stehe der Wunsch] durch Mark und Bein dringen zu lassen – um
die Menschheit dahin zurückzuführen, wo sie im Mittelalter
stand“ (V 463).

Was
hat sich Schopenhauer dabei gedacht? Die Alexandrinische Bibliothek
wurde in vier Etappen zerstört: 1. durch Cäsar (48/47 v.
Chr.), 2. 269/70 oder 273, 3. durch einen Aufstand, den der
christliche Patriarch anzettelte (um 390 n. Chr.) und 4. als die
Araber 642 Alexandria eroberten (MEL 1/682). Daß
Wissenschaften geradezu wieder zu einer allerdings freien
Religiosität führen können, haben die großen
Physiker des 20. Jahrhunderts vorexerziert (Bohr, Einstein,
Heisenberg, Pauli, Planck, Weizsäcker u.a., vgl. „Physik
und Transzendenz“ v.
Dürr).

Tatsächlich
waren die Christen so klug wie Omar, als sie die Bibliothek von
Alexandrien anzündeten, die heidnischen Tempel zerstörten,
im Jahr 394 die Olympischen Spiele abschafften, alle Gegnerliteratur
verbrannten und im Jahr 529 die Platonische Akademie in Athen
schlossen (Deschner 518). Genützt hat es nichts, weil während
des christlichen Mittelalters Muslime die antike Literatur
übersetzten und überlieferten. Omars Zerstörungswerk
war ohnehin nicht vollständig, da Kaiser Justinian I. (482-565)
einen Großteil der Buchbestände nach Konstantinopel
gebracht hatte.

Ayatollah
Chomeini (1902-1989) ließ im Iran Kunstwerke zerstören,
Bibliotheken ausrauben, verbot das Schwimmen und das Hören von
Musik, schloß gemischte Strände, gemischte Schulen,
Theater und Kinos, verbot oppositionelle Presse und Parteien, trennte
die Geschlechter sogar auf den Skipisten. Dafür gab es „Trauerfeiern und
Prozessionen, Versammlungen in den Moscheen und vor allem das
gemeinsame Freitagsgebet“
(Nirumand/Daddjou 267).

Damit
nahm er der Bevölkerung nicht nur ein Stück Lebensqualität,
ist doch „für
Iraner Poesie wie Brot und Kartoffeln – tägliche Nahrung,
die man zum Lebensunterhalt benötigt“ (Azadi/Ferrante 30) – er trieb auch viele in den
wirtschaftlichen Ruin.

Daß
er den Geist der Bevölkerung nicht brechen konnte, zeigt
folgender Witz: Ein Kunde will für ein Chomeini-Gemälde
nicht den vollen Preis zahlen, der Händler will aber nicht
handeln und stellt einen anderen Kunden als Vorbild hin, der für
ein Christus-Gemälde anstandslos den vollen Preis zahlt. Da sagt
der erste Kunde zu dem Händler, wenn er Chomeini kreuzigen
könne, würde er auch den vollen Preis zahlen
(Mahmoody/Hoffer 333).

Es
bleibt also nur übrig, die zitierte Passage Schopenhauers als
Ausdruck seines Hasses auf alles zu interpretieren, was den
Erkenntnisfortschritt hemmt, wozu er insbesondere die Religionen
rechnete (vgl. a. Welter 169): „Die
Moslem sind abgerichtet, fünfmal des Tages, das Gesicht gegen
Mekka gerichtet, zu beten: tun es unverbrüchlich. Christen sind
abgerichtet, bei gewissen Gelegenheiten ein Kreuz zu schlagen, sich
zu verneigen u.dgl.; wie denn überhaupt die Religion das rechte
Meisterstück der Abrichtung ist, nämlich die Abrichtung der
Denkfähigkeit; daher man bekanntlich nicht früh genug damit
anfangen kann“ (V
707).

Nun
wird auch klar, warum Schopenhauer die Sufis so sehr schätzte:
Sie „sind die
Gnostiker des Islams; daher auch Saadi sie
mit einem Worte bezeichnet, welches durch ‚Einsichtsvolle‘ übersetzt
wird“ (II 784). Ihre Mystik ist „hauptsächlich
[…] ein Schwelgen in dem Bewußtsein, daß man
selbst der Kern der Welt und die Quelle alles Daseins ist, zu der
alles zurückkehrt. Zwar kommt dabei die Aufforderung zum
Aufgeben alles Wollens, als wodurch allein die Befreiung von der
individuellen Existenz und ihren Leiden möglich ist, auch oft
vor, jedoch untergeordnet und als etwas Leichtes gefordert“ (II 785).

Daß
er in der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Passage die
Universitäten eigens erwähnte, ist vielleicht noch darauf
zurückzuführen, daß die Berliner Studenten lieber zu
dem „Unsinnschmierer“
Hegel (II 95; III 136; IV 224) in die Vorlesungen gingen als zu dem
unbekannten Schopenhauer, der in seiner Arroganz seine Veranstaltung
auf denselben Termin legte.

5.
Fatalismus

Den
„Fatalismus der
Mohammedaner“ (III
582) hat Schopenhauer in seine eigene Philosophie übernommen: „Alles, was
geschieht, vom Größten bis zum Kleinsten, geschieht
notwendig
.“ In
Schopenhauers geliebtem Latein: „Quidquid fit, necessario fit.

Wer
bei diesen Sätzen erschrickt, hat noch einiges zu lernen und
anderes zu verlernen: danach aber wird er erkennen, daß sie die
ergiebigste Quelle des Trostes und der Beruhigung sind“ (III
581).

Das
ist die Quintessenz von Schopenhauers „Preisschrift über
die Freiheit des Willens“ (III 519-627), für die er von der
Königlich Norwegischen Sozietät der Wissenschaften zu
Drontheim am 26. Januar 1839 den Preis erhielt.

Später
hat er seine Ansichten darüber noch ergänzt mit der
„Transzendenten Spekulation über die anscheinende
Absichtlichkeit im Schicksale des einzelnen“ (IV 243-272). Dort
behauptet er, daß es sich beim „demonstrabeln Fatalismus“
um „eine a priori einzusehende, folglich unumstößliche
Wahrheit“ handelt (IV
247), die „am entschiedensten bei den Mohammedanern“ zu
finden sei (IV 246). Doch auch durch die Erfahrung (a posteriori)
könne man ihn anhand prophetischer Träume bestätigen.

Adel
Theodor Khoury faßt den Schicksalsglauben der Muslime, der im
Hadith (Aufzeichnungen von Aussprüchen Mohammeds) überliefert
ist, folgendermaßen zusammen:

„Da
Gott für den Islam ein barmherziger Gott ist, ist das Schicksal
nicht als eine blinde, unerbittliche Gewalt, sondern als Erfahrung
der menschlichen Grenzen und der nicht hinterfragbaren Souveränität
Gottes zu verstehen.
Die
Tradition überliefert jedoch Sprüche des Propheten
Muhammad, die einen milden Fatalismus im Volksglauben begünstigen“
(Khoury u. a. 661f).

6.
Seelenwanderung

Schopenhauer
betrachtete „die
Lehre von der Metempsychose […] als den Glauben der großen
Majorität des Menschengeschlechts, ja eigentlich als Lehre aller
Religionen mit Ausnahme der jüdischen und der zwei von dieser
ausgegangenen“ (II
644).

„Sogar
eine mohammedanische Sekte in Hindostan, die Bohrahs, von denen
Colebrooke in den ‚Asiatic researches‘ vol. 7, p. 336 sqq.
ausführlich berichtet, glaubt an die Metempsychose und enthält
demzufolge sich aller Fleischspeise“
(II 646).

Denn
man kann ja nie sicher sein, ob sich in dem verzehrten Tier nicht ein
Mensch zur Strafe für seine Sünden inkarniert hat,
womöglich ein Bekannter aus einem früheren Leben.

7.
Einheit der Welt

Schopenhauer
war ein Verfechter von Kants transzendentaler Ästhetik, die
dieser in der „Kritik
der reinen Vernunft“ als ersten Teil der transzendentalen Elementarlehre niedergelegt hat
(S. 69-96). Schopenhauer faßte sie in seiner „Preisschrift
über die Grundlage der Moral“,
mit der er bei der Königlich dänischen Sozietät der
Wissenschaften zu Kopenhagen am 30. Januar 1840 leer ausging,
folgendermaßen zusammen:

„Nach
ihr also sind Raum und Zeit die Formen unsers eigenen
Anschauungsvermögens […]. Ist aber dem Dinge an sich, d.
h. dem wahren Wesen der Welt Zeit und Raum fremd; so ist es
notwendig auch die Vielheit:
folglich kann dasselbe in den zahllosen Erscheinungen dieser
Sinnenwelt doch nur eines sein, und nur das eine und
identische Wesen sich in diesen allen manifestieren“ (III 805).

Diese
Lehre gab es schon lange vor Kant, stellte Schopenhauer fest, nämlich
in den Upanishaden, bei Pythagoras, bei den Neuplatonikern, z.B.
Plotin, bei Scotus Erigena und – im Islam: „Unter
den Mohammedanern finden wir sie als begeisterte Mystik der Sufis wieder“ (III 806). Giordano Bruno wurde für die Verfechtung dieser Lehre
verbrannt, auch bei Spinoza kann man sie finden.

Nach
Kant hat Schelling sie vertreten, „der,
die Lehren des Plotinos, Spinozas, Kants und Jacob Böhmes mit
den Ergebnissen der neuen Naturwissenschaft amalgamierend, schleunig
ein Ganzes zusammensetzte,
dem dringenden Bedürfnis seiner Zeitgenossen einstweilen zu
genügen, und es dann mit Variationen abspielte; infolge wovon
jene Erkenntnis unter den Gelehrten Deutschlands zu durchgängiger
Geltung gelangt, ja selbst unter den bloß Gebildeten fast
allgemein verbreitet ist. Eine Ausnahme machen allein die heutigen
Universitäts-Philosophen, als welche die schwere Aufgabe haben,
dem sogenannten Pantheismus entgegenzuarbeiten […]. Kurzum: das hen kai pan [ein
und alles] war zu allen Zeiten der Spott der Toren und die endlose
Meditation der Weisen“ (III 807).

8.
Erleuchtung

Im
1. Kapitel der „Paralipomena“ mit der Überschrift „Über
Philosophie und ihre Methode“
(V 9) interpretierte
Schopenhauer die Philosophiegeschichte als ein Pendeln „zwischen Rationalismus und Illuminismus, d. h.
zwischen dem Gebrauch der objektiven und dem der subjektiven
Erkenntnisquelle“ (V 16).
Der
Rationalismus hat den „nach
außen
gerichteten
Intellekt zum Organ“,
der Illuminismus ist „wesentlich nach innen gerichtet“ und hat „innere
Erleuchtung, intellektuelle Anschauung, höheres Bewußtsein,
unmittelbar erkennende Vernunft, Gottesbewußtsein, Unifikation
u. dgl. zum Organon“ (V 16f).

Schopenhauer
fand den Illuminismus bei den Hindus (Vedanta und Mimamsa), bei
Platon, bei den Neuplatonikern, bei den Gnostikern, bei Dionysios
Areopagita, Scotus Erigena, Jacob Böhme, den christlichen
Mystikern und „unter
den Mohammedanern als Lehre der Sufi“ (V 17).

Für
sich selbst lehnte Schopenhauer den Illuminismus ab: „Allein
die Philosophie soll mitteilbare Erkenntnis,
muß daher Rationalismus sein“ (V 17).

9.
Tugenden und Laster

Im
8. Kapitel der „Paralipomena“ mit der Überschrift „Zur
Ethik“ (V 238)
erwähnte Schopenhauer, daß die Buddhisten „infolge
ihrer tieferen ethischen und methaphysischen Einsichten nicht von
Kardinaltugenden, sondern von Kardinallastern“ ausgehen, nämlich nach „Isaak
Jakob Schmidts ‚Geschichte der Ostmongolen‘ (S. 7) […] Wollust, Trägheit, Zorn und Geiz. Wahrscheinlich aber muß
statt Trägheit Hochmut stehn; so nämlich werden sie
angegeben in den ‚Lettres édifiantes et curieuses‘ (édition
de 1819, vol. 6, p. 372), woselbst jedoch noch der Neid oder Haß
als fünftes hinzukommt. Für meine Berichtigung der Angabe
des hochverdienten Isaak Jakob Schmidt spricht noch die
Übereinstimmung derselben mit den Lehren der jedenfalls unter
dem Einfluß des Brahmanismus und Buddhaismus stehenden Sufis
(V 240).

Khoury
nennt bzw. umschreibt folgende allgemeine Tugenden der Muslime:
Glaube, Gehorsam gegenüber Gott, Wahrhaftigkeit, Frömmigkeit,
Gottesfurcht, Demut, Dankbarkeit, Friedfertigkeit, Ordnungsliebe,
Güte, Brüderlichkeit, Großmut, Freundlichkeit,
Vergebungsbereitschaft, das Vergelten von Bösem mit Gutem, das
Vermeiden von Spott und Neid, Versöhnlichkeit, Sorge für
die Bedürftigen, Gastfreundschaft (Khoury u.a. 725f).

An
Asketen werden zusätzliche Anforderungen gestellt: Lauterkeit,
Aufrichtigkeit, Reue, Reinheit, Beherrschung der Begierden und
Leidenschaften (ebd. 84ff). Auch die Mystiker haben spezielle
Tugenden: Gottvertrauen, Gottesliebe, Verzicht auf die Gemeinschaft,
Buße für die Sünden, Glaube an
die göttliche Vorsehung, Geduld, Standhaftigkeit, Hingabe an den
göttlichen Willen (ebd. 573f).

10.
Päderastie

Schopenhauer
fiel auf, daß sich die hinduistischen, chinesischen und
muslimischen Dichter „viel
mehr mit der Knaben- als mit der Weiberliebe beschäftigt“
haben, „wie denn z.
B. im ‚Gulistan‘ des Saadi das Buch ‚Von der Liebe‘ ausschließlich
von jener redet. Auch den Hebräern war dies Laster nicht
unbekannt […]. Im christlichen Europa endlich hat Religion,
Gesetzgebung und öffentliche Meinung ihm mit aller Macht
entgegenarbeiten müssen“ (II 720) – bis heute, könnte man ergänzen.

11.
Greuel gegenüber Andersgläubigen

Im
15. Kapitel der „Paralipomena“ mit der Überschrift „Über
Religion“ (V 382) widmete
Schopenhauer ca. dreieinhalb Seiten den Greueln, die Juden, Christen
und Muslime gegenüber Andersgläubigen
begangen haben. Zusammengefaßt:

„Wahrlich,
dies ist die schlimmste Seite der Religionen, daß die Gläubigen
einer jeden gegen die aller andern sich alles erlaubt halten und
daher mit der äußersten Ruchlosigkeit und Grausamkeit
gegen sie verfahren: so die Mohammedaner gegen Christen und Hindu;
die Christen gegen Hindu, Mohammedaner, amerikanische Völker,
Neger, Juden, Ketzer usf.“ (V 422). „Auch das auserwählte
Volk Gottes laß uns nicht vergessen, welches […], den
Mörder Moses an der Spitze, seinen Mord- und Raubzug ins Gelobte
Land antrat“ (V 421).

Während
die Kriege von Christen und Mohammedanern bestens dokumentiert sind,
wird die Eroberung Kanaans durch die Hebräer von manchen
Forschern in Frage gestellt und zum Teil sogar verneint (vgl.
Finkelstein/Silberman 96ff, deren Verallgemeinerung mit Sicherheit
falsch ist).

Chaim
Herzog und Mordechai Gichon halten die biblischen Kriegsberichte
dagegen für wahr, „obwohl
die Ereignisse der prä-monarchischen Periode […] entweder
aus Versehen oder absichtlich möglicherweise dem falschen
Stammesführer zugesprochen oder in eine falsche Zeit verlegt
wurden“ (S. 10).

© Gunthard Rudolf Heller, 2013

Literatur

ABENDROTH,
Walter: Arthur Schopenhauer mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten
dargestellt, Reinbek bei Hamburg 1988

AL-BUHARI:
Die Sammlung der Hadithe, ausgewählt, aus dem Arabischen
übersetzt und herausgegeben von Dieter Ferchl, Stuttgart 2010

AZADI,
Sousan/FERRANTE, Angela: Flucht aus Iran – Eine Frau entrinnt
den Ayatollahs (Out of Iran, Toronto 1987), aus dem Englischen
von Werner Waldhoff, Gütersloh/Kornwestheim/Wien/Zug o. J.

BOBZIN,
Hartmut: Der Koran – Eine Einführung, München 1999

DESCHNER,
Karl-Heinz: Abermals krähte der Hahn, Stuttgart 51989

DÜRR,
Hans-Peter (Hg): Physik und Transzendenz – Die großen
Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem
Wunderbaren, Bern/München/Wien 1988

FINKELSTEIN,
Israel/SILBERMAN, Neil A.: Keine Posaunen vor Jericho – Die
archäologische Wahrheit über die Bibel (The Bible
Unearthed. Archaeology’s New Vision of Ancient Israel and the Origin
of Its Sacred Texts
, 2001), München 52009

FLEISCHER,
Margot: Schopenhauer, Freiburg/Basel/Wien o. J.

DER
HEILIGE QUR-ÂN,
Arabisch und Deutsch, hg. v. Hazrat Mirza Tahir Ahmad, Aßlar-Werdorf 21989

HERZOG,
Chaim/GICHON, Mordechai: Die biblischen Kriege – Schauplätze.
Strategien. Taktiken (Battles of the Bible, London 1978),
deutsche Ausgabe, Erftstadt 2005

HUNKE,
Sigrid: Allahs Sonne über dem Abendland – Unser arabisches
Erbe, Frankfurt am Main 42003

IBN
ISHÂQ: Das Leben des
Propheten, aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von
Gernot Rotter, München 11988

KANT,
Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, 2 Bände, Werkausgabe Bd.
III und IV, Frankfurt am Main 11974 (durchlaufende
Seitennummerierung)

KHOURY,
Adel Theodor/HAGEMANN, Ludwig/HEINE, Peter: Islam-Lexikon. Geschichte
– Ideen – Gestalten, 3 Bände, Freiburg/Basel/Wien
1999 (durchlaufende Seitenzählung)

DER
KORAN – Das Heilige Buch des Islam, nach der Übertragung
von Ludwig Ullmann neu bearbeitet und erläutert von L.
W.-Winter, München 21987

LANGENSCHEIDTS
UNIVERSALWÖRTERBUCH Türkisch, Berlin/München/Wien/Zürich 151992

LEXIKON
DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian
Nida-Rümelin, Stuttgart 1988 (LphW)

MAHMOODY,
Betty/HOFFER, William: Nicht ohne meine Tochter (Not Without My
Daughter,
1987), aus dem
Amerikanischen übersetzt von Herlind Grau und Klara D. Klein,
Wien/Gütersloh/Zug/Kornwestheim o. J.

MENGE-GÜTHLING:
Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch-Deutsch,
Berlin/München/Wien/Zürich 261987

MEYERS
ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81 (MEL)

NIRUMAND,
Bahman/DADDJOU, Keywan: Mit Gott für die Macht – Eine
politische Biographie des Ayatollah Chomeini, Reinbek bei Hamburg
1989

PISA,
Karl: Schopenhauer – Geist und Sinnlichkeit, München o. J.

SAFRANSKI,
Rüdiger: Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie –
Eine Biographie, Wien 1987

SALIBI,
Kamal: Die Verschwörung von Jerusalem – Wer war Jesus
wirklich? (Who Was Jesus?, London 1988), aus dem Englischen
von Hans-Joachim Maass, München 1994

SCHOPENHAUER,
Arthur: Sämtliche Werke, 5 Bände, Frankfurt am Main 1986-89

  • Briefwechsel und
    andere Dokumente, Leipzig 1911
  • Die Kunst zu
    beleidigen, hg. v. Franco Volpi, München 2002
  • Die Kunst, Recht zu
    behalten – In achtunddreißig Kunstgriffen dargestellt,
    Frankfurt am Main/Leipzig 11995

SHAH,
Idries: Die Sufis – Botschaft der Derwische, Weisheit der
Magier (The Sufis, 1964), aus dem Englsichen übersetzt
von Jochen Eggert, Köln 51986

  • Der glücklichste
    Mensch – Das große Buch der Sufi-Weisheit (The Way of
    the Sufi
    , 1968), aus dem Englischen von Thomas Poppe,
    Freiburg/Basel/Wien 1986
  • Die Hautprobe –
    Anleitung zum Sufi-Pfad (The Dermis Probe, 1970), aus dem
    Englischen übersetzt von Thomas Poppe, Freiburg/Basel/Wien 1984
  • Denker des Ostens –
    Studien in experimenteller Philosophie (Thinkers of the East,
    1971), Deutsch von Erika Ifang, Reinbek bei Hamburg 1988
  • Das Zauberkloster –
    Alte und neue Sufi-Geschichten (The Magic Monastery, 1972),
    aus dem Englischen von Sabine Reinhardt, Reinbek bei Hamburg 1986
  • Die fabelhaften
    Heldentaten des vollendeten Narren und Meisters Mulla Nasrudin,
    (Auswahl aus The Exploits of the Incomparable Mulla Nasrudin, The Pleasantries of the incredible Mulla Nasrudin, The
    Subtilities of the inimitable Mulla Nasrudin
    , 1974), aus dem
    Englischen übersetzt von Inge von Wedemeyer,
    Freiburg/Basel/Wien 31988
  • Wege des Lernens –
    Die spirituelle Psychologie der Sufis (Learning How to Learn,
    1978), aus dem Englischen von Christa Broermann, München 1985
  • Die Weisheit der
    Narren – Meistergeschichten der Sufis (Wisdom of the
    Idiots
    , London 1979), aus dem Englischen übersetzt von
    Ursula Schottelius, Freiburg/Basel/Wien 21986

SOLOWJOW,
Leonid: Die Schelmenstreiche des Nasreddin, Berlin 1959

WAHRIG,
Gerhard: Deutsches Wörterbuch, Gütersloh/München 1991

WELTER,
Joseph: Arthur Schopenhauer, in: Karlheinz Deschner (Hg.): Das
Christentum im Urteil seiner Gegner, Frankfurt am Main/Berlin 1990,
S. 164-180

202
WITZE VON NASREDDIN HODJA, Istanbul o. J.

Gunthard Heller