Lesehilfe zu Blaise Pascals philosophischen Schriften

Blaise Pascal (1623-1662) war Mathematiker, Physiker und Philosoph. In diesem Artikel bekommen Sie einen Überblick über sein Leben und Werk. Zudem eignet er sich als Lesehilfe, um seine Auffassungen besser zu verstehen.

Blaise
Pascal (1623-1662) war Mathematiker, Physiker und Philosoph. In der
Nacht vom 23. auf 24. November 1654 machte er eine innere religiöse
Erfahrung mit dem biblischen Gott. Er empfand Gewißheit, Freude
und Friede. Außer Gott vergaß er alles und weinte vor
Freude. Er unterwarf sich Jesus Christus und seinem geistlichen
Führer. Was er mit der Überschrift "Feuer" in der Notiz über sein Erlebnis (zit. in Béguin 111f)
meinte, ist unklar: eine Energieerfahrung? eine Feuervision?

"Abhandlung
über die Leidenschaften der Liebe"

Blaise Pascal Leben und WerkInteressant
ist hier die Gleichsetzung von Liebe und Vernunft: "Liebe
und Vernunft sind ein und dasselbe. Eine Unrast der Gedanken drängt
sich nach einer Richtung, ohne alles recht zu prüfen, aber immer
ist es eine Vernunft […]. Trennen wir also die Vernunft nicht
von der Liebe, denn sie ist von ihr unlösbar"
(S. 21).

Das
ist ein typisch rationalistischer Gedankengang, wenn man unter
Rationalismus die Überzeugung versteht, alles Seiende lasse sich
vernünftig erklären (vgl. EPhW 3/464).

Die
Echtheit dieser kleinen Schrift ist umstritten. Es gibt zwei
Manuskripte. Auf dem einen hat der Kopist einen Vermerk angebracht,
daß die Abhandlung Pascal zugeschrieben werde. Auf dem anderen
Manuskript, das später gefunden wurde, fehlt ein solcher
Vermerk.

"Von
der Kunst zu überzeugen"

In
dieser unvollendeten Schrift, die zwischen 1655 und 1658/59 entstand,
verficht Pascal die Methode, Begriffe zu definieren, Axiome
aufzustellen und aus ihnen Folgerungen abzuleiten (vgl. Albert
Raffelt, in: KNLL 12/981f).

Er
selbst gibt folgende Zusammenfassung: Die "Kunst
zu überzeugen […] besteht aus zwei wesentlichen Teilen:
alle Begriffe […] durch klare Definitionen zu definieren,
Grundsätze oder evidente Axiome aufzustellen, um das, was es zu
beweisen gibt, zu beweisen und im Verlauf des Beweises in Gedanken
immer die Definition an dem Ort des Definierten einzusetzen"
(S. 101).

Im
Anschluß gibt er acht Regeln für die Definitionen, Axiome
und die Beweise (S. 102ff)

"Schriften
über die Gnade"

Auch
diese Essays (1656-1658) sind Fragment geblieben. "Nach
einer Mitteilung P. NICOLES wollte Pascal in diesen Essays die augustinische Gnadenlehre (die er
mit der jansenistischen für idenisch hielt) so plausibel
darlegen, daß sie ihre scheinbare Härte verlöre und
allgemein zugänglich würde"
(Albert Raffelt, in: KNLL 12/982).

Der
Jansenistenstreit

Cornelius
Jansen (1585-1638) wurde 1618 Theologieprofessor in Löwen, 1636
Bischof von Ypern. Sein dreibändiges Hauptwerk "Augustinus"
(1840) erschien erst nach seinem Tod. Darin vertrat er eine
Gnadenlehre, mit der er an Aurelius Augustinus (354-430) und Michael
Bajus (1513-1589) anknüpfte.

Augustinus
entwickelte seine Gnadenlehre in der Auseinandersetzung mit
derjenigen des Pelagius (vor 384 – nach 418 oder 422), Julian
von Aeclanum (um 380 – 454) und anderen. Er veranlaßte, daß Pelagius wegen "’Ablehnung der
Notwendigkeit des Gebetes und der Kindertaufe’" (zit. n. MEL
18/352) auf den Synoden von Mileve (416) und Karthago (418)
verurteilt wurde, so daß ihn Kaiser Honorius verbannte. Bischof
Julian verlor sein Amt und wurde verbannt, weil er 418 gegen die
Verurteilung des Pelagius protestierte. Danach wurde er "Wortführer
der Pelagianer […] und entschiedener Gegner des Augustinus"
(MEL 13/250).

Pelagius
lehnte die Lehre von der Erbsünde ab und vertrat die Ansicht,
der Mensch könne sich frei zwischen Gut und Böse
entscheiden. Die göttliche Gnade zeige sich in dieser Freiheit
sowie im Gesetz des Moses und in der Lehre Jesu. Durch eben diese
Gnade könne der Mensch durch eigene Anstrengung zum Heil finden.

Augustinus
meinte dagegen, Gott überwinde mit seiner Liebe die Sünde
des Menschen, der durch Adam schuldig geworden, durch Jesus aber
erlöst worden sei.

Während
also im Pelagianismus das Individuum mit seiner Willensfreiheit im
Vordergrund stand, legte Augustinus den Schwerpunkt auf die göttliche
Gnade. Der Gegensatz zeigte sich noch deutlicher in der Verschärfung
der Lehre des Pelagius durch Julian: Während Augustinus das
sexuelle Begehren für sündhaft hielt, behauptete Julian,
sogar Jesus sei von sexuellem Begehren nicht frei gewesen. Aus diesem
Grund gebe es ein Recht auf die Ehe.

Bajus
betonte wie Augustinus die Erbsünde aufgrund von Adams
Sündenfall (vgl. Gen 3,1-24), d.h. er hielt den Menschen für
verderbt bis ins Mark. Ohne Jesu Erlösungswerk sei er nicht
frei, um sich für das Gute zu entscheiden. "Da
der Bajanismus weder der Freiheit des menschlichen Willens noch der
Ungeschuldetheit der göttlichen Gnade den ihnen gebührenden
Raum gab, wurde er 1567 von Papst Pius V., 1580 von Gregor XIII.
verurteilt" (MEL
3/378).

Auch
Jansen betrachtete den Menschen als Opfer der sexuellen Begierde, es
sei denn, diese werde durch die göttliche Gnade überwunden,
so daß der Mensch in guten Taten höhere Befriedigung finde
als in der sexuellen Lust. Seine Ideen verbreiteten sich von Belgien über Frankreich, Holland und
Italien über ganz Europa. "’Ein
Jansenist‘, hieß es, ‚ist ein Katholik, der die Jesuiten nicht
liebt.‘ Nach damaliger Auffassung bedeutete das, daß alle
Katholiken Jansenisten
waren" (Bokor 168).

"Ab
1635 wurde Port-Royal unter der Äbtissin Angélique
Arnauld ein Zentrum des französischen Jansenismus mit bewußt
gegen die pädagogischen Methoden der Jesuiten gerichteten
Gründungen von Schulen" (MEL 19/126). "Unter
Führung des jansenistischen Abtes J. Duvergier de Hauranne
(genannt Saint-Cyran) entstanden Einsiedlerzellen für frommes
Leben, in denen auch A. Arnauld, P. Nicole und B. Pascal wohnten" (Thomas Rentsch, in: EPhW 3/298).

Das
ehemalige Zisterzienserkloster war 1204 bei Versailles gegründet
worden. 1625 wurde in Paris eine Zweigniederlassung eröffnet.
Seither wurde das ursprüngliche Kloster Port-Royal-de-Champs, die Zweigniederlassung Port-Royal-de-Paris genannt.

1642
verurteilte Papst Urban VIII. den "Augustinus"
von Jansen mit der Bulle "In
eminenti". 1649
stellte der Jesuit und Doktor der Sorbonne Nicolas Cornet auf der
Basis von Jansens "Augustinus" fünf Sätze auf. 1653 erklärte Papst
Innozenz X. diese fünf Sätze,
in denen angeblich das
Wesentliche des Buchs zusammengefaßt
wurde, für Ketzerei.

Die
Jansenisten anerkannten die Rechtmäßigkeit dieser
Verurteilung, behaupteten aber, die fünf verurteilten
Propositionen gäben Jansens Auffassung nicht richtig wieder. So
waren sie "lediglich
zu einem ‚Silentium obsequiosum‘ (= ehrerbietiges Schweigen) bereit"
(MEL 13/55).

Arnauld
schrieb, "die vom
Papst verdammten Maximen seien zwar nicht in dem Buch Jansens
enthalten, fänden sich aber dafür bei Augustinus und bei
anderen Kirchenvätern.

Die
französischen Kleriker, allen voran die Jesuiten, gerieten über
die Behauptung Arnaulds in die größte Wut; da kein
einziger unter allen diesen geistlichen Würdenträgern das
Buch Jansens gelesen hatte, konnte jeder im Vertrauen auf die
Unfehlbarkeit des Papstes behaupten, die ketzerischen Sätze
befänden sich wirklich in dem Werk des Bischofs von Ypern"
(Fülöp-Miller 147).

Eine
Nachprüfung wäre ohne weiteres möglich gewesen, kam
aber nicht zustande: Die "Beteiligten
[…] scheuten diese Arbeit und griffen lieber zu den
kompliziertesten Hilfsmitteln, um auf andere Weise recht zu behalten.
[…] Die Jansenisten behaupteten, die Unfehlbarkeit könne
doch nur in Dingen des Glaubens in Frage kommen, nicht aber dort, wo
es sich um die Feststellung wirklicher Fakten handle." Die von
den Jesuiten beeinflußten französischen Kleriker waren
entrüstet, denn im "Jesuitenkolleg Clermont verfocht man
[…] in größeren öffentlichen Diskussionen
eifrig die These, daß der Papst auch über ‚Tatsachen‘
unfehlbar zu entscheiden vermöge" (ebd. 148).

Als
ein "jesuitischer
Beichtvater […] dem Herzog von Liancourt die Sterbesakramente"
verweigerte, "weil
die Enkelin des Herzogs eine Schülerin von Port Royal war",
schrieb der Priester Antoine Arnauld (1612-1694) zwei Streitschriften
und wurde deshalb von der Sorbonne ausgeschlossen (ebd. 145).

Daraufhin
beauftragte er Pascal mit der Fortführung des Streits. Dessen Provinciales erschienen als
einzelne Briefe anonym vom 23. Januar 1656 bis 24. März 1657, nachdem
Arnaulds Verteidigungsschrift durch die Sorbonne am 4. November 1655
verurteilt worden war. Noch
im Erscheinungsjahr wurden sie am
6. September auf den Index
der verbotenen Bücher gesetzt.

In
den ersten vier Briefen argumentiert Pascal, "daß
nicht die Sachfragen bei dem Streit verhandelt werden, sondern
Verbalkompromisse benutzt werden, um die Jansenisten als Häretiker
von den orthodoxen Richtungen zu isolieren" (Albert Raffelt, in: KNLL
12/987).

In
den Briefen 5 – 10 greift Pascal die kasuistische
Moraltheologie der Jesuiten an. "Sie
ist eigentlich eine Beurteilungshilfe für Beichtväter, also
keine Handlungsanweisung. Insofern verschiebt Pascal die Problematik" (Albert Raffelt, in: KNLL
12/988).

In
den Briefen 11 – 16 verschärft Pascal seine Polemik noch
und greift die Methoden des Jesuitenordens an, z.B. "die
Billigung der Verleumdung zur Ehre des Ordens" (Albert Raffelt, in: KNLL
12/988). Im 17. und 18. Brief greift
Pascal Pater Annat an, den Beichtvater des Königs. Der 19. Brief
blieb im Stadium des Entwurfs stecken.

Auf
der Seite der Jansenisten kämpften außer Arnauld und
Pascal noch die Theologen Jean Ambroise Du Vergier de Hauranne
(1581-1643), geistlicher Führer in Port-Royal, und Pasquier
Quesnel (1634-1719).

Der
Streit zwischen Jesuiten und Jansenisten wurde schließlich "von
beiden Seiten mit allen Mitteln der Intrige und Verleumdung geführt.
Die Jansenisten beschuldigten ihre Gegner der pelagianischen
Ketzerei, die Jesuiten wieder erklärten die Männer von Port
Royal für Kalvinisten." Die Jesuiten zweifelten an der Sittlichkeit der Nonnen von Port
Royal, die Jansenisten hielten die Jesuiten für Sittenstrolche.
Gegenseitig warfen die Parteien einander vor, eine Gefahr für den
Staat darzustellen. "Die
Jansenisten gruben alle alten
Märchen von der königsmörderischen Gesinnung der
Jesuiten aus, und ihre Gegner wieder behaupteten, die Leute von Port
Royal verwendeten ihre Geldmittel zu Verschwörungen gegen die
Sicherheit des französischen Staates" (Fülöp-Miller 145).

1661
wurde der Streit per königlicher Verordnung und militärisch
entschieden: Wer sich weigerte, die fünf Propositionen des
Jansen zu verdammen, wurde von Soldaten in ein Kloster unter der
Kuratel der Jesuiten gesteckt (ebd. 149).

Fast
alle unterschrieben das per Hirtenbrief angeordnete
Unterwerfungsformular, sogar Arnauld. Nur Pascal, Roannez und Domat
wollten weiterhin Widerstand leisten. Pascal verfaßte eigens
eine Schrift mit dem Titel "Zur Frage der Unterzeichnung".
Doch da er nun sogar von Angehörigen des Klosters von Port-Royal
angegriffen wurde, kämpfte er nicht weiter und befaßte
sich ab 1662 mit anderen Dingen, z.B. der Einrichtung einer
Omnibuslinie in Paris (Béguin 162).

"Ein
Wechsel auf dem päpstlichen Stuhl brachte für einige Zeit
Beruhigung. Der friedliebende neue Papst Clemens der Neunte empfand
die Notwendigkeit, den peinlichen Zwist endlich zu bereinigen. Da er
aber niemanden kränken wollte, griff er zu der schon oft
bewährten päpstlichen Methode, statt einer der beiden in
ihre Ansichten verbohrten Parteien recht zu geben, lieber durch
Unklarheit Frieden zu schaffen" (Fülöp-Miller 149).

Er
hielt also die Verurteilung der fünf Propositionen aufrecht,
erlaubte aber eine "Unterwerfungsformel […], in welcher
nicht unbedingt behauptet wurde, diese Sätze rührten von
Jansen her. Der Ausgleich wurde so zweideutig formuliert, daß
sich nun für lange Zeit überhaupt niemand mehr auskannte;
selbst die streitsüchtigsten Kämpfer wußten zunächst
nicht recht, wie sie eigentlich die Feindseligkeiten fortsetzen
sollten. So kam es zu jener Ruhepause im großen
Jansenistenkampfe, die als ‚Kirchenfriede von 1669‘ bezeichnet wird.
Die Regierung setzte die Jansenisten, die vorher in der Bastille
interniert worden waren, in Freiheit, und die verbannten Nonnen
durften in ihre Abtei zurückkehren" (ebd. 150).

Erst 1701
"erklügelte ein theologischer Schlaukopf ein Problem, über
welches man sich wieder in die Haare geraten konnte. Darf einem Manne
die Absolution erteilt werden, der das päpstliche Formular zwar
unterzeichnet hat, dabei aber im Grunde seines Herzens glaubt, der
Papst könne in bezug auf Tatsachen irren? Diese Doktorfrage
wurde von vierzig Mitgliedern der Pariser theologischen Fakultät
bejaht, von fast ebenso vielen verneint, und sogleich begann der
Krieg von neuem. […]

Als
dieser Streit zu erlahmen drohte, wurde rasch ein neuer Konflikt
wegen der kurz zuvor veröffentlichten Bibelübersetzung von
Quesnel vom Zaun gebrochen, denn die Jansenisten wollten, wie
Voltaire meint, ‚immer intrigieren, und die Jesuiten wollten sich
wichtig machen’" (ebd. 150).

1705
erklärte Papst Klemens XI. das Schweigen der Jansenisten zur
Bulle "In eminenti" (1653) mit der Bulle "Vineam
Domini" für
unzureichend und verurteilte den Jansenismus endgültig. 1708
wurde das Kloster von Port-Royal per Bulle zum "’Ketzernest’" erklärt, 1709 wurde es aufgelöst und zerstört (ebd.
151; nach einer anderen Version erfolgte die Zerstörung erst
1710-1712, vgl. EPhW 3/298). "Sogar
die Leichen verstorbener Jansenisten riß man [Ende 1711] aus
dem Friedhof von Port Royal und verscharrte sie in einem Massengrab" (Fülöp-Miller 151).

Mit
der Bulle "Unigenitus"
verurteilte Klemens XI. im Jahr 1713 101 Thesen in Quesnels Réflexions morales. Das führte zur Aufspaltung der
französischen Katholiken in Appellanten, die der Entscheidung
widersprachen und für ein Konzil eintraten, und Akzeptanten, die
die Entscheidung annahmen.

Wieder
stellte sich der Staat auf die Seite der Kirche und unterdrückte
die Jansenisten. Louis Antoine de Noailles (1651-1729), Erzbischof
von Paris, hatte zwar der Zerstörung von Port Royal zugestimmt,
aber wegen einer Intrige des Hofbeichtvaters Le Tellier gegen ihn
selbst den Jesuiten das
Beichthören verboten. Er kämpfte zuerst gegen die
Bulle "Unigenitus",
bevor er sich der Autorität der Kirche unterwarf.

Bei der Verteidigung des Jansenismus blieb Pascal zwar erfolglos, doch
sein Angriff auf die Tendenz der Jesuiten, Sünden zu
verharmlosen, so daß man den Beichtkindern die Absolution
erteilen konnte, führte zur Verurteilung der angeblich laxistischen Jesuitenmoral
durch die Päpste Alexander VII. (1665/66) und Innozenz XI. (1679). Noch als der
Jesuitenorden 1773 verboten wurde, diente diese Moral der Jesuiten "als
Grund bzw. Vorwand" für
diese Maßnahme (Albert Raffelt, in: KNLL
12/989).

Dabei war auch
dieser Erfolg Pascals kein wirklicher Erfolg, denn was er über
die Jesuiten schrieb, war vom Grundansatz verkehrt und in den Details
überzeichnet bis falsch. Er verkannte die Grundabsicht der
Jesuiten (dasselbe gilt für den Talmud und die antiken
Kasuisten!), das in der Bibel vorliegende göttliche Gesetz
sinnvoll und human auf irdische Verhältnisse zu übertragen.
Sie predigten keine laxe Moral, mit der Verbrechen beschönigt
oder sogar gerechtfertigt werden konnten, sondern dachten lediglich
darüber nach, wie man die Absolution großer Sünden im
Beichtstuhl denkerisch rechtfertigen könne. Das ist ein
gewaltiger Unterschied: Das erste bedeutet, einen Bösewicht zu
seinem Verbrechen zu ermuntern, das zweite, einem reuigen Sünder
zurück auf den Weg Gottes zu helfen.

René
Fülöp-Miller hat diesem Grundanliegen bis in alle historischen
Details nachgespürt. Seine "Kultur-
und Geistesgeschichte" der Jesuiten ist also kein Pamphlet, als was sie angesichts der
Absurditäten des Jansenistenstreits erscheinen könnte,
sondern eine angemessene Würdigung des großen Anliegens
von Ignatius von Loyola (1491-1556), der den Jesuitenorden
gründete.

In
der Kirche setzte sich die Wahrheit irgendwann durch, so daß
das Verbot des Jesuitenordens, das
nur Preußen und Rußland mißachteten, in den übrigen
Ländern 1814
durch Papst Pius VII. wieder
aufgehoben wurde.

Daß
Hetze und Verleumdungen wider die Jesuiten immer wieder aufblühten,
ist ein allgemeines historisches Phänomen, das die allergrößten
Geister der Philosophiegeschichte bis ins 20. Jahrhundert mit ihnen
teilen mußten: Auch Pythagoras, Anaxagoras und dessen Freundin
Aspasia, Sokrates, Platon, Aristoteles, Jesus, Seneca, Apollonios von
Tyana, Origenes, Julian Apostata, William Occam, Raimundus Lullus,
Dante Alighieri, Thomas Morus, Thomas Campanella, Giordano Bruno,
Jakob Böhme, Spinoza, John Locke, Hugo Grotius, Pierre Bayle,
Christian Wolff, Voltaire, Rousseau, Kant, Fichte, Hegel, Marx,
Blavatsky, Rudolf Steiner, Jaspers, Heidegger (nach Niederlegung
seines Rektorats 1934), L. Ron Hubbard, Osho (Bhagwan) und viele
andere wurden mit unlauteren bis verbrecherischen Mitteln verfolgt
bis umgebracht.

Pascal war übrigens nicht
grundsätzlich gegen die
Jesuiten voreingenommen:
Er schrieb einmal, "Port
Royal habe mehr Unrecht als die Jesuiten,
weil sie dort zu sehr die Natur ablehnten" (Béguin 60).

"Lettres
Provinciales – Briefe an einen Freund in der Provinz"

Nun
zum Inhalt der Briefe im einzelnen.

Blaise Pascal Leben und WerkIm 1. Brief macht sich Pascal über die Formulierung der
Molinisten (Jesuiten) lustig,
daß die Gerechten ein "unmittelbares
Vermögen" zur Einhaltung der Gebote hätten. Denn unter dem Wort
"unmittelbar" verständen die Anhänger des
Herrn Le Moine "hinreichend", die neuen Thomisten unter den
Dominikanern aber "nicht hinreichend", also das Gegenteil.
Trotzdem würden beide gemeinsam Front gegen die Jansenisten
machen, die zwar dasselbe wie die neuen Thomisten lehrten, aber die
Formulierung "unmittelbares Vermögen" ablehnten. Der
Grund für diese Ablehnung sei die Weigerung der vereinten
Gegner, das Wort "unmittelbar" zu erklären.

Im 2. Brief spottet Pascal darüber, daß die Jesuiten behaupteten, die
"hinreichende Gnade" würde zum Handeln ausreichen, die
neuen Thomisten aber das Gegenteil lehrten: Sie sei zwar hinreichend,
würde aber nicht zum Handeln ausreichen. Die Jansenisten lehrten
dasselbe wie die Thomisten, lehnten aber deren Formulierung ab, da
sie bei den Thomisten das Gegenteil ihres Inhalts bedeute.

Im 3. Brief zeigt Pascal, daß Arnauld dasselbe wie die Kirchenväter
lehrt. Er werde also nicht wegen seiner Lehre als Ketzer verurteilt,
sondern wegen seiner Person. Sage Arnauld etwas, sei es Ketzerei,
sage jemand anders dasselbe, sei es keine.

Im 4. Brief bespricht Pascal die Auffassung der Jesuiten, daß nur
diejenigen Sünden angerechnet würden, bei denen Gott durch
"aktuelle Gnade" deren Erkenntnis als Sünde gebe. Die
Jansenisten dagegen würden behaupten, auch Sünden ohne
aktuelle Gnade würden angerechnet.

Im 5. Brief behandelt Pascal die jesuitische Moraltheologie. Als deren Grundlage
stellt er den Probabilismus hin. Das ist die "Lehre, nach
welcher die bloße Wahrscheinlichkeit, daß eine Handlung
erlaubt sei, zu ihrer Verübung berechtigt, selbst wenn es
wahrscheinlicher ist, sie für verboten zu halten"
(Fülöp-Miller 606).

Im 6. Brief stellt
Pascal die Techniken der Gegensatzvereinigung durch jesuitische
Kasuisten dar. Eine dieser Techniken sei die Uminterpretation von
Worten, eine weitere die Einbeziehung der Umstände, eine dritte
die praktische Anwendung des Probabilismus. Gerechtfertigt würde
all das mit der Schlechtigkeit der Menschen, von denen die Jesuiten
keinen zurückweisen wollten.

Der 7. Brief behandelt
die Ablenkung der Intention von einem verbotenen auf einen
gestatteten Gegenstand hin. Mit anderen Worten: Wer eine schlechte
Tat nicht unterlassen will, bemäntelt sie wenigstens mit einer
guten Absicht.

Während
der 8. Brief nichts
grundsätzlich Neues bringt, geht es im 9.
Brief
um
Erleichterungen der christlichen Lebensführung und weitere
Schliche (genauer: Methoden der Lüge):

  • die "Lehre vom Doppelsinn" besagt, daß man seinen
    Worten einen anderen Sinn unterlegt, als der Gesprächspartner
    ihn auffassen muß (S. 183);
  • die "Lehre vom geistigen Vorbehalt" beinhaltet, daß
    man im Stillen etwas anderes denkt, als man tatsächlich sagt (S.
    183);
  • durch das Beiseitesprechen verwandelt man das laut Gesprochene ins
    Gegenteil;
  • man zieht sich durch Umdeuten den Kopf aus der Schlinge;
  • das Nichteinhalten von Versprechungen wird durch den geistigen
    Vorbehalt und die Berufung auf die Willensfreiheit gerechtfertigt.

Der 10. Brief behandelt
ausführlich Beicht-
und Bußerleichterungen.

Im 11. bis 14. Brief verteidigt
sich Pascal gegen Vorwürfe, Beschimpfungen und Unterstellungen.

Im 13. Brief charakterisiert er
eine weitere unredliche Argumentationstechnik: die Trennung der
Maximen. Konkret sieht das so aus: 1. Theoretisch sei es erlaubt,
wegen übler Nachrede zu töten. 2. Was theoretisch erlaubt
sei, sei auch praktisch erlaubt. "Und da diese beiden
unverdächtigen Grundsätze unabhängig voneinander
eingeführt werden, läßt sich die Wachsamkeit der
Richter täuschen", kommentiert Pascal (S. 267), wobei
unklar ist, warum er diese beiden Maximen für unverdächtig
hält – das sind sie nicht!

Im 15. und 16. Brief geht
Pascal wieder zum Angriff über und bezichtigt die Jesuiten der
Verleumdung ihrer Gegner ohne Sündenbewußtsein
und schlechtes Gewissen.

Im 17. Brief weist
Pascal den an ihn selbst gerichteten Vorwurf der Ketzerei zurück, indem er nach Beweisen fragt, sich von Port Royal
distanziert, seine wirtschaftliche und intellektuelle Unabhängigkeit
dartut, eine Kirchenspaltung bestreitet und die Jansenisten als
Rechtgläubige wie Augustinus, wie Thomas von Aquin, wie dessen
Schüler, wie zahlreiche Konzilien und Päpste darstellt.
Kurz: Jansen habe lediglich "die wirksame Gnade gelehrt"
(S. 357), und diese Lehre sei keine Häresie. Die Streitfrage, ob
die verurteilten fünf Sätze bei Jansen stünden, sei
eine Tatsachenfrage, und hinsichtlich von Tatsachen könne die
Kirche sehr wohl irren.

Im 18. Brief wirft
Pascal den Anklägern des Jansen vor, sie hätten seine
Irrtümer nie genau angegeben. "Gewalt und Wahrheit vermögen
nichts gegeneinander" (S. 384); "das hohe Amt schützt
die Päpste nicht vor Täuschung, es macht ihren Irrtum nur
gefährlicher und folgenschwerer" (S. 389). Über die
Tatsachen würden wir die Wahrheit lediglich durch die Sinne
erfahren, während übernatürliche Wahrheiten auf der
Basis der Bibel und kirchlichen Entscheidungen, nicht geoffenbarte
Wahrheiten aber auf der Basis der Vernunft zu beurteilen seien. Der
ganze Jansenistenstreit sei "Lärm um nichts", doch
gerade das sei der
beliebteste Trick der Jesuiten: "den Anschein zu erwecken, als
ob alles auf dem Spiele stünde in einer Sache, an der nichts
dran ist" (S. 396). Zusammengefaßt: "Ihre
Anschuldigungen sind ohne Grund, bei Ihren Gegnern gibt es keinen
Irrtum, und in der Kirche keine Häresie" (S. 397).

Schon
Voltaire (1694-1778), der selbst im Jesuitenkolleg Louis-le-Grand ausgebildet wurde, hat zu
zeigen
versucht, daß
Pascals Angriffe auf die Jesuiten unhaltbar seien:

"’Man
schrieb geschickt der ganzen Gesellschaft Jesu die extravaganten
Ansichten einzelner spanischer und flämischer Jesuiten zu.
Ähnliches hätte man auch bei den dominikanischen und
franziskanischen Kasuisten ausgraben können, aber man suchte es
eben nur bei den Jesuiten. In diesen Briefen wurde der Beweis dafür
unternommen, daß die Jesuiten die Absicht hätten, die
Sitten der Menschheit zu verderben – eine Absicht, die bei
keiner Sekte, bei keiner Vereinigung jemals geherrscht hat, noch
herrschen kann …’" (zit. n. Fülöp-Miller 248).

René
Fülöp-Miller kommentiert: "Pascals abfälliges
Urteil über die Jesuitenmoral sollte dann lange Zeit hindurch
die ganze öffentliche Meinung beherrschen" (S. 245). "Pascal hatte die
Lacher auf seiner Seite, und dies war für die Öffentlichkeit
wichtiger als die Frage, ob der Verfasser der Streitschrift auch
wirklich recht habe" (S. 248). Alles mögliche wurde den
Jesuiten in die Schuhe geschoben, von der sexuellen Ausschweifung bis
zum Königsmord. "Freilich
sind die meisten derartigen Behauptungen und Anklagen seither
widerlegt und als Geschichtsfälschungen entlarvt worden"
(S. 246).

"Über
die Religion und über einige andere Gegenstände"
(Pensées)

Vor
seinem Tod wollte Pascal das Christentum gegen die Libertinisten
verteidigen. Dabei spielte die Heilung seiner Nichte im Jahr 1656
mit: Der Augentumor von Marguerite Périer (1642-1733) galt
laut Aussage eines Chirurgen als unheilbar, wurde jedoch mit Hilfe
eines Dornenreliquiars geheilt. Pascal hielt diese Heilung laut
Sainte-Beuve für ein Wunder, die Jesuiten aber nicht (Béguin
65).

Pascal
hinterließ seine Notizen zu dem von ihm geplanten Buch
(scheinbar?) ungeordnet, was zu verschiedenen Ausgaben und
Anordnungen führte. Die erste Veröffentlichung des Werks
erfolgte nach Pascals Tod 1669/70 vom Kloster Port-Royal aus. Die
Interpretation der Notizen wird dadurch erschwert, daß man
Aussagen Pascals und Lektüreexzerpte auseinanderhalten muß
(vgl. Albert Raffelt, in: KNLL 12/983ff).

Da
diese Regel nicht alle Kommentatoren befolgten, bezeichneten sie
Pascals Moral als
machiavellistisch, da er zur Aufrechterhaltung der Ordnung die Lüge
billigte (Béguin 74ff). "Eher
Ungerechtigkeit als Unordnung, verkündet er immer wieder ohne
die Andeutung eines Zauderns" (ebd. 77). Dabei ist die Bezeichnung "Machiavellismus"
ebenfalls eine Verleumdung, denn Machiavelli war überzeugter
Demokrat und stellte die Politik Cesare Borgias in seinem Buch über
den Principe nur dar – er hieß sie nicht gut …

Noch
einmal zum darüber Nachdenken: Machiavelli wurde verleumdet,
weil seine Kritik an einer Politik, die er ablehnte, mit seiner
eigenen Philosophie gleichgesetzt wurde. Pascal wurde verleumdet,
weil seine Exzerpte mit seiner eigenen Meinung verwechselt wurden.
Auf diese Weise wurde übrigens Nietzsche zeitweise zum
Nationalsozialisten stilisiert …

Briefe

Ich
gehe hier nur auf Pascals wissenschaftstheoretische Äußerungen
ein, neben denen er sich in seinen Briefen auch noch mit der
Auslegung des Christentums befaßt.

In
seinem Schreiben an Père Noël
vom 29. Oktober 1647 nennt Pascal seine "allgemeine
Regel" als Methode
der Wahrheitserkenntnis: Ein Satz kann nur dann angenommen oder
verworfen werden, wenn er entweder der Wahrnehmung oder dem Denken
eindeutig erscheint oder wenn er logisch einwandfrei abgeleitet
werden kann (S. 18f). Voreilige Schlüsse sind zu vermeiden (S.
22). Hypothesen kann man auf dreierlei Art und Weise überprüfen:
1. Folgt aus ihrer Verneinung etwas Absurdes? Wenn ja, dann sind sie
wahr. 2. Folgt aus ihrer Bejahung etwas Absurdes? Wenn ja, dann sind
sie falsch. 3. Alle übrigen Hypothesen sind "zweifelhaft"
(S. 26f).

An
Périer schrieb Pascal am 15. November 1647, daß die
Wahrheitssuche wichtiger sei als das Festhalten an Traditionen (S.
35). In Pascals Brief an Le Pailleur vom Februar oder März 1648
ist bemerkenswert, daß Meinungsverschiedenheiten nicht geklärt
werden könnten (S. 45). Denn Meinungen seien dadurch
gekennzeichnet, daß sie Sachverhalte betreffen, von denen man
weder beweisen kann, daß sie möglich noch daß sie
unmöglich sind. Stufen der Erkenntnis seien "die
Definition, das Axiom und der Beweis"
(S. 50).

© Gunthard Heller, 2013

Literaturverzeichnis

BÉGUIN,
Albert: Blaise Pascal in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, aus dem
Französischen übertragen von Franz Otting, Reinbek bei
Hamburg 1965

DIE
BIBEL – Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes,
Freiburg/Basel/Wien 201976

BOKOR,
Charles v.: Winkelmaß und Zirkel – Die Geschichte der
Freimaurer, Rastatt 1980

ENZYKLOPÄDIE
PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, hg. v. Jürgen Mittelstraß,
4 Bände, Stuttgart/Weimar 2004 (EPhW)

FÜLÖP-MILLER,
René: Macht und Geheimnis der Jesuiten – Eine Kultur-
und Geistesgeschichte, Wiesentheid 1947

KINDLERS
NEUES LITERATURLEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München
1996 (KNLL)

LEXIKON
DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian
Nida-Rümelin, Stuttgart 1988 (LphW)

MEYERS
ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81 (MEL)

PASCAL,
Blaise: Abhandlung über
die Leidenschaften der Liebe – Gebet zu Gott um den heilsamen
Gebrauch der Krankheiten, übersetzt von Elisabeth Walther und
Alois Motan, Köln/Hagen 1949


  • Die
    Kunst zu überzeugen und die anderen kleineren philosphischen
    und religiösen Schriften, Übersetzung von Ewald Wasmuth,
    Heidelberg 1950
  • Lettres
    Provinciales – Briefe an einen Freund in der Provinz,
    Übersetzung von Auguste Schorn, Köln 1968
  • Über
    die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées),
    aus dem Französischen übertragen und mit einem Nachwort
    herausgegeben von Ewald Wasmuth, Frankfurt am Main 11987
  • Briefe,
    übersetzt von Wolfgang Rüttenauer, Leipzig 1935 (Pascals
    Briefe sind hier kursiv gedruckt, werden von mir aber im Normaldruck
    zitiert.)

SCHWEIZER,
Frank: Nur einer hat mich verstanden … – Philosophenanekdoten,
Stuttgart 2006

WEISCHEDEL,
Wilhelm: Pascal oder Die gekreuzigte Vernunft, in: Die philosophische
Hintertreppe – 34 große Philosophen in Alltag und Denken,
München 121984,
S. 125-131

Gunthard Heller