Philosophische Reflexionen: Gibt es den Zufall wirklich?

Ist der Zufall eine aus menschlichem Unvermögen geborene Erfindung oder gehört er zum Wesen der Schöpfung? Seit die Götter die Erde verlassen haben, ist vom Zufall die Rede. Wer heute noch an eine höhere Macht glaubt, nennt unvorhergesehene Ereignisse Fügung oder Schicksal.

Wissenschaftlich gesehen, ist Zufall ein Ereignis, das kausal nicht erklärt werden kann, und das ohne erkennbare Ursache bei einer Ausgangssituation mehrere Endsituationen zulässt. Wüsste man, warum das so ist, dann wäre unsere Weltsicht um einiges klarer.

Das Phänomen "Zufall" in verschiedenen Wissenschaften

Mehr oder weniger systematisch setzen sich Geistes- und Naturwissenschaften mit dem Phänomen Zufall auseinander.

In der Mathematik sind es die Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Statistik.

In der Stochastik als Teilgebiet der Statistik befasst man sich analytisch mit zufallsabhängigen Ereignissen und deren Wert für statistische Untersuchungen. Rätselhaft ist die Diskrepanz zwischen Intuition und stochastischer (zufallsbedingter) Sichtweise.

Die Soziologie beschäftigt sich mit der Frage: Gibt es sozio-historische Gesetze?

Die Philosophie behandelt in Teilbereichen die Frage, ob unsere Welt im Innersten kausal eindeutig vorherbestimmt oder zufällig ist.

Die Physik unterscheidet zwischen determinierten und zufälligen Prozessen. Das Zunehmen der Entropie in physikali­schen Syste­men konnte mit den Gesetzen der Newtonschen Mechanik nicht erklärt werden. Es blieb geheimnisvoll, bis Ludwig Boltzmann (1844–1906) die Lage klärte, indem er eine zusätzliche Idee ins Spiel brachte, die Idee der Wahrscheinlichkeit. Sie besagt, dass die auf die einzelnen Moleküle eines Körpers verteilte Bewe­gungsenergie stets von einem weniger wahrscheinlichen Vertei­lungszustand in einen wahrscheinlicheren übergeht, nicht aber umgekehrt.

Die Quantenphysik untersucht im mikroskopischen Bereich, ob die Welt fundamental determiniert oder im Innersten zufälligen Prinzipien gehorcht. Die „Kopenhagener Deutung“ weist darauf hin, dass gleiche Experimente zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Beim Erreichen der Halbwertzeit im radioaktiven Zerfall zerfällt ziemlich genau die Hälfte der radioaktiven Atome. Welche Atome aber dabei zerfallen werden, lässt sich nicht vorhersagen.

Die Unschärferelation ist ein besonders heikles Problem der Quantenphysik. Der Grund, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig exakt zu erkennen sind, könnte in der Beschaffenheit des menschlichen Organismus liegen. Das lässt vermuten, dass vielleicht verborgene Variablen der eigentliche Grund für die scheinbar zufälligen Phänomene sind, deren Gesetzmäßigkeit nur noch nicht erkannt wurde. Eine Theorie der Quantenphysik besagt: Es sind zwar auf mikroskopischer Ebene zufällige Quanteneffekte feststellbar, auf Mechanismen der makroskopischen Ebene haben sie aber keine Auswirkungen, sodass diese dennoch als deterministisch beurteilt werden können.

Die Chaosforschung untersucht deterministisch chaotische Systeme, die aufgrund ihrer Komplexität momentan nicht klar beurteilt werden können.

Die Quanten- und Astrophysik stellen gleichermaßen fest, dass der vermeintlich leere Raum sowohl im Universum wie im Innersten der Materie mit Energie, Potenzial und Feldern angefüllt ist. In diesem „Vakuum“ gibt es Fluktuationen. Ohne Vorwarnung materialisieren sich dort Teilchen und Antiteilchen wie aus dem „Nichts“ und verschwinden plötzlich wieder.

Die Psychologie sieht sich im Schicksal der Menschen und ihrem gegenwärtigen Sein ständig mit dem Zufall konfrontiert.

Kognitionspsychologie untersucht die menschliche Fähigkeit Zufallsergebnisse zu beurteilen, denn der Mensch besitzt eine rätselhafte Grundfähigkeit zum Einschätzen von Wahrscheinlichkeiten.

Die Meteorologie gibt Anlass am Zufall zu zweifeln. Eindeutig wird hier mit mehr Information die Wettervorhersage besser.

Zufall: Blick in die Welt und in ihre Tiefe

Zufall Phänomen PhilosophieHeutiges naturwissenschaftliches Wissen teilt die Welt in zwei scharf voneinander getrennte Bereiche: in einen mikroskopischen und in einen makroskopischen. Im mikroskopischen Bereich sieht sich die Wissenschaft mit Wahrscheinlichkeiten konfrontiert, im makroskopischen Bereich kann sie mit berechenbarer Mechanik arbeiten.

Der eine Bereich ist immateriell, der andere materiell. Aus allgemeiner Sicht scheint der eine eher geistiger Art zu sein, der andere ist eindeutig gegenständlicher Art. Die Frage stellt sich: Warum ist das so? Die Wissenschaft hat darauf keine Antwort. Die Frage steht aber im Raum und gibt keine Ruhe.

Wenn wir dem Drängen nachgeben und Intuitionen folgen, kann das zu Annahmen führen, gegen die sich unser Verstand wehrt. Nehmen wir sie dennoch an und lassen den einfachen Verstand und die unvoreingenommene Vernunft damit spielen, dann kann das zu einem überraschenden Ergebnis führen.

Beispielsweise zu der seltsamen Vermutung, dass da unten im elementaren Bereich der Welt, wo kein Mensch mit klarem Blick hineinschauen kann, ein Kampf um die Vormachtstellung zwischen zwei elementaren Gegensätzen stattfindet – zwischen dem Positiv und dem Negativ. Damit aber nicht genug, bei dieser Annahme drängt sich auch die Vorstellung auf, dass zwei Willen gegeneinander kämpfen. Auf der einen Seite ein Wille, der die universale Einheit will, und auf der anderen Seite einer, der für die absolute Vereinzelung kämpft.

Interessant ist in diesem Fall: Die Natur, die wir vor Augen haben, scheint es zu bestätigen. Auf der einen Seite sehen wir in der Natur eine fortschreitende Komplexitätssteigerung und auf der anderen den permanenten Abbau jeder geordneten Struktur.

Unser angestoßenes Gedankenspiel nötigt geradezu zu der merkwürdigen Vorstellung, dass von Anfang an zwei Geistwesen die Hand im Spiel haben. Das wiederum provoziert den Gedanken: Hat die Schöpfung etwa zwei Väter, die sich nicht ganz grün sind? Sozusagen einen Gott und einen Gegengott? Der eine will das „Kind“, der andere nicht.

Der nächste Gedanke wäre dann: Wo ist die „Mutter“? Die Vernunft sagt zu dieser Frage: Aus Materie ist alles gemacht, was die sichtbare Welt ausmacht; der kritische Verstand betätigt es. Vielleicht gibt es deshalb seit alters her den Ausdruck „Mutter Erde“.

Dann müsste die Materie als drittes „Element“ in Form einer passiven Kraft neben den beiden aktiven Kräften, dem Positiv und dem Negativ, zur elementaren Grundausstattung des Seins gehören, und zwischen allem als ein viertes Etwas der Störfaktor „Zufall“.

Materie müsste dann ebenso unzerstörbar sein wie das Positiv und das Negativ. Die Physik, die längst ihre Glaubwürdigkeit bewiesen hat, bestätigt: Die Gesamtmasse der Schöpfung lässt sich weder mindern noch erhöhen, sie lässt sich nur umformen. Und was den Zufall betrifft: Die Quanten- und die Astrophysik rechnen mit Zufälligkeiten, sie nennen sie „Wahrscheinlichkeiten“. Intuitionen müssen also nicht unbedingt weltfremde Illusionen sein.

Zufall und freier Wille

Wille Zufall FreiheitZwischen den Begriffen „Zufall“ und „freier Wille“ besteht ein enger Zusammenhang. Es ist nicht sicher nachweisbar, ob eine sogenannte freie Entscheidung nicht durch Einflüsse aus dem Unbewussten oder der äußeren Natur oder aus dem sozialen Umfeld beeinflusst ist, auch nicht, ob ein echter Zufall mitwirkte.

Die Frage nach dem freien Willen ist insofern schwierig, dass es in einem Universum ohne Zufall eigentlich gar keinen freien Willen geben kann. Wenn es wirklich keinen Zufall im Schöpfungsgeschehen gäbe, dann müsste jedes Ereignis und jede Willensentscheidung bei Kenntnis aller Einflussgrößen vorhersagbar sein. Freier Wille wäre dann eine Illusion, deren Ursache in unserer Unkenntnis liegt.

Immanuel Kant sagt zu diesem Problem in der „Kritik der reinen Vernunft“: Der Widerspruch zwischen „Determinismus“ (von äußeren Ursachen bestimmt) und „Unbestimmtheit“ (von äußeren Ursachen nicht bestimmt) des Willens entsteht nur, wo Erscheinungen der Erfahrungswelt mit dem „Ding an sich“ (unabhängig von anderen Dingen) gleichgesetzt werden.

Das heißt, wenn ein Ding zu anderen Dingen keine Beziehung hat, dann ist Freiheit nicht möglich, weil alles in der Welt für sich alleine bestehen würde und in seiner Wesensart unveränderbar wäre. Wenn hingegen Erscheinungen nur für das gelten, was sie in Wirklichkeit sind, also keine Dinge an sich, sondern nur Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, dann sind ihre Gründe empirischer Art.

Willensfreiheit bedeutet dann, dass der Mensch einen Zustand von sich aus hervorrufen kann. Nach dieser Logik wird zwar verständlich, warum wir im eingeschränkten Maß über einen freien Willen verfügen, aber nicht wo die eigentliche Ursache dieser Möglichkeit ist. Um dieser Frage nachzugehen, sollte zuerst der Frage nach dem Zufall nachgegangen werden.

Dem Zufall auf die Schliche kommen

Im kreativen Bereich gibt es eine effektive Methode zur Ideenfindung: das „Brainstorming“. Jeder Teilnehmer einer Arbeitsgruppe kann sich ungehemmt und spontan zum gestellten Thema äußern, ohne Sorge haben zu müssen, für offenbaren Unsinn kritisiert oder belächelt zu werden. Im Gegenteil, jeder „Unsinn“ ist willkommen.

So manche fantastische Idee konnte mit dieser Methode erfolgreich realisiert werden. Macht es die Natur vielleicht auch so? Sie zeigt, dass aus Mutationen, die anfänglich krankhaft erscheinen, neue widerstandsfähige Lebensformen hervorgehen können.

Man sollte bei der Frage nach dem Zufall die Tatsachen beachten, dass nachweisbar von Anfang an das Chaos in der Welt ist, und dass dadurch schon immer in der Natur – aus anfänglich krank erscheinenden Mutationen – neue, lebensfähige Arten entstanden sind. Das zwingt zu der Annahme, dass in der Natur eine Kraft am Werk ist, die im dunklen Streben dem Chaos immer wieder Ordnungsstrukturen abringt.

Seit der denkende Mensch auf Betreiben der ordnenden Kraft in die Schöpfung kam, verfolgt er bewusst oder unbewusst ein elementares Ziel: das optimale Leben. Diese Tatsache lässt die Vermutung zu, dass Plan und Zufall zum Wesen der Schöpfung gehören. Wenn es denn so ist, dann muss auch jederzeit mit einer dem Chaos entspringenden Zufälligkeit gerechnet werden. Das heißt dann für uns, dass die für unser Leben am günstigsten erscheinende Gelegenheit beim Schopf zu packen ist.

Daraus kann geschlossen werden, dass Spontaneität für die Persönlichkeitsentfaltung Vorteile hat, und dass Ängste nicht nur vor möglichen Gefahren warnen, sondern auch die größten Feinde der persönlichen Entwicklung sein können. So gesehen sollte das mehr oder weniger bewusst wahrgenommene natürliche Ziel des Lebens stets Priorität haben.

Anders ausgedrückt, die Evolution der Natur drängt mit allen Mitteln und auf mancherlei Umwegen zur Bewusstwerdung des Unbewussten. Wir sollten es auch so tun, weil es offenbar der beste Weg zur Erfüllung des Lebens ist – die im irdischen Leben nicht wirklich zu finden ist.

Arbeitsvertrag mit dem Zufall

Die Astrophysik bestätigt: Vor der Schöpfung war alles im Gleichgewicht. Sie nennt diesen Zustand „Supersymmetrie“. Irgendeine Störung des Gleichgewichts löste den Schöpfungsprozess aus, und die Evolution nahm aus dem Chaos heraus ihren Lauf. Es scheint als bemühe sie sich seither im Kampf gegen die störende Urkraft, die verlorene Ganzheit wieder herstellen zu wollen.

Vor dem Anfang, in der Supersymmetrie, waren alle denkbaren Gegensätze vereint. In diesem vollkommenen Vorschöpfungszustand war sozusagen der Zufall arbeitslos. Eine Festanstellung bekam er erst, als das Gleichgewicht verrutscht war. Sein Auftrag ist seither: für die Wiederherstellung der Einheit mit allen Mitteln, auch mit unkonventionellen, zu betreiben. – Ist es Zufall, dass wir diese Einheit denken können?

Zufall: Und wo bleibt Gott?

Steht vielleicht als Auftragsgeber hinter dem Zufall ein Gott, der sich nicht in die Karten schauen lässt? … der mit Tricks dem Chaos Strukturen abringen möchte? … der uns vielleicht mit dem Zufall auf gute Wege bringen will, oder uns vielleicht auch mit Zufälligkeiten gelegentlich die verdiente Strafe für unsere Vergehen verpasst? Dann wäre es höherer Wille aber kein Zufall.

Nimmt vielleicht der „gütige und gerechte“ Gott, wie ehedem die Götter im Himmel, einen Platz hoch über uns ein? Wenn es so wäre, dann wäre er eine himmelweit entfernte fremde Macht. Natürlicher wäre es, wenn Gott beziehungsweise das „Sein an sich“ das Zentrum aller Dinge wäre, dann wäre „er“ das Innerste unseres Wesens.

Seine Botschaft an uns wäre dann, dass wir mit dem Zufall ebenso umgehen sollen wie die Natur, nämlich dem ursächlichen Streben nach Leben zu folgen und das Beste daraus zu machen – nur eben mit dem Unterschied, dass es bei uns nicht nur beim blinden Streben bleiben muss, sondern dass uns dabei auch unser Verstand helfen kann.

Die Herausforderungen des Lebens können uns tatsächlich, wenn wir sie annehmen, der universalen Realität – in der alles vereint ist – näher bringen. Nichts anderes scheint die Evolution der Schöpfung mit ihrem gewaltigen Aufwand zu wollen. Für die Existenz der Menschheit könnte auch kein anderer Grund sinnvoll sein.

Fazit: Die Fakten sprechen eher für den Zufall. Das ist gut so, denn wäre es anders, wäre dann unser Leben lebenswert?

Viel Spaß beim Erforschen des Zufalls!

Heinz Altmann