Kleine Einführung in die Philosophie von Michel Foucault II

Die Philosophie Foucaults ist uns in dreifacher Form erhalten: in seinen Büchern, in kleineren Schriften (auch Interviews/Diskussionen) sowie in Vorlesungen. Wer sich nur auf die Bücher beschränkt, ist manchen Einseitigkeiten ausgesetzt, die vor allem in den Schriften (S) ergänzt bzw. korrigiert sind.

Ein Beispiel ist folgende Würdigung von Freud im Gespräch mit C. Bonnefoy (1966): „Freud hat dafür gesorgt, dass sprachliche Äußerungen von Kranken, in denen man bis dahin nur Rauschen erblickt hatte, als etwas gelten, das als Botschaft behandelt werden muss“ (S I 720).

Das wird Freud sehr viel mehr gerecht als die Charakterisierung in „Die Ordnung der Dinge“ (ebenfalls 1966): Freud habe „mehr als jeder andere die Erkenntnis des Menschen von dessen philologischem und linguistischem Modell her befördert“ (S. 432).

Religiöse Abweichung und medizinisches Wissen (1962)

Diese Diskussion mit J. Le Goff, G. Scholem, O. Lutaud, A. Abel, R. Mandrou, E. Delaruelle, J. Séguy, G. Le Bras und R. Manselli, zu der Foucault die Vorlage lieferte, wurde erst 1968 veröffentlicht.

Michel Foucault

Foucault stellt ausführlich den Standpunkt christlicher Hexenjäger und ihrer Gegner dar, der sich vom modernen Bewußtsein unterscheide. Letzteres charakterisiert er so: „Allem, was ihm fremdartig erscheint, verleiht es […] den Status der Exklusion, wenn es um Urteilen, den der Inklusion, wenn es um Erklären geht“ (S I 798). Den Zeitraum der Moderne (ca. 1790-1820 bis um 1950) hat er bereits in einem Gespräch mit R. Bellour (1967) bestimmt.

Die Hexenjäger des 16. Jh.s betrachteten die Besessenheit durch Dämonen bzw. den Pakt mit dem Teufel als Häresie, d. h. als Abfall vom Glauben und als Ungehorsam gegenüber Gott. Was heute noch daran interessant ist, sind die Täuschungsmanöver des Teufels. Als Opfer wählt er willens- und glaubensschwache Menschen aus, besonders Frauen, Betrunkene und Wahnsinnige. Er manipuliert sie durch innere Bilder (Visionen) und Träume. Dabei agiert er „an der Grenzfläche der ‚Phantasie‘ und der Sinne“ (S I 802).

Der Arzt Johannes Weyer (latinisiert: J. Wierus, bei Foucault: Wier, 1515-1588), der Aberglauben, Magie und Hexenwahn, insbesondere den „Hexenhammer“ von Jakob Sprenger und Heinrich Institoris bekämpfte, beschrieb die Aktionen des Teufels folgendermaßen:

„‚Er versteht es …, diverse Figuren zu zeigen: er schafft künstlich nutzlose Götzenbilder, trübt den Blick, blendet die Augen, lässt Falsches als wahr erscheinen und sorgt geschickt dafür, dass man es nicht merkt; er versteckt das Wahre, damit wir nicht erkennen, dass die Dinge, die er vortäuscht, in Wirklichkeit gar nicht sind … Auch verdirbt er die Einbildungskraft der Menschen durch diverse Phantome, verwirrt die Wachen, setzt die Schlafenden durch Träume in Erstaunen, bringt den Reisenden vom rechten Weg ab, macht sich über jene lustig, die scheitern, und über die anderen ebenfalls; er erschreckt sie und bringt durch die unerklärlichen Labyrinthe der Meinung mehrere Dinge durcheinander'“ (S I 802).

Der Teufel täuscht nicht nur die Hexen, sondern auch deren Verfolger, indem er sie glauben läßt, daß die Hexen zum Hexensabbat fliegen oder sich in Wölfe verwandeln können. Weyer kommentierte: „‚An die Realität all dieser physischen Mächte zu glauben ist daher nur eine andere Art, sich dem Teufel zu unterwerfen'“ (S I 803).

Foucault kommentiert:

  • „In jedem Falle triumphiert der Teufel, und man kann ihm nicht entrinnen. Man stärkt ihn, wenn man ihn verfolgt und verdammt; man hilft ihm, wenn man seine physische Macht leugnet“ (S I 804).
  • „Hält man das Bild Satans nicht für Satan, sondern für pure Täuschung, zeigt Satan durch diesen unangemessenen Unglauben, dass er existiert; und hält man das Bild Satans nicht für eine Täuschung, sondern für Satan, zeigt Satan durch diesen vergeblichen Glauben gleichfalls, dass er existiert“ (S I 804f).
  • „Man ist dem Dämon genau in dem Maße ausgesetzt, wie man dem Irrtum ausgesetzt ist“ (S I 805).

Indem Weyer die Wirkung des Teufels als Verblendung bezeichnete, machte er laut Foucault aus einer parareligiösen Erfahrung ein medizinisches Problem.

Raymond Roussel (1963)

Raymond Roussel (1877-1933) hat einen Teil seines Werks in dem Buch „Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe“ kommentiert, das erst nach seinem Tod erscheinen sollte.

Foucault ist sich nicht sicher, ob Roussel tatsächlich eine Erklärung liefern wollte: Der Text verberge „die versprochene Offenbarung ebenso sehr und vielleicht noch mehr“, als er sie aufdecke (S. 11f). Er streue Zweifel. Das Buch verberge ebenso wie der zweite Teil von „Eindrücke aus Afrika“ „oder die erklärenden Passagen in Locus Solus […] unter dem Vorwand der Offenbarung die wahre unterirdische Kraft, aus der die Sprache erwächst.“ Vielleicht ist dieser Text „so etwas wie eine heilsame Lüge […] – eine Teilwahrheit, die nur signalisiert, daß man weiter und in tieferen Gängen suchen muß“ (S. 13)?

In einem Punkt ist sich Foucault sicher: Indem das „‚posthume und geheime‘ Buch […] eine ‚Lösung‘ gibt, verwandelt es jedes seiner Worte in eine mögliche Falle, das heißt in eine wirkliche Falle, weil allein die Möglichkeit eines doppelten Bodens für den Hörenden einen Raum nicht endender Ungewißheit eröffnet“ (S. 16).

Die Folge: „Bei der Lektüre seines Werks wird uns nichts versprochen. Nur innerlich wird das Bewußtsein verbindlich, daß wir beim Lesen all dieser aneinandergereihten und glatten Wörter der ungreifbaren Gefahr ausgeliefert sind, andere Wörter zu lesen, die andere und doch dieselben sind. […] Jedes Wort ist zugleich belebt und gefährdet, erfüllt und entleert durch die Möglichkeit, daß es da noch ein zweites Wort gäbe – dieses oder jenes oder weder das eine noch das andere, sondern ein drittes, oder nichts“ (S. 18).

Roussels Erzählung Unter den Schwarzen (erschienen 1935, in: E 309-315), eine Vorform des Romans „Eindrücke aus Afrika“ (E), beruht auf zwei Sätzen, die sich nur in einem Buchstaben unterscheiden, deshalb aber von ganz verschiedener Bedeutung sind: „‚les lettres du blanc sur les bandes du vieux billard‚ [die Buchstaben aus Weiß auf den Banden des alten Billardtischs]“ und „‚les lettres du blanc sur les bandes du vieux pillard [die Briefe des Weißen über die Banden des alten Plünderers]'“ (S. 19).

Der vollständige erste Satz der Erzählung lautet in der deutschen Übersetzung: „Die Lettern aus Weiß auf den Banden des alten Billards formten eine unverständliche Gemengelage“ (E 309). Der letzte Satz: „(DIE … BRIEFE … DES … WEISSEN … ÜBER … DIE … BANDEN … DES … ALTEN … PLÜNDERERS.)“ (E 315).

Foucault erklärt den Inhalt der Erzählung so: „Das Rätsel der Kreidezeichen auf den Banden des billard wird durch die Briefe des Europäers über die Banden des pillard gelöst“ (S. 31).

Ausführliche Zusammenfassung von mir: Beim Billardspielen denkt Roussel über sein dichterisches Verfahren nach. Da ihm der erste Roman von Balancier gefällt, schreibt er ihm. Balancier antwortet sofort, um sich für den freundlichen Brief zu bedanken. Zwei Jahre später widmet er Roussel sein Buch „Unter den Schwarzen“ und schickt es ihm.

Es handelt vom Schiffbruch des Kapitäns Compas. Während die Mannschaft die Rettungsboote aufsucht, bleibt Compas an Bord und landet an der afrikanischen Küste. Dort wird er von dem schwarzen Häuptling Tombola festgenommen und ins Landesinnere verschleppt. Tombola überfällt ein Dorf nach dem andern. Wer nicht gegessen wird, wird rekrutiert. Die Beute wird mitgenommen, das Dorf wird verbrannt. Compas schreibt über seine Erlebnisse Briefe an seine Frau, die er mit Hilfe von Vögeln verschickt. Schließlich kann er fliehen und wird von Europäern gefunden, so daß er heimkehren kann.

Nachdem Roussel das Buch gelesen hat, wird er von Flambeau eingeladen. Bei ihm trifft er neben Débarras, Gauffre und Madame Bosse auch Balancier, bedankt sich für die Widmung und spricht mit ihm über das Buch. Da es regnet, veranstaltet Flambeau ein Gesellschaftsspiel. „Es bestand in Folgendem: man stellte einer Person schriftlich irgendeine Frage, dann schloss man sie im Nebenzimmer ein. Nach zehn Minuten öffnete man, die Uhr in der Hand, wieder die Tür, und die fragliche Person musste eine Antwort in Gestalt eines Rebus geben“ (E 312).

Die erste Person wird durch das Los bestimmt. Wer die Bedeutung des Rebus (Bilderrätsel) entziffert, ist als Nächster dran. Als Roussel an die Reihe kommt, weil er den Rebus von Madame Bosse gelöst hat, bekommt er die Frage: „‚Welches ist, Ihrer Ansicht nach, die aufwühlendste Schrift, die dieses Jahr publiziert wurde?'“ (E 314)

Da Roussel nicht zeichnen kann, beantwortet er die Frage mit einem Kryptogramm (E 314):

LEEBCLASIPA
ETSLS ENDEIR
STDAUSDUULD
LRUNRBEVXL

Balancier entziffert es, indem er die Buchstaben von oben nach unten liest. Das ergibt folgendes: „‚LES… LETTRES… DU… BLANC… SUR… LES… BANDES… DU… VIEUX… PILLARD'“ (E 315). Da alle Partygäste „Unter den Schwarzen“ von Balancier gelesen haben, begreifen sie Roussels Antwort. Sie ist eine knappe Inhaltsangabe der Erzählung.

Roussel kommentierte: „In dieser Erzählung lag bereits die Genese meines Buches Impressions d’Afrique beschlossen, das ich rund zehn Jahre später schrieb. […] Der pillard / Plünderer ist Talou; die bandes sind die kriegerischen Horden; der blanc / Weiße ist Carmichaël (das Wort lettres wurde nicht beibehalten)“ (E 299).

Die Erweiterung seines Verfahrens gewann Roussel dadurch, daß er „nach weiteren Wörtern“ suchte, „die sich auf das Wort billard beziehen, um sie jeweils in einem anderen Sinn zu verwenden als dem naheliegenden […]. So lieferte die queue beim Billard eine Schleppe, die Talou hinter sich herzieht“ (E 300).

Eindrücke aus Afrika. Man beginnt die Lektüre laut Roussels Empfehlung am besten mit Kapitel X (E 134). Hier erfährt man, daß die Lyncée eigentlich von Marseille nach Buenos Aires gelangen will, aber wegen eines Sturms auf dem Atlantik Schiffbruch erleidet und an der Küste von Afrika zerschellt. Alle Passagiere überleben, werden aber von Schwarzen gefangengenommen, die Lösegeld erpressen wollen.

Einer der Schwarzen namens Séil-kor spricht französisch, da er einen Teil seiner Kindheit in der Familie des französischen Forschers Laubé verbracht hat. Talou VII., der Kaiser von Ponukéle, hat unter seinen Vorfahren eine Spanierin, ebenso sein Rivale Yaour IX., der Kaiser von Drelchkaff.

Der Historiker Juillard hat die Idee, die Zeit bis zum Eintreffen des Lösegelds mit Darbietungen zu vertreiben. Da unter der Schiffsbesatzung zwei Sängerinnen, zwei Sänger, ein Schütze und Fechter, ein Feuerwerker, ein Architekt, ein Hypnotiseur, ein Chemiker, ein Erfinder, ein Bildhauer, ein Komiker, ein Ichthyologe, eine Schauspielerin, ein Zitherspieler und eine Zirkustruppe sind, findet Juillards Vorschlag regen Zuspruch. Kaiser Talou VII. ist mit einer Galavorstellung bei der Ankunft des Lösegelds, das Séil-kor überbringen soll, einverstanden. Die Bankiers unter den Passagieren bauen eine Börse auf, deren Aktien auf die Darsteller bezogen sind.

Yaour IX. stellt Talou VII. eine Falle, wird aber von einem seiner Untergebenen verraten, den er unterbezahlt und schlecht behandelt hat. Talou VII. besiegt die Truppen von Yaour IX. und tötet ihn. Seine europäische Geliebte kann sich freikaufen. Talou VII. wird nun auch noch König von Drelchkaff. Die geplante Galavorstellung wird zur Krönungszeremonie umgemünzt, auf der auch die Urteile an den Inhaftierten vollstreckt werden. Darunter ist Yaours Verräter. Auch einige der Schwarzen führen ihre Erfindungen und Kunststücke vor. Talou VII. singt. Wer von den Schwarzen am meisten Beifall bekommt, dessen Aktie steigt am höchsten.

Mit der Krönungszeremonie und Galavorstellung beginnt der Roman, d.h. nach Kapitel XXV kann man mit der Lektüre von Kapitel I-IX fortfahren und anschließend noch das Schlußkapitel lesen.

Wer den Roman von Anfang bis Ende lesen will, erfährt neun Kapitel lang Unverständliches und Absurdes, das dann ab Kapitel X als Erinnerung des Icherzählers erklärt wird und plötzlich einleuchtet. Auf diese Weise werden aus frustrierenden, langweiligen und viel zu vielen Eindrücken interessante Erfahrungen.

Locus Solus ist der Name des Parks von Martial Canterel in der Nähe von Paris. Canterel ist Wissenschaftler, Entdecker und Erfinder. Er zeigt Besuchern seine Wundermaschinen. Anrührend sind die damit verbundenen Legenden und Biographien.

Die knapp zwanzigjährige Königin Duhl-Serul von Timbuktu leidet unter dem Ausbleiben der Menstruation. Das führt zu Tobsucht, zur Erteilung unsinniger Befehle und zu einer Vervielfachung der Todesurteile. Da sie ansonsten eine gütige und weise Herrscherin ist, erträgt das Volk ihre Anfälle und verzichtet auf einen Aufstand. Als der arabische Theologe Ibn Batuta nach Timbuktu kommt, bittet das Volk eine heilige Statue um Hilfe für Duhl-Serul. Es handelt sich um ein nacktes Kind, in dessen Hand ein Sturm den Keim der Heilpflanze Artemisia maritima bläst. Deren Blüten heilen Duhl-Serul.

Kourmelen, der kranke König von Kerlagouëzo, sorgt für die Thronfolgerin, Prinzessin Hello, die durch den Neid der Brüder des Königs gefährdet ist, indem er seine goldene Krone einschmilzt und versteckt. Nur dem treuen Hofnarren Le Quillec teilt er den Ort des Verstecks und die Zauberformel mit, um es zu öffnen. Er darf es Hello erst entdecken, wenn sie aufgrund eines göttlichen Zeichens von sich aus zu ihm kommt. Ohne die Krone können Kourmelens Brüder die Herrschaft nicht an sich reißen, da das Volk sie nicht anerkennt. Das göttliche Zeichen wird gegeben, als Hello achtzehn Jahre alt ist. Le Quillec und zahlreiche Untertanen begleiten sie zu dem Versteck. Hello läßt aus dem Goldbarren der früheren Krone eine neue Krone herstellen und führt ihr Reich mit dem übrigen Gold aus dem Versteck zur Blüte.

Der Kriegsknecht Aag soll für den Herzog Gjörtz Christel entführen, die Frau von Baron Skjelderup. Christel schreit, Aag wird gefangengenommen und in einer Höhle eingemauert. Dort liest er beim Schein seiner Fackel die Legende von der Wasserkugel. Sie handelt von elf Brüdern, die ihre Schwester Ulfra mit Hilfe einer Zauberin in eine Taube verwandeln. Die Brüder müssen sie innerhalb eines Jahres finden und töten, um sie loszuwerden. Doch die Taube wird von einem Geist in einer Wasserkugel bewacht, der die Brüder töten kann. Da sie nach fast einem Jahr des Prassens den Schutzzauber vergessen haben, den die Zauberin ihnen mitgegeben hat, geraten sie in Lebensgefahr. Doch die Taube führt sie wieder heim und verwandelt sich nach einem Jahr wieder in Ulfra zurück. Fortan leben die Brüder friedlich mit ihr zusammen. Aag träumt von der Taube und wird von Christel geweckt, die sich Zugang zu der Höhle verschafft hat und ihn befreit. Aag bereut seinen Anschlag auf sie und ist ihr dankbar dafür, daß sie sein Leben gerettet hat. Deshalb flieht er, ohne seinen Auftrag zu Ende zu führen.

François-Jules Cortier erlaubt seiner neunjährigen Tochter Lydie, bei ihm im Arbeitszimmer spielen zu dürfen. Dabei wird ihre Puppe vom Feuer im offenen Kamin angesengt. Lydie bastelt und wirft einen Papierrest ins Feuer. Da ein Blatt sich bewegt und die Flammen auf Lydie überspringen, schreit sie. François-Jules kann sie nicht mehr retten. Sie stirbt in ihrem Bett.

Als sein bester Freund an Schwindsucht stirbt, nimmt François-Jules dessen Tochter Andrée zu sich. Sie ist so alt wie ihre frühere Gespielin Lydie. Sein Sohn François-Charles nimmt Andrée zuerst wie eine Schwester an. Doch als sie 16 Jahre alt ist, verlieben sich die beiden ineinander. Das Problem: Auch der Vater verliebt sich in das Mädchen, ohne von deren Liebe zu seinem Sohn zu wissen.

Gerade als François-Jules seine Liebe gestehen will, entdeckt sich ihm Andrée. François-Jules ist eifersüchtig, um so mehr, als er den „Gegensatz zwischen seinem eigenen Verfall und der überwältigenden Jugend seines Sohns“ nun mit den Augen eines Rivalen sieht (S. 208). Vier Stunden später rafft er sich auf und bittet Andrée, seine Frau zu werden. Sie weist ihn ab. Er erwürgt sie und schändet die Tote.

Als er seine Sinne wieder beisammen hat, ruft er die Polizei. An seiner Stelle wird der Bedienstete Thierry Foucqueteau zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Als es ans Sterben geht, legt François-Jules ein Geständnis ab und versteckt es so, daß es erst nach seinem Tod gefunden werden kann. Sein Sohn findet es, aber versteckt es wieder, nachdem er unter das Geständnis einen Abschiedsbrief geschrieben und es auf dieselbe Weise wie sein Vater versteckt hat. Danach bringt er sich um. Denn er will weder den Vater denunzieren noch Thierry länger unschuldig leiden lassen noch als „Sohn eines Mörders“ weiterleben (S. 220).

Pascaline Foucqueteau, die Mutter von Thierry, die von Anfang an von der Unschuld ihres Sohns überzeugt war und ihn rehabilitieren will, wendet sich an Canterel. Denn sie vermutet „einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen der Ermordung Andrées“ und dem Selbstmord von François-Charles. Sie kennt Canterels Experimente mit Toten und denkt, François-Charles würde, von Canterel durch elektrischen Strom stimuliert, die entscheidenden „Augenblicke aufs neue durchleben“, was „sicherlich aufschlußreiche Enthüllungen über Thierrys Fall geben“ könne (LS 221). So geschieht es auch. Canterel findet aufgrund der Reaktionen des Toten auf seine Maschine das Geständnis, und Thierry kommt frei.

Roussels Erzählung hat drei Schichten: Zuerst schildert er Canterels Manipulation der Leiche, wie sie sich von außen darstellt. Dann erklärt er, wie sie funktioniert. Doch den Sinn des Ganzen versteht man erst, wenn man die Geschichte des Toten kennt. Der Weg des Lesers geht also vom Phänomen über die Erklärung zum Sinn. Dasselbe gilt im Prinzip für alle Wundermaschinen in „Locus Solus“ und deren Hintergründe.

Gespräch mit Madeleine Chapsal (1966)

Foucault charakterisiert sich als Systematiker, der sich von Sartres Sinngebungsversuchen abgrenzt: „Der Bruch kam, als Lévi-Strauss für die Gesellschaft und Lacan für das Unbewusste zeigten, dass Sinn wahrscheinlich nur eine Oberflächenerscheinung, eine Spiegelung, eine Schaumkrone darstellt, während das eigentliche Tiefenphänomen, von dem wir geprägt sind, das vor uns da ist und uns in Zeit und Raum trägt, das System ist“ (S I 665).

Mit „wir“ meint Foucault die „Generation derer, die im Krieg noch keine zwanzig Jahre alt waren“ (S I 664). Er ist davon überzeugt, daß wir „stets innerhalb eines anonymen, zwingenden Gedankensystems“ denken, „das einer Zeit und einer Sprache zugehört“ (S I 666).

Foucault wendet sich massiv gegen den Humanismus, da er vorgebe, „Probleme zu lösen, die man sich gar nicht stellen kann“, nämlich „Fragen nach dem Verhältnis des Menschen zur Welt, das Problem der Realität, das Problem des künstlerischen Schaffens, des Glücks und all die Obsessionen, die es gar nicht verdienen, als theoretische Probleme behandelt zu werden“ (S I 667f).

Der Humanismus sei „abstrakt, das heißt, abgeschnitten von der wissenschafltichen und technischen Welt, die unsere reale Welt ist.“ Er stelle „heute den Wandschirm“ dar, „hinter dem sich das reaktionärste Denken verbergen kann und monströse, gänzlich unvorstellbare Bündnisse geschlossen werden“ (S I 669).

Konsequent kritisiert Foucault auch das höhere Bildungswesen, das vom Humanismus beherrscht sei: „Wir lernen absolut nichts über die grundlegenden Fächer, die es uns ermöglichen, zu verstehen, was hier bei uns und vor allem auch anderswo geschieht“ (S I 669).

Interview mit Michel Foucault (1968)

Foucault ist angesichts der Wortkargheit der Schweden zum Schwätzer und Antihumanisten geworden. Die langen Nächte in diesem Land veranlaßten ihn, jeden Tag 5 – 6 Stunden zu schreiben, und das vor dem Hintergrund, daß er sich davor ein Leben am Schreibtisch nicht vorstellen konnte. Er hielt seine Schriften weder für nützlich noch bedeutsam, denn er dachte, daß das, was er zu sagen hatte, auch andere sagen könnten.

Über die feindseligen Reaktionen der Franzosen auf seine Analysen war Foucault „sehr überrascht“. Er konnte „nicht begreifen, warum eine Analyse Ricardos, Linnés oder Buffons brave Leute betrifft, die im Übrigen noch nie eine Zeile dieser Autoren gelesen haben. Aber sie fühlen sich getroffen, ohne angegriffen worden zu sein, und das enthüllt etwas. Letztlich hat es ihnen vielleicht sogar gut getan. Es zwingt sie, ein wenig aus ihrem Schneckenhaus hervorzukommen; das macht ihnen vielleicht ein wenig Angst, und wenn ich all diese selbstgefälligen Geister beunruhigt, […] ein wenig in Bewegung versetzt habe, dann bin ich zufrieden“ (S I 833).

Foucault antwortet Sartre (1968)

Mit der Veröffentlichung dieses Gesprächs mit J.-P. Elkabbach war Foucault nicht einverstanden. Sie erfolgte ohne sein Wissen. Auf die Frage, wie er seine Arbeit definiere, antwortete er, er suche das Unbewußte der Wissenschaftsgeschichte.

Über die Archäologie der Wissenschaften (1968)

Foucault gibt hier Antwort an den Cercle d’épistémologie, der ihn gebeten hatte, „über seine Theorie und die Implikationen seiner Methode kritische Anmerkungen zu machen, die deren Möglichkeit begründen“ (S I 887).

Mit anderen Worten: Der Cercle d’épistémologie zweifelte daran, ob Foucaults Umgang mit den Archiven wissenschaftlichen Standards entsprach. Nachdem ich Foucaults Antwort gelesen hatte, fragte ich mich, ob er tatsächlich etwas gesagt hatte oder nur dem Cercle d’épistémologie das Maul hatte stopfen wollen. Auf jeden Fall ist der Text eine Illustration zu Foucaults Äußerung, er habe „dieses endlose Schwätzen“ entwickelt, „das einen Schweden, wie ich sehr wohl weiß, nur irritieren kann“ (S I 831). Auch Sartre hat diese Methode eingesetzt, und er hat das auch ausgesprochen.

Die Situation Cuviers in der Geschichte der Biologie (1969)

In diesem Vortrag mit anschließender Diskussion, an der sich B. Balan, G. Canguilhem, Y. Conry, F. Courtès, F. Dagognet, S. Delorme, M.-D. Grmek, J.-F. Leroy, C. Limoges, J. Piveteau, B. Saint-Sernin und C. Salomon beteiligten, zeigt Foucault die paradoxe Stellung von Georges Baron de Cuvier (1769-1832) in der Wissenschaftsgeschichte auf: Einerseits vertrat er „eine Katastrophentheorie, nach der die Lebewesen periodisch durch universale Katastrophen vernichtet und danach neu erschaffen worden sein sollen. Dementsprechend verwarf er den Deszendenzgedanken“ (MEL 6/139).

Andererseits behauptet Foucault, daß Darwins Evolutionstheorie auf den Forschungen Cuviers aufbaue: „Um vom Stand Linné zum Stand Darwin des biologischen Wissens zu gelangen, war die Transformation Cuvier notwendig“ (S II 72).

B. Balan stellte die Problematik so dar: Die „Gesamtheit der […] Tatsachen machte es nicht mehr möglich, die Welt des Lebenden im Rahmen der Stufenleiter der Lebewesen zu denken. Daher war eine Umarbeitung erforderlich“ (S II 59).

Foucault antwortete: „Cuvier kritisiert die Kette der Lebewesen, nicht die Kontinuität. Auf jeden Fall hat nie jemand […] eine wirkliche Kontinuität zwischen den Arten angenommen. […] Was Cuvier kritisiert, ist die Behauptung, dass jedes beliebige Lebewesen […] ein Übergang ist […]. Zugleich weist Cuvier die Idee einer schrittweisen Abstufung zurück […]. Schließlich weist Cuvier […] die Idee einer einzigen Serie zurück“ (S II 63).

Stattdessen vertrat Cuvier „das Konzept […] des Hiatus“ (S II 63), also der Lücke. Darunter verstand er laut Foucault weder, daß bestimmte Arten durch Katastrophen verschwanden, „noch die ‚Zufallsverteilung‘ der Differenzen“, sondern dreierlei:

  • die „erste Konsequenz des Prinzips der Korrelation“ (= gemeinsames Auftreten von Organen): es gibt „unauflösliche Bündel von Präsenzen und Absenzen“ von Organen;
  • die „Konsequenz des Prinzips der Einheit des Plans“ (= Entwicklungsreihe von niederen zu höheren Lebewesen): man „kann nicht sagen“, es gebe vollkommenere und weniger vollkommene Lebewesen;
  • die „Konsequenz des Prinzips heterogener Abstufungen“: es gibt unter den Lebewesen „keine Stufenleiter, sondern ein verzweigtes Netz“ (S II 64).

G. Canguilhem wies darauf hin, daß die Lücken zwischen den Arten bestehen blieben, „selbst wenn man die Zahl der Arten verhundertfachte“. Cuvier sei scholastisches Denken vorgeworfen worden, obwohl er die „Kontinuität der Formen“ bestritten habe (S II 66).

Darauf antwortete Foucault nicht mehr, da die Vorträge und Diskussionen vom 30.5.1969 hier zu Ende waren. Am nächsten Morgen ging es weiter.

Foucault sagte u.a.: „In dem Augenblick, in dem man vom einen Individuum zum nächsten ein Kontinuum an Variationen annimmt, können die Arten nicht mehr gegeneinander abgesetzt werden und mit perfekt abgegrenzten Schwellen existieren. Die Natur isoliert keine Arten, sie ermöglicht lediglich, durch die Herausbildung von Ähnlichkeitsregionen, Arten zu rekonstruieren, die gut fundiert sind, wenn sie dem Netz der Ähnlichkeiten von Individuen unterschiedlicher Morphologie folgen“ (S II 69).

M.-D. Grmek wies darauf hin, daß für „die aktuelle Wissenschaft […] die beiden Schwellen überschritten“ seien, nämlich „der Übergang von der Art zur Gattung“ durch die Evolutionstheorie, der Übergang „vom Individuum zur Art“ durch die moderne Genetik (S II 70f).

Foucault negierte „Veränderung in einem absoluten Sinne“ „in der Wissenschaftsgeschichte […]. Je nachdem, wie man die Diskurse klassifiziert, je nach dem Niveau, auf dem man sie ansiedelt oder dem Analyseraster, das man ihnen aufzwingt, wird man entweder Kontinuitäten oder Diskontinuitäten, Konstanten oder Modifikationen erscheinen sehen“ (S II 71).

© Gunthard Rudolf Heller, 2023

Literaturverzeichnis


ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, hg. v. Jürgen Mittelstraß, 4 Bände, Stuttgart/Weimar 2004

ERIBON, Didier: Michel Foucault – Eine Biographie (1989), aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt am Main 1993

FOUCAULT, Michel: Dits et Ecrits – Schriften, 4 Bände, Frankfurt am Main 32014 / 22014 / 22016 / 22020 (S)

  • Psychologie und Geisteskrankheit (1954/62), aus dem Französischen übersetzt von Anneliese Botond, Frankfurt am Main 51977
  • Die Geburt der Klinik – Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963), hg. v. Wolf Lepenies und Henning Ritter, o.O. o.J.
  • Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961), aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1969
  • Raymond Roussel (1963), aus dem Französischen von Renate Hörisch-Helligrath, Frankfurt am Main 1989
  • Die Ordnung der Dinge – Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1974
  • Archäologie des Wissens (1969), übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt am Main 1981
  • (Hg.): Der Fall Rivière – Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz (1973), aus dem Französischen von Wolf Heinrich Leube, Frankfurt am Main 1975
  • Die Macht der Psychiatrie – Vorlesungen am Collège de France (1973/74), aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2005
  • Die Anormalen – Vorlesungen am Collège de France (1974-1975), aus dem Französischen von Michaela Ott und Konrad Honsel, Frankfurt am Main 32013
  • Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses (1975), aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1994
  • In Verteidigung der Gesellschaft – Vorlesungen am Collège de France (1975/76), aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt am Main 1999
  • Sexualität und Wahrheit – Erster Band: Der Wille zum Wissen (1976), übersetzt von Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1983
  • Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit 2 (1984), übersetzt von Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1989
  • Die Sorge um sich – Sexualität und Wahrheit 3 (1984), übersetzt von Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1989
  • Die Geständnisse des Fleisches – Sexualität und Wahrheit 4, hg. v. Frédéric Gros, aus dem Französischen von Andrea Hemminger, Berlin 2019

HELLER, Gunthard: Kleine Einführung in die Philosophie von Michel Foucault
– Foucault lesen I – VII (Facebook 2022/23)

KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81 (MEL)

ROUSSEL, Raymond: Eindrücke aus Afrika – Roman (1910), revidierte Übersetzung von Cajetan Freund, mit einem Anhang und einem Nachwort versehen von Stefan Zweifel, Luzern/Poschiavo 2016 (E)
– Locus Solus (1914), aus dem Französischen von Cajetan Freund, Frankfurt am Main 1977 (LS)

RUFFING, Reiner: Michel Foucault, Paderborn 22010

SPRENGER, Jakob / INSTITORIS, Heinrich: Der Hexenhammer (Malleus maleficarum), aus dem Lateinischen übertragen und eingeleitet von J. W. R. Schmidt, München 141999

Gunthard Heller