Machiavelli als Demokrat – eine Einführung

Machiavelli wird oft als rücksichtsloser Machtpolitiker beschrieben, der seinen Willen mit allen Mitteln durchsetzte. Demzufolge wird der Begriff „Machiavellismus“ als abwertende Bezeichnung für fehlgeleitetes politisches Verhalten gebraucht – egozentrische Politik ohne Moral und Sittlichkeit. Doch wird ihm diese Beschreibung wirklich gerecht?

Wenn Sie sich nicht nur von Urteilen anderer leiten lassen wollen, müssen Sie selbst einen Einblick in das Leben und Werk von Machiavelli nehmen.

Machiavelli Einführung in seine PhilosophieDamit Sie nicht das komplette Werk studieren müssen, finden Sie in dem folgenden Artikel eine Reihe von wichtigen Thesen und Zusammenhängen seines Werks.

Machen Sie sich selbst ein Bild zu diesem bedeutenden Staatsphilosophen der Neuzeit.

Es erwarten Sie Aufsätze, die wie folgt unterteilt sind:

  • Machiavelli und Il Principe
  • Discorsi
  • Der Index librorum prohibitorum – „Verzeichnis verbotener Bücher“
  • Komödien
  • Istorie fiorentine – Machiavellis Hauptwerk
  • Literaturverzeichnis

In diesem Aufsatz wird nicht das gesamte Werk von Machiavelli dargestellt, sondern nur einige wichtige Auszüge. Dabei soll das Vorurteil ausgeräumt werden, dass Machiavelli ein „Machiavellist“ gewesen sein soll.

Machiavelli und Il Principe

„Seine politische Objektivität ist allerdings bisweilen entsetzlich in ihrer Aufrichtigkeit, aber sie ist entstanden in einer Zeit der äußersten Not und Gefahr, da die Menschen ohnehin nicht mehr leicht an das Recht glauben noch die Billigkeit voraussetzen konnten“ (Jacob Burckardt 51).

Il Principe

Obwohl Machiavelli (1469-1527) Il Principe („Der Fürst“, entstanden 1513/14) geschrieben hat, ist sein schlechter Ruf deswegen nicht berechtigt. Um es kurz zu machen: In Il Principe hat Machiavelli die Politik von Cesare Borgia (1475-1507) dargestellt, mit dem er als Diplomat seiner republikanischen Heimatstadt Florenz einige Monate lang zu tun hatte. Zu seinen Lebzeiten erschien nur eine lateinische Übersetzung (1522). Erst fünf Jahre nach Machiavellis Tod (1532) wurde das Büchlein auf Italienisch gedruckt. Schließlich wurde es zur „Grundlage und zum Typus einer ganzen Schule des Staatsrechts, des Machiavellismus
(„Der Fürst“, Klappentext, S. 2).

In Meyers enzyklopädischem Lexikon werden gleich drei verschiedene Bedeutungen von Machiavellismus aufgelistet:

1. „zusammenfassende Bezeichnung für die politischen Theorien Niccolò Machiavellis“;
2. „von den Gegnern Machiavellis in einer Vielzahl von antimachiavellistischen Schriften verbreitete abwertende Bezeichnung für eine über alle sittlichen Rücksichten sich hinwegsetzende skrupellose Interessenpolitik“;
3. „allgemeine Bezeichnung für eine durch keinerlei moralische Bedenken gehemmte Machtpolitik“ (die Abkürzungen habe ich ausgeschrieben).

Wie sehr Spinoza im Gegensatz zu vielen anderen Machiavelli verstanden hat, zeigt der § 7 von Kapitel V aus seinem ab 1675 entstandenen, leider unvollendeten „Politischen Traktat“:

„Welche Mittel ein nur von Machtgier getriebener Fürst anwenden muß, um seine Herrschaft zu festigen und zu bewahren, hat der höchst
scharfsinnige Machiavelli ausführlich beschrieben. Es ist nicht ganz klar, welchen Zweck er damit verfolgte; war es ein guter, wie man bei einem weisen Manne annehmen muß, dann wollte er zeigen, wie töricht es ist, einen Tyrannen beseitigen zu wollen, ohne doch die Ursachen beseitigen zu können, die einen Fürsten
zum Tyrannen werden lassen. Vielmehr kommen diese Ursachen um so stärker zur Geltung, je mehr ein Fürst Anlaß zur Furcht hat. Und das ist der Fall, wenn das Volk an einem Fürsten ein Exempel statuiert hat und dann noch den Mord an ihm als Heldentat preist. Vielleicht wollte Machiavelli weiterhin zeigen, daß ein
freies Volk sehr darauf bedacht sein muß, sein Schicksal nicht ganz und gar einem einzigen anzuvertrauen, der, falls er nicht eitel ist und allen gefallen zu können glaubt, täglich mit einem Attentat rechnet und sich daher gezwungen sieht, mehr für seine Sicherheit zu sorgen und seinerseits das Volk zu disziplinieren,
statt für es zu sorgen. Ich neige daher sehr dazu, diesem wirklich klugen Manne Glauben zu schenken, weil er bekanntlich für die Freiheit eingetreten ist und zu ihrer Erhaltung erfolgversprechende Ratschläge erteilt hat“ (S. 38).

Discorsi

Auch das zweite, leider nicht so bekannte Werk von Machiavelli, die Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio („Erörterungen über die erste Dekade von Titus Livius“, entstanden 1513-1522) erschien erst nach seinem Tod, im Jahr 1531. Hier beschreibt Machiavelli seinen Landsleuten die Politik der antiken römischen Republik als Vorbild. Im Mittelpunkt steht die virtù, lat. virtus (Mannhaftigkeit, Tatkraft, Tapferkeit, Mut, Standhaftigkeit, Entschlossenheit, Tüchtigkeit, Tugend).

Im 26. Kapitel der Discorsi wird die Politik eines Fürsten kritisiert, der um des Machterhalts willen Städte zerstört, Menschen umsiedelt und
von sich abhängig macht: „Das sind grausame Mittel! Sie widersprechen nicht nur dem christlichen, sondern jedem menschlichen Gefühl. Jeder Mensch sollte sie fliehen und lieber im Bürgerstand bleiben, als zum Verderben so vieler Menschen die Krone tragen“ (S. 88f).

1559 wurden beide Werke, Il Principe und die Discorsi, „gemeinsam auf den kirchlichen Index gefährlicher Bücher gesetzt“ (Henningsen 806). Während das beim Principe ohne Weiteres verständlich ist, ist es bei den Discorsi aus Machiavellis Religions- und Kirchenkritik heraus zu erklären:
Der Autor stellt im 11. Kapitel fest, „wie sehr die Religion zum Gehorsam im Heere, zur Eintracht im Volke, zur Erhaltung der Sittlichkeit und zur Beschämung der Bösen beitrug. […] Denn wo Religion ist, läßt sich leicht eine Kriegsmacht aufrichten, wo aber Kriegsmacht ohne Religion ist, läßt sich diese nur schwer einführen“ (S. 53).

Damit es keine Missverständnisse gibt: Diese Sätze sind nicht pazifistisch zu verstehen. Machiavelli beurteilt hier die Religion positiv („Kritik“ kommt von griech. krinein = scheiden, sichten, sondern, unterscheiden, auswählen, bestimmen, urteilen, beurteilen, richten, zur Rede stellen, anklagen,
verhören).

„In der Tat gab es nie einen außerordentlichen Gesetzgeber bei einem Volke, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst gar
nicht angenommen worden wären“, heißt es im selben Kapitel. Und: „Wie aber die Gottesfurcht die Ursache für die Größe der Staaten ist, so ist ihr Schwinden die Ursache ihres Verfalls“ (S. 54).

Das 12. Kapitel dagegen fordert die Kirche schon in der Überschrift heraus: „Wie wichtig es ist, die Religion zu erhalten, und wie Italien durch die
Schuld der römischen Kirche die seine verlor und dadurch in Verfall geriet“ (S. 56). „Nichts zeigt mehr den Verfall des Glaubens als die Tatsache, daß die Völker am wenigsten Religion haben, die der römischen Kirche, dem Haupt unsres Glaubens, am nächsten sind“ (S. 57). Anschließend
geht Machiavelli konkret auf die Zustände in Italien ein:

„Erstens hat das Land durch das schlimme Beispiel des päpstlichen Hofes alle Frömmigkeit und Religion verloren, was zahllose Mißstände
und endlose Wirren zur Folge hat. […] Wir Italiener haben es also in erster Linie der Kirche und den Priestern zu danken, daß wir gottlos und schlecht geworden sind. Wir haben ihr aber noch etwas Schlimmeres zu danken, was die Ursache unsres Verfalls ist: ich meine, daß die Kirche unser Land in Zersplitterung erhalten hat
und noch hält. […] Da also die Kirche nicht imstande war, Italien zu erobern, aber auch nicht erlaubte, daß es von einem andern erobert wurde, hat sie es verschuldet, daß es nicht unter ein Oberhaupt kam, sondern unter vielen Fürsten und Herren blieb. Dadurch entstand solche Uneinigkeit und Schwäche, daß
Italien nicht nur zur Beute mächtiger Barbaren, sondern eines jeden wurde, der es angriff. Das danken wir Italiener der Kirche und niemand anderem“ (S. 57ff).

In England und Amerika wurden den Discorsi, im kontinentalen Europa wurde Il Principe mehr Beachtung geschenkt.

Der Index librorum prohibitorum

Das „Verzeichnis verbotener Bücher“ wurde 1559 von Papst Paul IV. „zum erstenmal förmlich, dann grundlegend nach dem Tridentinum 1564 erlassen. […] Durch die Erlasse der Glaubenskongretation vom 14. 6. und 15. 11. 1966 wurden mit Wirkung vom 29. März 1967 der Index, das gesetzliche Bücherverbot und die Strafgesetze außer Kraft gesetzt“ (Meyers enzyklopädisches Lexikon).

Peter Godman behandelt in seinem Buch über den Index Machiavelli ziemlich ausführlich. Im Index von 1559 waren alle Werke von Machiavelli aufgeführt. Um das Verbot etwas zu lockern, gingen die kirchlichen Würdenträger auch dazu über, anstößige Stellen aus den verbotenen Büchern zu entfernen, sodass sie wieder verbreitet werden konnten.

Auch Michel de Montaigne (1533-1592) geriet wegen seiner Essais in die Klauen der Indexkongretation. Einer der Punkte, die beanstandet wurden, war, dass er sich positiv über Machiavelli bzw. die Discorsi aussprach (Godman 156f).

Dasselbe Schicksal hatte Rousseau mit seinem „Gesellschaftsvertrag“. Ambrosius von Mailand (gestorben 1802) führte u.a. dagegen an, dass Rousseau den Machiavelli lobe, „‚diesen so schändlichen Menschen'“ (zit. n. Godman 268), weil er die Auffassung bestätige, daß Gesetzgeber die Autorität der Götter dazu benutzten, um ihren Gesetzen Überzeugungskraft zu verleihen. Für Ambrosius war eine solche Äußerung eines der „‚gottlosen und lästerlichen Dinge, die in diesem ersten Werk, dem Gesellschaftsvertrag, enthalten sind'“ (ebd. 270).

Komödien

Dass Machiavelli auch Komödien geschrieben hat, ist leider kaum bekannt. Angesichts des Leids und des Trugs, von dem er umgeben ist, erzählt Machiavelli in Mandragola eine Begebenheit, die sich in Florenz zugetragen hat. Denn etwas anderes fällt ihm nicht ein, um seine Tugend zu zeigen. Da er für seine Mühen sonst keinen Lohn bekommt, will er die Zuschauer wenigstens zum Kritisieren bringen. Denn die Tugend gilt nichts mehr, nur der Tadel ist noch etwas wert. Wer Machiavelli allerdings damit zu nahe tritt, kann etwas erleben. Denn er glaubt, dass ihm keiner das Wasser reichen kann. Soweit die erste Kanzone und der Prolog.

Die Handlung: Callimaco will die Frau von Nicia Calfucci verführen. Sie heißt Lucrezia. Ihr reicher Mann ist ein Pantoffelheld. Dumm ist er obendrein. Seit sechs Jahren sind die beiden verheiratet und haben immer noch kein Kind. Lucrezias Mutter kann „leben und leben […] lassen“ (S. 13). Den mit Nicia befreundeten Lugurio hat Callimaco bestochen. Er soll Nicia überreden, mit seiner Frau einen Kurort zu besuchen. Vielleicht kommt Lucrezia ja dadurch zu einem Kind. Doch eigentlich will Nicia nicht, und so rät Ligurio dem Callimaco, selber den Arzt zu spielen, der nicht nur eine Kur, sondern auch noch einen Trank aus Mandragola (wohl eine Verballhornung der Gattung der Nachtschattengewächse Mandragora) verschreibt. Da der Trank giftig ist, muss ein junger Bursche zuerst mit der Frau schlafen, um das Gift an sich zu ziehen, an dem er eventuell sterben kann. Lucrezia soll durch ihre Mutter und ihren Beichtvater zu der Aktion überredet werden.

Den Rest kann man sich vorstellen: Der Beichtvater wird geschickt bestochen, der junge Bursche ist der getarnte Callimaco, es verläuft alles nach Plan. Callimaco wird sogar noch zu Nicias Hausfreund, sodass es nicht bei der ersten Nacht mit dessen Frau bleibt.

W. Somerset Maugham benutzt in seinem Machiavelli-Roman Then and Now die Komödie als Stofflieferant: Die Rolle des Callimaco wird Machiavelli zugedacht, aus Lucrezia wird Aurelia, die junge Frau des Ratsherrn Bartolomeo Martelli in Imola. Bartolomeo steht in den Diensten des Fürsten Cesare Borgia, dem die Politik aus
Machiavellis Il Principe in den Mund gelegt wird. Machiavelli weilt als Diplomat der Signoria (des Stadtrats) von Florenz an seinem Hof, wie es den historischen
Tatsachen entspricht. Er vertritt die Interessen der Republik gegenüber dem rein machtorientierten Borgia. Im Gegensatz zur Komödie gelingt es Machiavelli nicht, mit Aurelia zu schlafen. Denn Borgia, der über alles informiert ist, bestellt ihn just zum Termin des Rendezvous‘ zu sich. In der Zwischenzeit sorgt sein junger Begleiter Piero dafür, dass Aurelia zu einem Sohn kommt. Nach Bartolomeos Tod heiratet er sie. Machiavelli widersteht dem verlockenden Angebot von Borgia, ihn zum Statthalter von Imola zu machen. Da sich das Angebot herumsprechen wird, hat Machiavelli von den Florentinern, die er bei Borgia vertritt, nichts mehr zu erhoffen …

Mandragola ist ein Plädoyer für die freie Liebe und die Demokratie. Kritisiert werden die Schulmedizin, die Geld- und Machtgier der Gesellschaft (Titelsucht, Abtreibungsthematik), die Kirche (wegen Geldgier, Unmoral, Rabulistik und mangelnder Individualität der Kleriker) und der König von Frankreich, der zum Hahnrei gemacht wird. Dass Machiavelli in der Mandragola den Ehebruch verteidigt, war Grund genug, die Komödie auf den Index zu setzen.

Auch die Komödie Clizia handelt von der Liebe, doch diesmal wird es als am wichtigsten hingestellt, dass man in den Himmel kommt. Vater und Sohn
streiten um die Ehe mit der Pflegetochter Clizia. Der 70-jährige Vater Nicomaco will sie mit dem Bediensteten Pirro verheiraten, um dadurch ungestört Zugang zu ihrem Bett zu bekommen. Nicomacos Sohn Cleandro hat alle Hoffnung fahren lassen und schließt sich deshalb seiner Mutter Sofronia an, die Clizia zuerst mit dem
Verwalter Eustachio verheiraten will, dann aber Clizias Unterbringung im Kloster favorisiert, bis ihre Herkunft geklärt ist. Der Austausch von Drohungen (Sofronia droht mit Klatsch, Nicomaco droht mit Verstoßung und Enterbung) führt dazu, dass sich beide Parteien auf das Loseziehen einigen. Da Nicomaco gewinnt,
schiebt Sofronia ihm in der Brautnacht den kräftigen Burschen Siro unter, der Nicomacos Zudringlichkeiten mit Fußtritten gekonnt abweist. Als Clizias Vater auftaucht, steht der Ehe mit Cleandro nichts mehr im Weg.

Clizia geht auf tatsächliche Begebenheiten zurück: Der 60-jährige Machiavelli verliebte sich in Barbara, eine Sängerin, die im Haus seines Gastfreundes Fornaciaio ein- und ausging. Der Name „Nicomaco“ verweist auf Niccolò Machiavelli.

Andria ist eine Übersetzung der gleichnamigen Komödie des Terenz.

Istorie fiorentine

Machiavellis Hauptwerk, „Die Geschichte von Florenz“, „‚wurde in den Jahren 1521 bis 1525 im Auftrage der Stadt verfasst und reicht von der Gründung bis zum Tode Lorenzos des Prächtigen'“ (Fritz Schillmann, zit. in der Vorbemerkung von Ludwig Goldscheider, S. 5).

Die Auswahl der Stellen, die der Dominikaner Paolo Constabili (1520-1582) im Auftrag der Indexkongregation strich oder abänderte (abgedruckt in Godman 117-122), wirkt auf uns heute ziemlich willkürlich. Warum darf man nicht lesen, dass große Taten zur Ehre gereichen? Dass Unordnung im Krieg schadet? Dass Fürsten ihre Versprechen nur einhalten, wenn es ihnen notwendig erscheint oder wenn sie durch Gewalt dazu gezwungen werden? Verständlich ist die Streichung von Passagen, in denen Päpste kritisiert werden, in denen steht, dass die Italiener ihre Kriege und Einwanderer meist den Päpsten verdanken.

Die unzähligen Streitigkeiten und Kriege zusammenzufassen, über die Machiavelli berichtet, ist wegen seiner sachlichen, knappen Ausdrucksweise unmöglich. Doch ich kann ein Beispiel bringen:

„Nie war unsere Stadt in einem glücklichern und bessern Zustande als damals. […] Das Übel aber, das von außen nicht kommen konnte, fügte heimischer Zwist ihr zu.

Es gab in Florenz (1300) zwei Familien, die Cerchi und Donati […]. Zwischen ihnen, welche durch Landbesitz Nachbarn waren, hatte einige Mißhelligkeit stattgefunden, nicht indes von der Art, daß es zu offenem Kampfe gekommen wäre. […] Zu den ersten Geschlechtern Pistojas gehörte das der Cancellieri. Es traf sich einmal, daß Lore, der Sohn des Messer Guglielmo, und Geri, der Sohn des Messer Bertaccio, alle aus dieser Familie, miteinander spielten und, da sie in Wortwechsel gerieten, Geri von Lore leicht verwundet wurde. Dies mißfiel dem Messer Guglielmo, und indem er durch Freundlichkeit dem Übel ein Ende zu machen suchte,
mehrte er es: denn er befahl seinem Sohne, nach der Wohnung des Vaters des Verletzten zu gehen und ihn um Entschuldigung zu bitten. Lore gehorchte, aber dieser Beweis von Versöhnlichkeit milderte den wütenden Groll Messer Bertaccios nicht: er ließ Lore durch seine Dienstleute greifen, die Hand ihm zu größerem
Schimpf auf einem Troge abhauen, und sandte ihn heim mit den Worten: Sag‘ deinem Vater, Wunden heile man mit Eisen, nicht mit Reden. Die Grausamkeit dieser Tat erregte in solchem Grade Guglielmos Unwillen, daß er die Seinen bewaffnete, um Rache zu üben. Auch Messer Bertaccio rüstete sich zur Verteidigung, so daß
nicht diese Familie allein, sondern ganz Pistoja in Parteien zerfiel. Und da die Cancellieri von Messer Cancelliere abstammten, welcher zwei Frauen gehabt, von denen eine Bianca hieß, so nannte sich die eine Partei nach dieser die Weiße, während man die andere, in entgegengesetzter Bezeichnung, die Schwarze hieß.
Viele Händel fielen zwischen diesen vor, viele Menschen verloren ihr Leben, viele Häuser wurden zerstört. Da sie miteinander sich nicht zu einigen vermochten und, doch des Unheils müde, entweder ihrer Feindschaft ein Ende zu machen, oder durch Hineinziehung anderer sie ins Große zu treiben wünschten, so kamen sie nach Florenz. Die Schwarzen, mit den Donati bekannt, fanden Aufnahme bei Messer Corso, dem Haupte dieser Familie, weshalb die Weißen, um gegen diese einen kräftigen Schutz zu haben, an Messer Vieri de‘ Cerchi sich wandten, einen Mann, der Messer Corso in keiner Beziehung nachstand.

Dieser von Pistoja gekommene Unfriede mehrte den alten Haß zwischen den Cerchi und Donati, und dieser ward so offenbar, daß die Prioren und übrigen guten Bürger fürchteten, sie würden jeden Augenblick aneinandergeraten und die Stadt in neue Verwirrung stürzen. […] Dies war der Anfang eines neuen
Streites, der Adel wie Volk veruneinigte, und wobei die Parteien die Namen der Weißen und Schwarzen annahmen“ (S. 85ff).

Auffällig ist, wie oft Machiavelli über die Freiheit schreibt (S. 75, 103f, 121, 138f, 142, 158, 186, 190, 213, 255). Ein paar Beispiele:

Graf Giordano „zog […] nach Florenz und unterwarf die Stadt völlig dem Könige, indem er die Magistrate und die ganze Verfassung abschaffte, deren Formen die Freiheit des Volkes bezeugten. Diese unkluge Neuerung erfüllte das Volk mit Erbitterung“ (S. 75).

Gualteri, Herzog von Athen, ließ dem „Bettone Cini, welcher die Gelderpressungen getadelt hatte, […] die Zunge mit solcher Grausamkeit ausschneiden, daß er daran starb (1343). Dies mehrte die allgemeine Erbitterung und Abneigung: denn eine Stadt, welche gewohnt war, in voller Freiheit alles zu tun und
über alles zu reden, konnte es nicht ertragen, daß man ihr die Hände band und den Mund verschloß“ (S. 121).

An einer anderen Stelle betonte Machiavelli eigens die Wichtigkeit offener Diskussionen, die durch ideologische Gruppenbindungen verhindert werden:

„Wahr ist es, daß manche Meinungsverschiedenheiten dem Gemeinwesen schaden, andere ihm nutzen. Jene schaden, welche Sekten und Parteiwesen hervorrufen; solche nutzen, die sich davon frei erhalten. Da nun der Stifter einer Republik nicht hindern kann, daß Feindschaften in ihr entstehen, so sollte er wenigstens von
vornherein Sekten entgegenzuarbeiten suchen“ (S. 366f).

Wieder zurück zur Freiheit: „Für einen Freistaat läßt sich überhaupt kein schädlicheres Gesetz aufstellen, als eines, welches weit hinter
uns liegende Zeiten oder Verhältnisse zur Norm nimmt“ (S. 138f).

„An welchem größern Übel aber kann der Leib eines Freistaates kranken als an der Knechtschaft? Welche Arznei ist nötiger als jene, durch deren Anwendung er genesen kann? Nur notwendige Kriege sind gerecht; nur jene Waffen sind fromme Waffen, deren Anwendung die einzige Aussicht bietet“ (S. 255).

Damit sind wir beim nächsten Thema: dem Krieg. Auch die folgenden drei Stellen kann man im Gegensatz zu der oben zitierten Passage aus den Discorsi ohne Weiteres pazifistisch interpretieren: „Der Beginn der Kriege läßt sich nach Wunsch bestimmen, nicht aber ihr Ende“ (S. 147). „Sich selbst bereichern, den Feind zugrunde richten, war stets der Zweck derer, welche einen Krieg beginnen, und daß es so ist, liegt in der Natur der Dinge“ (S. 307). Die „meisten Kriege, an denen teilzunehmen die Florentiner sich genötigt sahen“, sind „durch das Verhalten anderer Völker und Fürsten entstanden“ (S. 367).

Machiavellis Staatstheorie liegt ein zyklisches Weltbild zugrunde:

„In ihrem Kreislauf pflegen die meisten Staaten von Ordnung zu Unordnung überzugehn, um dann von der Unordnung zur Ordnung zurückzukehren. Denn da die Natur den menschlichen Dingen keinen Stillstand gestattet, so müssen sie notwendig abwärts steigen, nachdem sie den Gipfel der Vollkommenheit erreicht haben, wo sie nicht ferner aufwärts zu steigen vermögen. Sind sie nun herabgestiegen und durch Zerrüttung aufs tiefste gesunken, so müssen sie, da ferneres Sinken unmöglich, notwendig wieder aufwärts steigen. So in stetem Wechsel geht es abwärts zum Bösen, aufwärts zum Guten. Denn Kraft zeugt Ruhe, Ruhe Trägheit, Trägheit Unordnung, Unordnung Zerrüttung, wie hinwieder aus der Zerrüttung Ordnung entsteht, aus der Ordnung Kraft, aus der Kraft Ruhm und Glück. Darum haben
verständige Männer beobachtet, daß die Wissenschaften der kriegerischen Tapferkeit folgen, und in Staaten und Städten erst Feldherren auftreten, dann Philosophen. Denn wenn gut und tapfer geführte Waffen Sieg gebracht haben, der Sieg Ruhe, so kann der kriegerische Mut durch keine ehrenvollere Friedenskunst geschwächt werden, als durch die Wissenschaften, noch kann die Entwöhnung vom Kriege mit größerer und gefahrvollerer Täuschung bewirkt werden, als durch diese“ (S. 241).

Dass Machiavellis Warnung vor der „Entwöhnung vom Kriege“ von der Sorge getragen ist, die Heimatstadt nicht mehr schützen zu können, versteht sich von selbst.

Machiavellis tiefe Religiosität zeigt folgende Passage über einen Orkan:

„Um aber zu den italienischen Angelegenheiten zurückzukehren, so war es das Jahr 1456, in welchem die Piccinischen Händel endigten. Nachdem nun
die Menschen die Waffen niedergelegt, schien Gott selbst sie in die Hand nehmen zu wollen. Denn es ereignete sich ein furchtbarer Orkan, der in Toscana Unheil anrichtete, das der Nachwelt kaum glaublich vorkommen wird, wie es in der Vergangenheit nie erhört worden war. […] Der Schrecken war so groß, daß jeder
vermeinte, das Weltende sei gekommen, und Erde, Meer und Himmel und die übrige Welt kehrten in das alte Chaos zurück. […] Ohne Zweifel wollte Gott Toscana eher bedrohen als strafen. Denn wäre ein solches Unwetter über eine Stadt hereingezogen, mit eng aneinander gedrängten Wohnungen und vielen Menschen, statt daß es über Bäume und vereinzelte Häuser hereinbrach: so wäre zweifelsohne ein Unheil entstanden, wie man es sich kaum vorzustellen vermag. Aber Gott wollte damals dies kleine Beispiel geben, um die Erinnerung an seine Macht bei den Menschen wieder aufzufrischen“ (S. 357).

Zum Schluss noch ein Beispiel für die entsetzliche Aufrichtigkeit der politischen Objektivität Machiavellis (vgl. das diesem
Aufsatz vorangestellte Motto von Jacob Burckardt):

Als 1466 Roberto Lioni „zur obersten Würde“ gelangte (S. 390), wurden alle, die aus der Stadt flohen, „für Rebellen erklärt und die ganze
Familie der Neroni zerstreut. Der damalige Erzbischof von Florenz, Messer Giovanni Neroni, um größerem Übel zu entgehn, wählte freiwilliges Exil in Rom. Mehrere andere Bürger, die sogleich sich entfernten, wurden nach verschiedenen Orten verwiesen. Dies genügte nicht: man ordnete einen kirchlichen Umzug an, Gott
für die Erhaltung der bestehenden Macht und die wiederhergestellte Einigkeit zu danken, und während dieser Feier wurden verschiedene Bürger verhaftet und gefoltert, einige sodann hingerichtet, andere verbannt“ (S. 393).

© Gunthard Rudolf Heller 2011

Literaturverzeichnis

BARINCOU, Edmond: Niccolò Machiavelli mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, aus dem Französischen übertragen von Hanns v. Winter (1958), Hamburg 51998

BURCKARDT, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien, Wien o.J.

GODMAN, Peter: Die geheimen Gutachten des Vatikan – Weltliteratur auf dem Index (2001), Wiesbaden 2006

HENNINGSEN, Manfred: Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon Bd. 10, S. 806ff

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KROEBER-KENETH, Ludwig: Machiavelli und wir – Der Florentiner in neuer Sicht, Stuttgart-Degerloch 1980

MACHIAVELLI, Niccolò: Der Fürst, aus dem Italienischen von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, mit einem Nachwort von Horst Günther, Frankfurt am Main 11990


  • Discorsi – Staat und Politik, übersetzt von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Horst Günther, Frankfurt am Main 12000

  • Mandragola, Clizia, Andria – Komödien, aus dem Italienischen übertragen von Paul Heyse, Johann Ziegler und Joachim Timm, mit einem Nachwort von Peter Amelung, München 1967

  • Geschichte von Florenz, deutsch von Alfred von Reumont, Wien 1934

MAUGHAM, W. Somerset: Damals und heute – Ein Roman (Then and Now, 1946), aus dem Englischen von Hans Flesch und Ann Mottier, Zürich 1975

MENGE-GÜTHLING: Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch-Deutsch, Berlin/München/ Wien/Zürich 261987

  • Langenscheidts Großwörterbuch Lateinisch-Deutsch, Berlin/München/Wien/Zürich/New York 241992

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 1980/81

SPINOZA, Baruch de: Politischer Traktat, aus dem Lateinischen übersetzt von Gerhard Güpner, hg. v. Hermann Klenner, Leipzig 1988

VOLPI, Franco/NIDA-RÜMELIN, Julian: Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart 1988

Gunthard Heller