Nietzsche: Vom Untergang des Abendlandes …

… und der Vision einer neuen Welt.

In
den 60er Jahren wurde ein neues Zeitalter beschworen; damals galt es vielen
Menschen als ausgemacht, dass nun ein Zeitalter im Zeichen des Wassermanns,
also eine Zeit der Liebe und des Friedens, vor uns liegt. Die damaligen Hoffnungen
mögen zwar getrogen haben; aber ich bin doch der Meinung, dass sie so falsch
nicht waren, denn vieles deutet auf den neues Zeitalter, ein New Age, hin, auch
wenn es vorangeht wie bei der Echternacher Springprozession: zwei Schritte voran,
einen zurück.

Doch übersieht man dabei gerne, dass auch diese Leute ihr Ziel erreichen.
Die Frage, die sich stellt, ist, ob das Ziel dieses Mal noch rechtzeitig erreicht
wird. Man muss die Gefahren, von denen die Menschheit bedroht wird, nicht stets
neu auflisten und gebetsmühlengleich herunterleiern, denn man kann davon
ausgehen, dass sie allgemein bekannt sind. Außerdem meine ich, dass ich
für intelligente Leser schreibe, bei denen man das Wissen um diese Gefahren
voraussetzen kann. Es kann also nur darum gehen, diesen Kreislauf, in dem die
Menschheit feststeckt, zu durchbrechen; es kann nur darum gehen, wieder das
freie Meer zu gewinnen, wie Nietzsche es nennt.

Deshalb ist es auch völlig legitim, zu vertreten, dass man die heutigen
Entwicklungen, die man offensichtlich nicht aufhalten, höchstens abbremsen
kann, im Gegenteil beschleunigt, um sie zum Ende zu führen. Diesen Rat
erteilt Zarathustra bereits im Abschnitt „Von alten und neuen Tafeln“. Ich sehe deshalb das Hauptziel der von uns geführten Gegenbewegung in
der Schaffung einer Gegen-Macht, also der Aktivierung der Kräfte, die stark
genug und bereit dazu sind, das Erbe dieser untergehenden Ordnung anzutreten.

Die Religion des Übermenschen ist also keine bloß religiöse
Bewegung; sie ist in erster Linie kulturell inspiriert. Was eine Gegenkultur
ist, wie leicht sie eine Kulturrevolution auslösen kann, zeigte sich beispielhaft
Ende der 60er Jahre. Man darf nie vergessen, dass es ohne die damalige Mode,
ohne die damalige Musik, die Kreativität auf allen Gebieten nie so etwas
wie eine 68er-Bewegung gegeben hätte. Diese Bewegung war politisch genau
in dem Rahmen, in dem sie kulturell war. Sie war die gelungene Synthese all
dieser Strömungen. Dass sie, besonders in Deutschland, sozialistisch inspiriert
war, besagt in diesem Zusammenhang gar nichts, denn sie war in erster Linie
idealistischer Natur. Deshalb war diese Art Sozialismus nicht mit dem der Moskauer
Panzer-Kommunisten oder ihrer DDR-Satrapen vergleichbar, eher schon mit den
der Prager Reformkommunisten.

Und so ist es auch kein Zufall, dass in dieser Zeit in der damaligen Tschechoslowakei
ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz entstehen konnte, der, ebenso folgerichtig,
von den Panzern der „sozialistischen Brudernationen“ niedergewalzt
wurde.

Und
doch wirken die 60er Jahre bis heute positiv fort; ich glaube, dass gerade die
in dieser Zeit entstandenen Vorstellungen eines New Age immer noch der stärkste
Wall gegen die in letzter Zeit besonders in Deutschland aufkeimenden faschistischen
und nationalistischen Umtriebe darstellen. Mag sein, dass in der Erziehung vieles
versäumt wurde, weil man es nicht geschafft hat, ein realistisches Bild
der deutschen – und damit auch europäischen und, besonders, jüdischen
– Geschichte zu vermitteln, um sich so aus der Verantwortung für diese
Geschichte zu stehlen. Trotzdem haben sich, davon unberührt, Strukturen
entwickelt, die resistent sind gegen die neuen alten braunen und deutschnationalen
Verführer.

Ich habe früher bereits einmal geschrieben, dass freies Denken nie im
Gleichschritt marschiert und gern Erich Mühsam zitiert, der sagte, wer
sich fügt, lügt; daran hat sich nichts geändert. In den 60er
Jahren entwickelte sich jedenfalls, von den USA ausgehend, die Hoffnung auf
ein neues Zeitalter. Daraus wurde die New-Age-Bewegung geboren. Man kann ihr,
ja muss ihr kritisch gegenüberstehen; aber man darf trotz alledem nicht
vergessen, dass die Protagonisten dieser Bewegung viele bedenkenswerte neue
Ansätze geliefert haben, auf denen sich ein neues Weltbild mit gründen
wird.

Dazu kommt ein neues wissenschaftliches Weltbild, dass man unter dem Begriff
„holistisch“ zusammenfasst. Herausragende Gebiete sind dabei die Quantenphysik,
die sogenannte Chaostheorie und die fraktale Geometrie. Aber es entsteht auch
schon eine neue Neurologie, wie überhaupt auf dem Gebiet der Medizin viel
in Bewegung gekommen ist. Daraus entwickelt sich langsam ein völlig neues
Bild der Welt. Dieses neue Weltbild aber, wenn es denn erst einmal in die Köpfe
der Menschen vorgedrungen ist, wird sie für große Änderungen
bereitmachen. Wie lange ein derartiger Prozess aber dauert, erkennt man, wenn
man sich vor Augen hält, dass Ohm Krüger, der Präsident der Burenrepublik,
noch glaubte, die Erde sei eine Scheibe – und das ist nicht mehr als 100 Jahre
her!

Das größte Problem, das sich stellt, wenn man einen tiefgreifenden
Wandel herbeiführen will, ist die Überwindung der ökonomischen
Widerstände. Die großen multinationalen Konzerne, die über genügend
Machtmittel verfügen, um Regierungen manipulieren zu können, werden
alles tun, ihre Positionen zu wahren. Es ist ihr Wille zur Macht. So kommt es,
dass es zwar Nieschen gibt, in denen sich auch heute bereits eine Gegenkultur
etabliert hat, aber es sind nur geduldete Nieschen, kleine Ventile eben. Auch
fragt sich, ob diese Gegenkultur in ihrer derzeitigen Form überhaupt existieren
kann ohne die kapitalistische Ordnung.

Etliche Multis haben den Zug der Zeit natürlich erkannt und sind umgestiegen
auf umweltverträgliche Produkte. Aber das nur in dem Maße, wie es
sich für sie rechnet. Zwar zwingt der Verbraucher die Konzerne oft, in
der einen oder anderen Richtung Änderungen vorzunehmen; aber im Weltmaßstab
betrachtet handelt es sich um Marginalien. Und zuletzt ist der Verbraucher kaum
bereit, Änderungen zu initiieren, wenn er sich wirklich einschränken
muss. Schon ein Tempolimit auf deutschen Straßen führt zu den heftigsten
Kontroversen, und das, obwohl man sowieso kaum mehr aus 120 km/h auf den Autobahnen
fahren kann, weil die Straßen total überfüllt sind.

Das Worldwatch-Institut kommt in seinem Bericht „Zur Lage der Welt 1992“
zu der Erkenntnis:

„Die
Abwendung der Gefahren für unsere Zukunft erfordert eine grundsätzliche
Neuordnung vieler Bestandteile unserer Gesellschaft. Eine Verlagerung von fossilen
Brennstoffen auf effizientere, solare Energiesysteme, neue Transportnetze und
Stadtplanungen, die den Gebrauch von Kraftfahrzeugen verringert, Umverteilung
von Land und Reichtum, Gleichheit der Geschlechter in allen Kulturen und einen
raschen Übergang zu kleineren Familien.

Sie erfordert verminderten Ressourcenkonsum durch die Reichen, um Raum für
einen besseren Lebensstandard für die Armen zu lassen. Und weil die heutigen
Vorstellungen über Wirtschaftswachstum an der Wurzel eines sehr großen
Teils der Schädigung der Umwelt liegen, erfordert es auch, dass wir unsere
Grundwerte und Visionen des Fortschritts überdenken.

Angesichts dieses Ausmaßes des Wandels werden wir leicht dazu verleitet,
den Ernst der ökologischen Gefahren zu leugnen und anzunehmen, wir könnten
mit kleineren Korrekturen unseres Handelns davonkommen. Wir wählen Politiker,
die unseren Glauben bestätigen, die Welt sei grundsätzlich in Ordnung.
Und wir überhören geflissentlich Worte wie die José Lutzenbergers,
des brasilianischen Umweltministers, bei einer Festlichkeit in Washington: ‚Es
ist unmöglich, dem ganzen Planeten einen solchen Reichtum zu bescheren,
wie ihr ihn hier habt, wie ihn die Deutschen haben, wie ihn die Holländer
haben … und wir müssen uns dieser Tatsache stellen.'“

Keine zehn Jahre später und nachdem die USA angekündigt haben, aus
dem Kyoto-Abkommen zur Verringerung der Treibhausgase auszusteigen, stellt Christopher
Flavin, Präsident von Worldwatch, in einem Interview fest:

„Wenn sich die Einsicht der amerikanischen Administration nicht ändert,
sind wir auf dem besten Wege, ein ökologischer Schurkenstaat zu werden
und uns in dieser Frage auf peinliche Art und Weise zu isolieren.“

Niemand, das zeigt sich hier wieder sehr deutlich, will auf seinen Reichtum
verzichten, so er ihn denn hat. Lieber überlegt man sich neue Formen weltweiter
Interventionspolitik, um gegebenenfalls überall eingreifen zu können.
Man hat die Sache der Menschenrechte zur Waffe gemacht – zur Waffe gegen die,
gegen die man vorgehen will. Ansonsten kümmern diese Menschenrechte niemanden.
Deshalb auch hat Nietzsche recht, wenn er feststellt, dass es keine Menschenrechte
gibt. Das mag eine schmerzhafte Erkenntnis sein, aber man muss sich nur umschauen
in der Welt, um sie immer und immer wieder bestätigt zu finden.

Man macht Politik mit den Menschenrechten und mit der Angst der Menschen; und
Politik kennt keine Moral. Das müssen all die Schwarmgeister erkennen,
die sich ernstlich einbildeten, aus ehrlichen und idealistischen Beweggründen
tätig zu sein. Natürlich war es seinerzeit richtig, gegen die Aufstellung
neuer Atomwaffenträger zu demonstrieren. Doch war es auch notwendig? Heute
wissen wir, dass die damalige UdSSR damals schon gar nicht mehr in der Lage
war, einen Erstschlag zu führen.

Und
heute wissen wir, dass das auch die westlichen Geheimdienste wussten. Aber man
konnte von dem Wissen keinen Gebrauch machen, weil man sonst den Popanz der
sowjetischen Bedrohung zerstört hätte. Also ließ man die Leute
demonstrieren, beschimpfte sie als „Agenten Moskaus“ und lachte sich
im Stillen ins Fäustchen über die Simpel. Heute gibt es keine relevanten
politischen Kräfte mehr, die Interesse an einer Friedensbewegung haben
– und siehe da, sie existiert nicht mehr.

Das ist der Höhepunkt der Postmoderne: Es existieren keine wirklich bewegenden
Kräfte mehr, die in der Lage sind, Politik zukunftsweisend zu beeinflussen
oder gar zu gestalten. Die Parteien unterscheiden sich kaum noch, ob nun in
der Regierung oder Opposition. Und wohin man auch schaut, um die Parteien der
westlichen Demokratien ist es nirgendwo gut bestellt. Selbst in Deutschland,
diesem demokratischen Musterländle, hat sich herausgestellt, dass die halbe
ehemalige Kohl-Regierung – bis zum damaligen Bundeskanzler – korrupt und kriminell
ist. Und wie korrupt der Staat selbst ist, zeigt sich im Umgang der Strafjustiz
mit diesen Leuten, die alle, das ist absehbar, ungeschoren davon kommen werden.

Der fast europaweite Wegfall einer echten Opposition und das Fehlen einer Alternative
beginnt, das korrumpierte System von innen zu zerstören. Doch wir stehen
keineswegs am Ende der Geschichte, wie uns ein amerikanischer Modephilosoph
weismachen will, sondern am Beginn eines neuen Abschnitts. Und ehe das derzeitige
Zeitalter völlig zu Ende ist, in vielleicht 30 oder 50 Jahren, wird es
noch manche Erschütterungen geben. Der Kommunismus ist einfach abgetreten;
ob der Kapitalismus auch so einfach abtritt und lautlos die Bühne der Geschichte
verlässt, ist hingegen mehr als fraglich.

„Wo bleibt der Gorbatschow des ökologischen Zeitalters“, fragte
das Worldwatch-Institut. Nein – ein Gorbatschow dürfte kaum in der Lage
sein, diese Titanenarbeit der Umgestaltung zu leisten. Auf die Unfähigkeit
der US-Administration wurde schon verwiesen; in anderen Ländern sieht es
auch nicht viel besser aus.

Um nun wirklich neue, richtungweisende Parameter durchzusetzen, bedarf es auch
einer neuen Lehre, und das ist für mich Nietzsches Lehre von der ewigen
Wiederkehr: die Religion der Religionen. Durch sie wird die Postmoderne und
die kapitalistische Weltordnung überwunden; an Stelle der alten wird eine
neue, die Bedürfnisse von Mensch und Natur besser regelnde, in der Lehre
Nietzsches wurzelnde Ordnung treten. Und zuletzt wird es eine Gesamtverwaltung
der Welt geben, denn die Probleme können nur global gelöst werden.
Setzt sich die Religion der Religionen erst einmal durch, sind auch die Mittel
für die Neuordnung vorhanden.

Deshalb ist es wesentlich, die Menschen unseres Kulturkreises zu gewinnen.
Denn hier, in den hochentwickelten Industrienationen der nördlichen Hemisphäre,
entscheidet sich das Schicksal unserer Lehre. Das Schicksal der Menschheit hingegen
entscheidet sich in der sogenannten Dritten Welt. Nur wenn es zu einem Ausgleich
dieser beiden Hemisphären, der nördlichen reichen und der südlichen
armen, kommt, kann es eine friedliche Zukunft geben. Doch je problematischer
die globale Lage wird, desto aggressiver werden die armen Nationen ihre Rechte
gegenüber den reichen Staaten einfordern. Je später sich Nietzsches
Lehre durchsetzt, desto problematischer wird es sein, einen gerechten Ausgleich
zustande zu bringen. Zuletzt wird der Punkt erreicht sein, an dem selbst unser
Sieg nichts mehr ändern wird. In dieser Lage wird es einen Weltbürgerkrieg
geben, und auch wir werden ihn führen müssen.

So kann man nicht gerade hoffnungsfroh in die Zukunft schauen; aber „die
größten Ereignisse und Gedanken – aber die größten Gedanken
sind die größten Ereignisse – werden am spätesten begriffen“, hat Nietzsche festgehalten. Wenn wir uns also mit der Zukunft auseinandersetzen,
dann unter der Prämisse, dass sich Nietzsches Religion der Religionen manifestieren
und durchsetzen wird.

Aber „damit ein Heiligtum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligtum
zerbrochen werden“ , und so werden wir den Untergang der alten Welt erleben
und zugleich damit den Beginn einer neuen Ära, des Zarathustra-Hazars von
tausend Jahren, den Nietzsche beschworen hat. Dafür nun lohnt es sich,
die derzeitige Welt zu „zerbrechen“. Die postmoderne Ordnung ist der
stärkste Wall, der sich dieser neuen Welt entgegenstemmt. Wenn wir das
Christentum als die im europäisch-amerikanischen Raum vorherrschende Religion
beerben, wird das nihilistische Zeitalter beendet sein. So ist alles miteinander
verwoben im Geflecht der Geschichte.

Weil Gott tot ist, weil die christliche Religion nur noch kraftlos dahinsiecht,
weil sie ihre spirituelle Kraft eingebüßt hat und den Menschen nichts
mehr zu geben vermag, konnte der Nihilismus so aufblühen. Denn obwohl das
Christentum die nihilistische Religion par excellence ist, wurde sie über
lange Jahrhunderte von einem zähen Willen zur Macht vorangetrieben. In
den Institutionen der Kirche ist genau dieser Wille noch lebendig; aber er speist
sich nicht mehr aus Quellen den Glaubens, sondern aus sich selbst heraus. Das
Erlöschen der Kraft der Religion aber hat dem Nihilismus diesen mächtigen
Auftrieb gegeben, den wir heute beobachten können. Und was ist das Ergebnis
– die Postmoderne, die Nietzsche als eine Art Kostümfest vorhersah:

„Der europäische Mischmensch – ein leidlich hässlicher Plebejer,
alles in allem – braucht schlechterdings ein Kostüm. Er hat die Historie
nötig als die Vorratskammer der Kostüme.“

Das Kostümfest, diese immerwährende Loveparade der Ziel- und Zügellosigkeit,
der Beliebigkeit und der Oberflächen-Buntheit, geht unaufhaltsam dem Ende
entgegen, denn er ist längst zum Tanz auf dem Vulkan geworden. Ein letzter
Rausch, ein letztes großes Aufbäumen, dann wird er – wenn es günstig
läuft – im großen Katzenjammer enden.

Dann aber bricht das neue Zeitalter an, wird der kommende Gott sein Zepter
schwingen, wird die Welt in neuen Farben erstrahlen. Dann auch wird der wahre
Nietzsche, der Religionsstifter, deutlicher denn je zu erkennen sein, denn „jeder
Philosoph verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck,
jedes Wort auch eine Maske“ , und was hinter der Maske steckt, wird erst
offenbar, wenn seine Zeit gekommen ist.

Bis dahin wird die Lehre verborgen bleiben. Doch die Zeit reift heran, um auch
dieses große Geheimnis zu lüften und zu offenbaren. Die Siegel werden
brechen, und strahlend wird er anheben für die Menschheit: der Große
Mittag! Mittag und Ewigkeit. Das ist die Formel für die Lehre der ewigen
Wiederkehr, denn am Großen Mittag beginnt eine neue Ewigkeit, beherrscht
von Nietzsches Lehre, so, wie einst eine Ewigkeit vom Christentum beherrscht
wurde. Unsere Zeit aber bricht nun an, unsere Ewigkeit liegt noch VOR uns!

Ein von Nietzsche inspirierter Text von W.D. Kaufmann.

Philognosie Team