Wie die „Freie Marktwirtschaft“ positiven Fortschritt behindert

Vielen gilt die Idee der „Freien Marktwirtschaft“ als Garant für Wohlstand und Freiheit. Dabei werden die Schattenseiten aber leider oft ignoriert oder verharmlost. Dieser Aufsatz will aufzeigen, dass der freie Markt nicht jede Art von Fortschritt erzeugen kann – sondern im Gegenteil – viele positive Entwicklungen be- oder sogar verhindert. Lesen Sie hier eine Reflexion unserer gesellschaftlichen Entwicklung aus der Sicht eines Transhumanisten …

Freie Marktwirtschaft und Kapitalismus

Der italienische Philosoph Diego Fusaro ist ein zeitgenössischer Philosoph, der sich Gedanken zur neofeudalen Finanzaristokratie macht (Ein ganzes System des Schwindels und Betrugs – Telepolis).

Kritik an der Freien Marktwirtschaft

Fusaro zufolge wandele der Kapitalismus sich vom Industrie- zum Finanzkapitalismus, wie inzwischen immer mehr Intellektuelle erkennen, die sich auch nur ein bisschen mit der aktuellen politischen Situation auseinandersetzen.

Dabei komme es zu dem bereits erwähnten Neofeudalismus, dessen Kapital nicht mehr durch Industrien, sondern durch den Finanzmarkt generiert wird. Dies führe zu einer dramatischen Umverteilung des Vermögens von unten nach oben.

Wie auch anderen Beobachtern fällt Diego Fusaro auf, dass es im Kapitalismus gar nicht mehr um Innovationen geht, sondern darum, sich Innovationen möglichst umfassend patentieren zu lassen, um dann eine Art Rente (im Sinne eines regelmäßigen Einkommens, für das keine weitere Leistung mehr erbracht werden muss) aus der Vermarktung der Innovationen ziehen zu können, am besten durch monopolähnliche Marktpräsenz.

Wenn der Kapitalist also kein profitables Produkt aus einer Innovation machen kann, so ist sie für ihn uninteressant. Ein Kapitalist wäre also nicht Willens, den Wert der Wissenschaft an sich anzuerkennen, wenn sie sich nicht direkt in Profit übersetzen lässt. Ob sich so die höhere Mathematik oder die theoretische Physik überhaupt entwickelt hätten, darf bezweifelt werden und auch, ob ein ausgebildeter Betriebswirt eine Vorstellung davon hat, was Wissenschaft überhaupt bedeutet.

Herr Flassbeck, der ehemalige wirtschaftliche Berater von Oscar Lafontaine, unterzieht seine Kollegen einer harschen Kritik (Wie viele deutsche Ökonomen irren – Heise), hält sie gar für unwissenschaftlich.

Es ist also nicht einleuchtend, warum man den Fortschritt ausgerechnet der Wirtschaft oder einzelnen Firmen überlassen möchte, indem man beispielsweise Universitäten immer stärker an die Interessen von Unternehmen bindet, wie es zum Beispiel durch die Bologna-Reform umfassend getan wurde.

Es gibt meines Erachtens zwei Formen des Fortschritts, die für den Kapitalismus überhaupt wesentlich sind:

  • Zum einen die immer wirtschaftlichere Fertigung eines Produkts (1),
  • und zum anderen die Erschließung neuer Märkte (2).

(1) Für ersteres benötigt es nicht unbedingt Automatisierung oder eine Verbesserung des Produkts. Es reicht aus, weniger Löhne zu zahlen und zu hoffen, dass die Politik nicht gegensteuert bzw. sogar aktiv mithilft, Arbeitnehmerrechte abzubauen. Wozu automatisieren, wenn Praktikanten sogar umsonst arbeiten (müssen)?

Kritik an der Freien Marktwirtschaft

Bei einem Quasi-Monopol bietet es sich sogar an, die Produkte immer schlechter zu machen, damit sie früher kaputt gehen und der Kunde sie reparieren oder neu-kaufen muss (sog. „geplante Obsoleszenz“). Beispiele findet jeder, der eine Suchmaschine bedienen kann. Bekannt sind z. B. Druckerpatronen, die trotz vorhandener Tinte nicht mehr weiterdrucken, weil sie die vom Hersteller vorgegebene Anzahl gedruckter Seiten erreicht haben.

Wen man bedenkt, wie schwer es ist, in Großstädten selbst mit einem Vollzeitjob überhaupt eine Wohnung zu finden, so muss leider denen, die von einem „freiwilligen“ Praktikum oder Arbeit sprechen, entweder Bösartigkeit oder Ignoranz unterstellt werden. Beides sollte in der Politik nichts zu suchen haben.

(2) Um neue Märkte zu erschließen, braucht es nicht unbedingt eine Innovation. Genauso gut lassen sich Dinge künstlich verknappen. Eine Innovation wie das Smartphone deckt soviel Konsummöglichkeiten ab, dass nicht mehr viel Raum bleibt, in den ein weiteres Produkt passen würde. Zwar kann man jede Menge Ideen haben, aber wenn diese an den Bedürfnissen des Konsumenten vorbeigehen, bleibt der Profit aus, wie bei der Dotcom-Blase. Und so ist auch die Anzahl der vom Konsumenten benutzbaren Apps limitiert.

Ich behaupte also, dass es gar nicht so viele Bedürfnisse gibt, wie der Kapitalismus bräuchte, um immer weiter wachsen zu können.

Da der Kapitalismus den Konsum benötigt, müsste er ihn folgerichtig erzwingen, falls der freiwillige Konsum an natürliche Grenzen stößt. Das heißt, Dinge, die vorher umsonst waren, werden kostenpflichtig. In der politischen Praxis sieht das dann so aus, dass staatliche Dienstleistungen privatisiert werden, was fast immer zum Nachteil des Bürgers (z. B. die Privatisierung der Bahn) geschieht, oder dass man zum Beispiel zusätzliche Zwangsabgaben einführt (wie der Rundfunkbeitrag) und so aus dem Bürger einen Zwangsverbraucher macht.

Ein gutes Beispiel ist der Wasserkonzen Veolia (Undurchsichtige Verträge, hohe Preise, mangelnde Kontrolle – Süddeutsche Zeitung), dem Kritiker vorwerfen, mit unlauteren Mitteln mehrere staatliche Wasseranlagen aufgekauft zu haben, dann die Qualität des Trinkwassers verschlechtert zu haben, damit das vom Konzern als Mineralwasser angebotene Wasser konkurrenzfähig wird.

Gleichzeitig ist dort, wo nicht die Qualität verschlechtert wird, eine massive Preiserhöhung des Trinkwassers zu beobachten.

Ein weiteres Beispiel ist die schleppende Bekämpfung von wirtschaftlich unprofitablen Krankheiten wie Ebola, die so lange niemanden interessierte, bis sie zu einer Gefahr für die Erste Welt wurde.

Free market magic?

Wenn ein Mann wie Bill Gates von einem Garagentüftler innerhalb von 30 Jahren zum reichsten Mann der Welt aufsteigt, so kann das unmöglich seine eigene Leistung ein. Der freie Markt kann also auch nur sehr eingeschränkt die Leistungen eines Teilnehmers durch die monetäre Vergütung wiederspiegeln.

Um eine solche Rente zu erhalten, sind Patente und Monopole notwendig, die weitere Forschung in diesen Bereichen erschweren. Wir hätten sicherlich fortschrittliche Betriebssysteme, wenn Windows einen offenen Quellcode hätte.

Kritik an der freien Marktwirtschaft

Die Fokussierung der Forschung auf ein profitables Produkt führt also zu zielgerichteter Forschung, die nicht zwingend wissenschaftliche Standards zu beachten braucht, denn nur die Resultate (also das gewonnene Geld) haben hier Gewicht.

Grundlagenforschung und anderes, nicht direkt kapitalisierbares Wissen ist für Firmen primär uninteressant, das heißt, aus den Kräften des freien Markts wird nie einen Teilchenbeschleuniger wie beim CERN entstehen und Firmen werden keine echte Universität betreiben können. Man könnte auch sagen, die Unternehmen ziehen relativ einseitig Profit aus der staatlich betriebenen Ausbildung, sind aber nicht in der Lage eine solche Ausbildung selbst zu organisieren.

Weiterhin gibt es diverse Probleme, die der freie Markt nicht lösen kann und den Fortschritt auf lange Sicht empfindlich stören können, wie z. B. die globale Erwärmung, Abrüstung von Nuklearwaffen, die Konsequenzen der Biogenetik, und vor allem das schon angesprochene Patentrecht und geistiges Eigentum.

Wer erfand das Internet?

Auch ist der freie Markt nicht in der Lage, große visionäre Projekte voranzutreiben. Welches Unternehmen der Welt hätte Interesse daran, Geld in eine allgemein verfügbare Infrastruktur zu investieren, ohne dass dabei ein konkretes Produkt herauskommen würde? Schauen wir uns an, wer das Internet erfunden hat, so werden wir auf massive(!) staatliche Förderung und Universitäten stoßen, auch auf Opensource und sonstige unentgeltliche Freiwilligenarbeit und nicht so sehr auf profitgetriebene Entrepreneure.

Kritik an der freien Marktwirtschaft

Die Geschichte des Internets ist übrigens auch mit dem des CERNs verwoben. So gilt der CERN sogar unangezweifelt als Geburtsort des World Wide Webs, was viele Internetuser überhaupt nicht wissen. Weiterhin sollte man sich erinnern, dass der CERN das World Wide Web von Anfang an zur freien Nutzung freigab. Welche kommerzielle Firma hätte das wohl getan?

Steigen wir tiefer in die Geschichte des Internets ein:

Die Leute, die mit ihren Ideen das Internet nach und nach realisierten, waren vornehmlich Wissenschaftler, die ursprünglichen Geldgeber das Militär und die Universitäten. Es wurden zwar auch Firmen zum Aufbau des Internets hinzugezogen, diese arbeiteten jedoch stets im Auftrag der Regierung an klar vorgegebenen Problemen. Für IBM war das Internet 1968 noch eine unprofitable Spinnerei, weswegen es einen Auftrag der Regierung zu diesem Thema ablehnte. (Geschichte des Internets – Netplanet.org )

Man muss also ganz klar sehen, dass durch das Internet vielleicht eine Menge Unternehmen entstanden, diese jedoch niemals das Internet aus eigenem Antrieb geschaffen hätten. Auch waren die ersten User nicht privat, sondern miteinander kommunizierende Universitäten, und der Auftraggeber war der Staat. Das Internet wäre also genauso wenig durch Consumers-choice entstanden, das heißt, das Internet war keine Antwort auf eine Nachfrage des Marktes.

Im Gegenteil: Kaum entdeckte die Geschäftswelt das Internet, sorgte sie innerhalb weniger Jahre für die Dotcom-Blase, in der Firmen, die teilweise nur aus einer Website und einer Handvoll Mitarbeitern bestanden, zeitweise mit Milliardenbeträgen an der Börse notiert waren und auch selten Kundschaft vorzuweisen hatten, was schließlich in einem Kollaps der Branche resultierte. Hier überschätzte man das Potenzial vollkommen, was den Profit angeht, den der neue Markt erwirtschaften könnte.

Freiwilligkeit als Entwicklungsgarant

Man sollte an dieser Stelle auch die freiwillige Mitarbeit erwähnen, die all die Dinge wie Linux, Wikipedia und Bitcoin überhaupt möglich gemacht haben. Wieder hätten profitgetriebene Entrepreneure sicherlich keinen quelloffenen Code geschrieben; im Gegenteil, inzwischen müssen Informatiker sogar Verträge unterschreiben, dass sämtlicher Code, den sie in ihrer Freizeit produzieren, ihrem Arbeitgeber gehört.

Fassen wir also zusammen: Der freie Markt kann nicht in der Lage sein, die Menschheit in ein neues Zeitalter zu bringen, weil er dafür viel zu risikoavers ist, was Eigenkapital angeht und er auch schlicht und ergreifend nicht über die Organisationsfähigkeit verfügt, die ein solch gigantisches Projekt benötigen würde.

Auch nach Chomskys Propagandamodell führt die Verwebung von Wirtschaft und Wissenschaft automatisch zu einem Ende der kritischen Wissenschaft und zwar noch schneller, als es staatliche Eingriffe tun („In der Kommunikationswissenschaft ist der Kalte Krieg auch heute noch nicht zu Ende“ – Telepolis)

Denn: Wissen ist kommunistisch. Wissen wird nicht weniger, wenn es frei ist. Geheimgehaltenes Wissen und der Konkurrenzgedanke führen zum Beispiel dazu, dass die gleiche Forschung von jeder Firma immer wieder geleistet werden muss, außerdem stört der Profitgedanke die wissenschaftliche Qualität der Forschung.

Ich glaube daran, dass, um die Probleme auf diesem Planeten in den Griff zu bekommen und in ein neues Zeitalter zu gelangen, müssen wir zwangsläufig die kapitalistischen Verhältnisse überwinden. Sollte uns das nicht gelingen, werden wir vermutlich den größten Teil unserer wissenschaftlichen Infrastruktur verlieren.

Sicher, menschliches Leben wird es dann weiterhin geben, aber abgesehen von der viel geringeren Lebensqualität hätten wir auch die einmalige Chance vertan, zu einem Universalismus gelangen, der uns vielleicht sogar bis in die Tiefen des Weltalls führen könnte.

Man kann meiner Meinung nach nicht Transhumanist sein und gleichzeitig an den derzeitigen kapitalistischen Produktionsverhältnissen festhalten wollen. Gleichzeitig muss man aber auch kein Transhumanist sein, um die Probleme und Fehlentwicklungen der heutigen „Freien Marktwirtschaft“ zu sehen und kritisch zu bewerten. Wichtig ist letztlich diese Schattenseiten zu erkennen und neue Lösungsansätze aus unserer aktuellen Lage zu suchen.

Johannes Wolpers