Marcus Tullius Cicero: Biographie und philosophisches Werk

Marcus Tullius Cicero gilt als einer der vielseitigsten Männer der römischen Antike. Er wurde als römischer Politiker, Anwalt, Schriftsteller, Philosoph, Redner und Konsul bekannt. Lesen Sie hier eine kleine Einführung in seine Biografie und sein philosophisches Werk.

Marcus Tullius Cicero

Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) ist wegen seiner beinahe 1000 erhaltenen Briefe „die uns heute am besten bekannte Gestalt des ganzen Altertums“ (Kytzler 93). Er wurde suo anno (d.h. zum jeweils frühest möglichen Zeitpunkt) Anwalt, Qaestor, Aedil, Praetor und Consul, durchlief also fast die ganze Ämterlaufbahn – nur Censor wurde er nicht. „Als Politiker zweifellos gescheitert, wurde Cicero der Meister der lateinischen Rede, und als Philosoph wird er sogar heute noch oft unterschätzt“ (WA 129).

Marcus Tullius Cicero: Biographie und philosophisches Werk

1. Plutarchs Biographie über Cicero

„Cicero“ („Kichererbse“) ist lediglich ein Beiname, den Marcus Tullius bekam, weil er, „wie es scheint, an der Nasenspitze eine flache Einkerbung wie die Einziehung einer Erbse“ hatte (Kap. 1). Ein delphisches Orakel dämpfte seinen Eifer für die Politik, denn Pythia riet ihm, „er solle seine natürliche Anlage, nicht die Meinung der Menge, zum Leitstern seines Lebens machen“. Da er als Anwalt in Prozessen viel spottete und Witze machte, galt er als boshaft (Kap. 5). Daß Cicero sich über Lob übermäßig freute und ruhmsüchtig war, „vereitelte oftmals viele vernünftige Überlegungen“ (Kap. 6). Sein ständiges Selbstlob machte ihn vielen widerwärtig (Kap. 24). Doch er lehrte die Römer, „daß das Recht unüberwindlich ist, wenn es auf die rechte Weise vorgetragen wird“ (Kap. 13) und wurde mit dem Ehrentitel „Vater des Vaterlandes“ ausgezeichnet (Kap. 23).

Ciceros Frau Terentia brachte eine Mitgift von 120000 Denaren (entsprechen dem Silbergewicht nach den Schweizer Franken vor 1914, waren tatsächlich aber viel mehr wert) mit in die Ehe (Kap. 8). Sie war ehrgeizig und kümmerte sich, „wie Cicero selbst sagt, […] mehr um seine politischen Sorgen […], als sie ihn an den häuslichen Sorgen Anteil nehmen ließ“ (Kap. 20). Er ließ sich von ihr scheiden, „weil sie sich während des Krieges gar nicht um ihn gekümmert hatte, so daß er ohne die erforderliche Ausrüstung und Geld abreisen mußte und auch, als er nach Italien zurückkehrte, keinerlei Freundlichkeit erfuhr.“ Plutarch nennt noch weitere Scheidungsgründe, doch Terentia bestritt alles, und Cicero rechtfertigte sie „dadurch, daß er nach kurzer Zeit ein junges Mädchen heiratete“, das sehr reich war (Kap. 41). Von seiner zweiten Frau ließ Cicero sich scheiden, weil er meinte, sie freue sich über den Tod seiner Tochter Tullia aus erster Ehe (Kap. 41).

Gegenüber seinen Freunden wollte Cicero als Philosoph gelten, nicht als Redner, „denn er habe sich die Philosophie zu seiner Lebensaufgabe gewählt und bediene sich der Redekunst nur als Werkzeug für seine politischen Zwecke.“ Plutarch kommentiert: „Aber die Ruhmbegier hat die Kraft, die Vernunft wie eine Tünche von der Seele wegzuwischen und durch den ständigen Verkehr mit der Masse die Staatsmänner auch mit deren Leidenschaften anzustecken, es sei denn, daß einer sehr auf der Hut ist und sich nur soweit mit der Außenwelt einläßt, daß er an den Geschäften selbst, nicht an den sich an ihnen entzündenden Leidenschaften teilnimmt“ (Kap. 32).

Cicero beteiligte sich nicht an der Verschwörung des Brutus gegen Caesar, obwohl er mit jenem befreundet war. Doch er trat für eine Amnestie von Caesars Mördern ein und brachte dadurch das Volk gegen sich auf (Kap. 42). Sicherheitshalber verließ er Rom, kehrte aber wieder zurück, als er erfuhr, man brauche ihn, um die Ordnung vollends wiederherzustellen. Vom Volk wurde er nun freudig begrüßt. Doch Marcus Antonius verübelte es Cicero, daß er aus Mißtrauen eine Einladung zu einer Senatssitzung ausschlug (Kap. 43).

Daß es ein Fehler war, sich mit dem jungen Octavian (dem späteren Kaiser Augustus) einzulassen (Kap. 44) und ihm zu helfen, Consul zu werden, merkte Cicero erst, als es zu spät war: Er hatte sich dadurch „selbst ins Verderben gestürzt und die Freiheit des Volkes verraten“. Denn Octavian ließ „Cicero fallen, versöhnte sich mit Antonius und Lepidus, vereinte seine Macht mit der ihrigen und teilte sich mit ihnen in das Reich wie in irgendeinen beliebigen Besitz.“ Zwei Tage lang kämpfte Octavian darum, daß Cicero nicht auf die Todesliste kam, auf der mehr als 200 Männer standen, doch dann gab er Antonius und Lepidus nach, die ihrerseits jeweils einen Verwandten opferten (Kap. 46).

Nach der Ermordung Ciceros beendete Antonius die Ächtungen. Octavian würdigte ihn als „‚Meister der Rede'“ und „‚Patriot'“ und „machte […] Ciceros Sohn zu seinem Amtsgenossen“ (Kap. 49).

2. Cicero bei Cassius Dio

Über Ciceros Machtpolitik: „Cicero seinerseits strebte die Führung des Staates an und suchte dem Volke wie den Optimaten zu beweisen, daß er jeder Partei, der er sich anschloß, das Übergewicht verschaffen könne. […] War er doch gewohnt, eine Doppelrolle zu spielen und bald die Sache der einen, bald die der anderen Partei zu unterstützen, um so von beiden Seiten her umworben zu werden. Kurz zuvor hatte er zum Beispiel erklärt, den Optimaten den Vorzug zu geben, und deshalb lieber Aedil als Volkstribun werden wollen, nun aber trat er auf die Seite des Pöbels“ (2/40).

Cicero Büste

Als Catilina Consul werden wollte, veranlaßte Cicero den Senat zu einem Beschluß, „die Strafen für Bestechung um zehn Jahre Verbannung zu erhöhen.“ Catilina schmiedete ein Mordkomplott, Cicero zeigte ihn an. „Seine Ausführungen erschienen jedoch nicht als glaubwürdig, und die Anschuldigungen erweckten den Verdacht, als würden sie aus persönlicher Feindschaft fälschlich gegen die Männer erhoben“ (2/76f).

Doch die Erregung des Volks schützte Cicero und ängstigte Catilina, so daß er sich zunächst zurückhielt. Nach der Wahl plante er einen Staatsstreich. Cicero ließ die Stadt bewachen. Danach „zeigte sich in der Stadt von Umsturz keine Spur mehr, so daß Cicero fälschlicherweise sogar der Verleumdung bezichtigt wurde; die Nachrichten aus Etrurien bestätigten jedoch die Richtigkeit der Beschuldigung und führten zur Anklage gegen Catilina wegen Gewalttat“ (2/79).

Catilina spielte den Unschuldigen, plante aber heimlich, Cicero zu ermorden. „Auch dieser Anschlag wurde vorzeitig bekannt“ (2/79), da Cicero über zahlreiche Informanten verfügte. Der Senat beschloß daraufhin, daß Catilina die Stadt verlassen solle. Dieser führte nun offen Krieg, was zunächst Lentulus und seinen Leuten Verhaftung und Todesurteil einbrachte.

Während nun Caesar das Volk durch Gefälligkeiten und Schmeicheleien gewann, grollte es Cicero „wegen des Todes ihrer Bürger“. Als Cicero sich rechtfertigen wollte, „nötigten sie ihn zu schweigen und ließen ihn außer der Eidesformel kein Wort sagen“. Trotzdem erklärte Cicero, „er habe die Stadt gerettet“ und wurde dafür noch mehr gehaßt (2/84). Doch Antonius schlug den Aufstand Catilinas vollends nieder und tötete ihn.

Ciceros Reden gegen Catilina machten diesen berühmter, „als eigentlich seinen Taten entsprach.“ Andererseits wäre Cicero selbst „fast auf der Stelle wegen der Hinrichtung des Lentulus und der übrigen Verhafteten vor Gericht gekommen. […] Die Anklage wurde indessen nur formell gegen ihn erhoben, in Wirklichkeit galt sie aber dem Senat“, weil er „ohne Zustimmung des Volkes einen Bürger zum Tode“ verurteilt hatte. Doch der Senat beschloß nun Straflosigkeit für die Häscher Catilinas und „erklärte, daß im Falle jemand wiederum einen von ihnen gerichtlich zu belangen wage, er als persönlicher und öffentlicher Feind zu gelten habe“ (2/86f).

Als Cicero und Lucullus die Beseitigung von Caesar und Pompeius planten, wären sie fast selbst umgekommen, weil der von ihnen zur Tat angestiftete Lucius Vettius angezeigt wurde. In Haft sagte er gegen Cicero und Lucullus aus. Die zwei kamen noch einmal ungeschoren davon, weil Vettius noch „Bibulus als Mitverschwörer“ angab, „der doch Pompeius den Plan verraten hatte“. So geriet Vettius „in Verdacht, auch was die beiden anderen betraf, die Wahrheit zu verfälschen und nur durch ein Komplott (von der Gegenseite) vorgeschoben zu sein, um deren Widersacher zu verleumden.“ Vor dem Volk sagte Vettius nur noch gegen Cicero und Lucullus aus. Nun wurde er „ins Gefängnis gebracht und dort kurz darauf durch Meuchelmord aus dem Wege geräumt“ (2/110).

„Infolgedessen wurde nun Cicero sowohl Caesar als auch Pompeius verdächtig, und er bestärkte noch diesen Verdacht durch seine Verteidigung des Antonius“ (2/110), der „wegen seiner Teilnahme an der catilinarischen Verschwörung“ angezeigt, aber wegen seiner Untaten und Mißerfolge als Statthalter in Makedonien verurteilt wurde; „so ward ihm das Schicksal zuteil, nicht der ihm zur Last gelegten Vergehen für schuldig befunden zu werden, vielmehr dafür Strafe zu erleiden, was man ihm gar nicht vorwarf“ (2/111).

Caesar ignorierte Ciceros Beschimpfungen und tat so, „als handle es sich dabei nur um eine Art Lobsprüche“ (2/111f). Doch hintenherum intrigierte er gegen ihn, indem er den Clodius zum Volkstribunen machte, der nun Bibulus zum Schweigen brachte und Cicero angriff. Dies tat er nicht direkt, sondern indem er andere gegen ihn aufhetzte. „Cicero erweckte nämlich bei sehr vielen mit seinen Reden Anstoß, und jene, denen er seine Hilfe lieh, wurden nicht in dem Maße seine Freunde, wie die durch ihn Geschädigten sich ihm entfremdeten“ (2/113).

„Bitterste Feinde schuf sich außerdem noch Cicero, indem er sich stets bemühte, selbst den mächtigsten Männern über zu sein, und sich gegen alle gleichermaßen eine ungezügelte und schrankenlose Redefreiheit erlaubte; jagte er doch dem Ruhm nach, erfassen und aussprechen zu können, wozu keiner sonst in der Lage war, und das galt ihm mehr als der Ruf, für einen guten Bürger zu gelten. […] Infolgedessen und weil er der größte Prahler unter den Lebenden war und niemand als ebenbürtig gelten ließ, sondern gleichermaßen in seinen Worten wie in seinem Leben alle gering schätzte und nicht nach anderer Menschen Art leben wollte, war er lästig und unangenehm und wurde demgemäß sogar von eben den Leuten, denen er sonst zusagte, abgelehnt und gehaßt“ (2/113f).

Cicero wollte die Gesetzesinitiativen des Clodius durch den Volkstribunen Lucius Ninnius Quadratus verhindern, doch Clodius „überlistete ihn durch ein Täuschungsmanöver“: Er versprach Cicero, ihn nicht anzugreifen, wenn Lucius Ninnius stillhalte, doch brach sein Versprechen, nachdem seine Gesetze verabschiedet waren (2/115). Insbesondere verbot Clodius die Hinrichtung von Bürgern, die nicht vorher verurteilt worden waren. Cicero reagierte, indem er Verbündete suchte.

Caesar riet Cicero, Italien als Unterfeldherr zu verlassen, Pompeius dagegen riet ihm, „mit Freimut sich und den Senat zu verteidigen und damit sogleich Clodius zu trotzen.“ Cicero folgte dem Rat des Pompeius, ohne die Täuschungsabsicht der beiden Ratgeber zu durchschauen – „denn es lag in seinem Wesen, sich ohne Grund sicher zu wähnen, wie er sich andererseits auch ohne Grund fürchtete“ (2/117f). Als Cicero merkte, daß seine Feinde stärker waren, verließ er die Stadt doch noch, „widerwillig und von Schande und dem üblen Ruf begleitet, als habe er sich aus schlechtem Gewissen freiwillig in die Verbannung begeben“ (2/119).

Das Gesetz wurde verabschiedet, Ciceros Besitz beschlagnahmt, sein Haus abgerissen, er selbst verbannt. Er wollte eigentlich nach Sizilien, wo er Statthalter gewesen war, doch da die Verbannung auf mehr als 500 Meilen Entfernung von Rom lautete, ging er nach Makedonien. Dort warf ihm Philiskos vor, daß er über sein Schicksal jammerte, woraus sich ein philosophischer Disput entspann. Schließlich holte ihn Pompeius, der an seiner Verbannung „die Hauptschuld trug“, nach Rom zurück (2/132), weil er ihn gegen Clodius brauchte, der ihn im Auftrag des Pompeius verbannt hatte. Cassius Dio kommentiert: „Derart rasch wandelt sich manchmal das Menschenschicksal und erfahren Leute von denen, durch die sie Nutzen oder auch Schaden erwarten, ganz gegensätzliche Behandlung“ (2/160).

Cicero versöhnte sich mit Pompeius und machte ihn zum „Beauftragten für die Getreideversorgung“ und Proconsul (2/162). Gegenüber Caesar und Crassus blieb er reserviert, da er „wußte, daß ihr Tun nicht im Einklang mit ihrem Denken stand“. Außerdem dachte er, sie seien die Hauptverantwortlichen für seine Verbannung. Seinen Besitz bekam er zurück, auch Geld zum Wiederaufbau seines Hauses (2/163).

Clodius griff Cicero nicht nur verbal an, sondern wollte auch sein Haus wieder einreißen lassen, da er nach dessen Abriß das Grundstück der Göttin Libertas hatte weihen lassen. Cicero klagte und nahm die Stelen über seine Verbannung an sich. Clodius nahm sie ihm wieder ab, Cicero holte sie wieder zurück, sobald Clodius die Stadt verlassen hatte.

„Nach diesem Vorfall ließ keiner von beiden mehr Rücksicht walten, sondern sie beschimpften und verleumdeten einander nach Kräften, und kein Mittel war so schmählich, dessen sie sich nicht bedienten. […] Der eine bezeichnete das Tribunat des Clodius als ungesetzlich zustande gekommen und dessen Amtshandlungen während dieser Zeit als ungültig, indes der andere die Verbannung Ciceros als rechtmäßig verfügt und seine Rückberufung als gesetzwidrig beschlossen erklärte“ (2/169).

Cicero war dem Clodius überlegen, bis Marcus Cato ihn unterstützte; „er war nämlich auf Cicero schlecht zu sprechen und fürchtete zugleich, seine sämtlichen Maßnahmen auf Zypern möchten aufgehoben werden, da er ja unter dem Tribunat des Clodius entsandt worden war“ (2/169f).

Nach der Ermordung Caesars hielt Cicero eine lange Rede, in der er eine Amnestie für die Mörder durchsetzte. Er betonte, daß „‚ich niemals einem Menschen gegenüber eine freundliche oder feindliche Haltung aus rein persönlichen Gründen einnahm, sondern stets alle um euretwillen und wegen der allgemeinen Freiheit und Eintracht teils gehaßt, teils geliebt habe'“ (3/33).

Quintus Fufius Calenus machte Cicero heftige Vorwürfe: Er habe Rom „‚in Verwirrung und Bürgerkrieg gestürzt'“, „‚Catilina, der nur Wahlwerbung für ein Amt betrieb, […] vernichtet'“, den unschuldigen Lentulus & Co. „‚erbarmungslos umbringen lassen'“, aber Pompeius den „‚Prozeß gegen Milo'“ vorgehalten (3/116f).

Sein Geschichtswerk habe er von hinten nach vorne verfaßt (also mit seinem Consulat begonnen und mit der Gründung Roms geschlossen), er könne besser andern raten als der eignen Pflicht nachkommen und besser andere tadeln als sich selbst verbessern. Cicero hasse seine Wohltäter. Er sei ein Schmeichler und Ränkeschmied. Der Beweis: Er habe die Mörder Caesars überredet und bestochen. Er habe Antonius gescholten, der sich nichts zuschulden habe kommen lassen. Er unterstütze den jungen Octavian.

Kurz: „‚So gering achtet er das Recht, was die Gesetze, und die Zweckmäßigkeit, was das allgemeine Wohl angeht, er betreibt vielmehr einfach alles nur nach seinem Willen, und was er bei einigen in den Himmel erhebt, das rügt er bei anderen, wobei er Lügen gegen euch in die Welt setzt und euch dazu noch verleumdet'“ (3/119f).

Cassius Dio kommentiert: „Solch eine Rede aus dem Munde des Calenus konnte Cicero nicht hinnehmen; denn während er selbst leidenschaftlich und maßlos in seinen Worten stets allen gleichermaßen entgegentrat, konnte er es nicht über sich bringen, den anderen die gleiche Freiheit einzuräumen. Und so nahm er auch bei dieser Gelegenheit keine Rücksicht auf das allgemeine Wohl, sondern ließ sich zu Beschimpfungen seines Gegners hinreißen, so daß jener Tag nicht zuletzt deshalb vergeudet wurde“ (3/126).

Als einer von Octavians Soldaten sein Schwert holte und vor dem Senat damit drohte, sie würden dem Octavian das Consulat mit Waffengewalt geben, wenn er es nicht freiwillig zugesprochen bekomme, sagte Cicero: „‚Wenn ihr ihn auf solche Weise auffordert, wird er das Amt sich nehmen!'“ Kommentar von Cassius Dio: „Für Cicero bereitete dieser Vorfall den Weg in den Tod“ (3/141).

3. Philosophische Schriften

Gespräche in Tusculum enthält fünf Dialoge, die auf tatsächliche Gespräche auf Ciceros Landgut zurückgehen. Themen sind der Umgang mit Tod, Schmerz, Leid und Verwirrung sowie die Tugend als Glücksbasis.

Bemerkenswert ist die Anekdote, wie Dionysius seinem Schmeichler Damokles das Lebensgefühl eines Tyrannen vermittelte (5. Buch, Kap. 61f): Er legte ihn auf ein prächtiges Bett in einem luxuriösen Zimmer, ließ ihm von schönen Knaben erlesene Speisen auftragen usw. Doch über das Bett hängte er an einem Haar ein Schwert auf, so daß Damokles alles andere vergaß und gehen wollte …

Vom pflichtgemäßen Handeln istCiceros letztes und einflußreichstes philosophisches Werk. Themen sind das Gute und Nützliche sowie Situationen, in denen diese beiden Ideale einander widersprechen.

Einige Hinweise: Cicero räumt der Wahrheit und Authenzität einen hohen Stellenwert ein. Das Rechte wird erst dadurch gerecht, daß es freiwillig getan wird. Versprechen, die anderen nichts nützen oder aus Angst oder auf Täuschungsbasis gegeben wurden, braucht man nicht zu halten. Unter pflichtgemäßem Handeln versteht Cicero, daß man nichts unüberlegt oder nachlässig tun darf und daß man dafür „einen überzeugenden Grund angeben kann“ (1. Buch, Kap. 102). Daß Philosophen an Dingen zweifeln, die für Bauern selbstverständlich sind, hält Cicero übrigens für eine Schande.

Über das höchste Gut und das größte Übel. Thema sind die „ethischen Grundprinzipien der hellenistischen Philosophenschulen“ (Epikureer, Stoiker, Akademiker), die Cicero darstellt und kritisiert (Brigitte Mannsperger, in: KNLL 3/1011). Es ist Ciceros langweiligstes Buch.

In Laelius – Über die Freundschaft behandelt Cicero Wert, Nutzen, Wesen, Ursprung und Pflichten der Freundschaft (vgl. Richard Mellein, in: KNLL 3/1020). Ihr Wesen: „vollkommene Übereinstimmung in Entschlüssen, Neigungen und Meinungen“ (Kap. 15). Grundvoraussetzung der Freundschaft ist die Wahrheit.

Cato der Ältere über das Alter. Es werden vier Vorwürfe widerlegt: daß das Alter untätig, kraftlos und lustlos mache und Furcht vor dem Tod hervorrufe.

In Über das Wesen der Götter, dem Anführer der Caesarmörder Brutus gewidmet,vertrittCicero einen Mittelweg zwischen leichtfertiger Dogmatik und übertriebener Skepsis. Ansonsten stellt er die Positionen der Epikureer (durch Gaius Velleius im ersten Buch), Stoiker (durch Quintus Lucilius Balbus im zweiten Buch) und der Akademiker (durch Gaius Aurelius Cotta im dritten Buch) dar und kritisiert sie. Bemerkenswert ist die aristotelische Version von Platons Höhlengleichnis (2,95).

Den Standpunkt Epikurs charakterisiert Velleius so: Er „‚lehrt, die Macht und das Wesen der Götter sei so beschaffen, daß es […] nicht mit den Sinnen, sondern mit dem Geist erkannt wird, […] durch Bilder, die in ihrer Ähnlichkeit (bzw. Artgleichheit) und durch ihren Übergang wahrgenommen werden'“ (1,49). Die Götter genießen nach Epikur das Nichtstun und kümmern sich nicht um die Welt, die aus Atomen entstanden ist.

Die traditionelle Unterscheidung von Aberglauben und Religion gibt Balbus als Vertreter des stoischen Standpunkts so wieder: „‚Diejenigen nämlich, welche ganze Tage lang beteten und opferten, damit ihre Kinder am Leben blieben (superstites essent), wurden superstitiosi genannt, ein Begriff, dessen Bedeutung sich später ausweitete. Die hingegen, welche alles, was zur Götterverehrung gehörte, sorgfältig bedachten und gewissermaßen immer wieder durchgingen (relegerent), wurden, von relegere abgeleitet, als religiös bezeichnet, so wie sich elegantes [feine Leute] von eligere [auswählen], diligentes [gewissenhafte Leute] von diligere [hochachten] und intellegentes [sachverständige Leute] von intellegere [begreifen, einsehen] herleitet. In all diesen Wörtern steckt nämlich dieselbe Bedeutung von legere (‚lesen, auswählen‘) wie in religiosus. So erhielt der Begriff superstitiosus (‚abergläubisch‘) einen negativen, der Begriff religiosus (‚fromm‘) jedoch einen positiven Sinn'“ (2,72).

Dem Wirrwarr der überlieferten Göttermythen steht der Platoniker Cotta kritisch gegenüber: Es gebe drei Jupiter, drei Dioskurengruppen mit verschiedenen Namen (wobei nicht einmal die Anzahl einheitlich ist: zwei Gruppen bestehen aus drei, eine Gruppe aus zwei Dioskuren, nämlich Kastor und Pollux), bei den Musen gebe es drei verschiedene Gruppen (eine mit vier, zwei mit neun Musen), es würden fünf verschiedene Sonnengötter unterschieden, vier Vulcans, fünf Mercurs, drei Aesculaps, vier Apolls, drei Dianas, fünf Dionysos, vier Venus (darunter Astarte), fünf Minervas (eine davon ist Apolls Mutter Latona) und drei Cupidos.

Sein Kommentar: „‚Diese und andere ähnliche Listen wurden aus der alten Mythologie Griechenlands zusammengestellt. Du siehst ein, daß man solches bekämpfen muß, damit die religiösen Überzeugungen nicht völlig durcheinander geraten'“ (3,60).

Cicero als Philosoph

Die etymologische Herleitung der Götternamen sei zum Teil mitleiderregend (wenn Cotta fremde Meinungen zitiert, muß ich leider dreifache Anführungsstriche setzen): „“Saturn heißt so, weil er sich an den Jahren sättigt (saturat), […] Minerva, weil sie mindert (minuit) oder droht (minatur), Venus, weil sie zu allem kommt (venit), Ceres, weil sie [das Getreide] trägt (gerendo).““ Doch bei andern, etwa Vulcan, gebe es Schwierigkeiten, auch wenn man noch sagen könne, „‚Neptun komme von nare (’schwimmen‘)'“. Da stimme wenigstens ein einziger Buchstabe (das n) überein, so daß man „‚dabei […] mehr ins Schwimmen'“ gerate „‚als Neptun selbst'“ (3,62).

Tatsächlich seien „‚die sogenannten Götter nur die Wesenszüge von Dingen […], nicht aber göttliche Gestalten. […] Jeglicher Irrwitz dieser Art sollte also aus der Philosophie verbannt werden, damit wir bei unserer Diskussion über die unsterblichen Götter nur Äußerungen machen, welche der unsterblichen Götter auch würdig sind'“ (3,63f). Das größte aller Übel sei die Dummheit. Sie sei schlimmer als Schicksalsschläge und Krankheiten (3,79).

Die Frage nach der göttlichen Vorsehung und der Einwirkung der Götter auf die Menschen beantwortet Cotta so: Daß die Götter nur einige Menschen vernünftig gemacht, also „’nur für eine Minderheit gesorgt'“ haben, kann nicht sein; „‚demzufolge haben sie für niemanden gesorgt.'“ Doch es ist noch schlimmer: „‚Viele haben nämlich, obwohl sie schaden wollten, Nutzen gebracht und andererseits, als sie nutzen wollten, Schaden gestiftet'“ (3,70). Was ist mit den angeblichen Schandtaten der Götter, nämlich „‚Listen, Betrügereien und Täuschungsmanövern?'“ (3,73) Oder haben die Götter den Menschen nicht nur den Verstand, sondern „‚auch die Bosheit gegeben'“? (3,75) Oder sollten sie sich nur geirrt haben?

Cottas Fazit ist gut platonisch (vgl. Politeia 377d): „‚Das sind Erzählungen von Dichtern, wir dagegen wollen Philosophen sein und Fakten liefern, keine Phantasien'“ (3,77). Und Tatsache sei doch (nach Ennius, Telamo 318): Wenn die Götter für die Menschen sorgen würden, „“ginge es den Guten gut, den / Schlechten schlecht; was nun nicht zutrifft““ (3,79): „‚Ein Tag würde nicht ausreichen, wollte ich die Guten aufzählen, denen es schlecht erging, und desgleichen, wollte ich die Schlechten nennen, die hervorragend lebten'“ (3,81). Kurz: Kranke werden „‚eher'“ von Ärzten als von dem Gott Aesculap geheilt (3,91).

In Vom Gemeinwesen fragt Cicero nach der besten Staatsform (seine Antwort: eine Mischung aus Monarchie/Liebe, Aristokratie/Einsicht und Demokratie/Freiheit), dem Wesen und der Umsetzung der Gerechtigkeit (deren Mutter die Schwäche sei) und dem besten Politiker. Es ist nur etwa der vierte Teil des Werks erhalten.

Über die Gesetze. Dieses Werk ist unvollendet und nur fragmentarisch überliefert. Thema: Welche Gesetze muß ein idealer Staat haben?

Den Inhalt der sechs Stoischen Paradoxien erfährt man anhand der Überschriften:

  • Nur das Sittliche ist ein Gut“ (S. 203),
  • Niemandem, der die Tugend besitzt, fehlt etwas zum glücklichen Leben“ (S. 211),
  • Verfehlungen sind ebenso einander gleich wie gute Taten“ (S. 215),
  • Jeder Dummkopf ist wahnsinnig“ (S. 221),
  • Nur der Weise ist frei, und jeder Dummkopf ist ein Sklave“ (S. 227),
  • Nur der Weise ist reich“ (S. 237).

In Über den Redner behandelt Cicero das Verhältnis von Rhetorik und Philosophie.

© Gunthard Rudolf Heller, 2015

Literaturverzeichnis

CASSIUS DIO: Römische Geschichte, übersetzt von Otto Veh, 5 Bände, Berlin 22012

CICERO: Gespräche in Tusculum, Übersetzung, Kommentar und Nachwort von Olof Gigon, Stuttgart 1985

  • De officiis – Vom pflichtgemäßen Handeln, Lateinisch / Deutsch, übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Heinz Gunermann, Stuttgart 1999
  • De finis bonorum et malorum – Über das höchste Gut und das größte Übel, Lateinisch / Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin, Stuttgart 1996
  • Laelius – Über die Freundschaft, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Robert Feger, Stuttgart 2004
  • Cato maior de senectute – Cato der Ältere über das Alter, mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen herausgegeben von Max Faltner, München 1982
  • De natura deorum – Über das Wesen der Götter, Lateinisch / Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 1995
  • De re publica – Vom Gemeinwesen, Lateinisch / Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 1979
  • De legibus / Paradoxa stoicorum – Über die Gesetze / Stoische Paradoxien, Lateinisch und deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von Rainer Nickel, München/Zürich 1994
  • De oratore – Über den Redner, Lateinisch / Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Harald Merklin, Stuttgart 31997
  • Epistularum ad Familiares Libri XVI – An seine Freunde, Lateinisch – deutsch ed. Helmut Kasten, München 1964
  • Vier Reden gegen Catilina, Lateinisch / Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Dietrich Klose, mit einem Nachwort von Karl Büchner, Stuttgart 1979

ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, hg. v. Jürgen Mittelstraß, 4 Bände, Stuttgart/Weimar 2004

FUHRMANN, Manfred: Cicero und die römische Republik – Eine Biographie, Düsseldorf 2005

GIEBEL, Marion: Marcus Tullius Cicero mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, Reinbek bei Hamburg 121999

KINDLERS NEUES LITERATURLEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996 (KNLL)

DER KLEINE PAULY – Lexikon der Antike in fünf Bänden, hg. v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer, München 1978

KYTZLER, Bernhard: Lexikon der griechischen und römischen Autoren, Stuttgart 1997

KYTZLER, Bernhard/LATACZ, Joachim/SALLMANN, Klaus: Kleine Enzyklopädie der antiken Autoren – Literarische Porträts von Homer bis Boethius, Frankfurt am Main/Leipzig 1996

MENGE-GÜTHLING: Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch-Deutsch, Berlin/München/Wien/Zürich/New York 241992

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81

PLATON: Phaidon – Politeia, Sämtliche Werke Band 3, Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Hamburg 1984

PLUTARCH: Fünf Doppelbiographien – 2. Teil: Gaius Marcius und Alkibiades, Demosthenes und Cicero, Griechisch und deutsch, übersetzt von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, Zürich/München 1994

WÖRTERBUCH DER ANTIKE mit Berücksichtigung ihres Fortwirkens, in Verbindung mit E. Bux und W. Schöne begründet von Hans Lamer, fortgeführt von Paul Kroh, Stuttgart 81976 (WA)

(Abkürzungen in Zitaten aus Lexika schreibe ich in der Regel aus.)

Gunthard Heller