Kleine Einführung in die Philosophie von Michel Foucault

Michel Foucault war ein französischer Philosoph, der sich durch seine Werke und als Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte der Denksysteme in Paris einen Namen gemacht hat. Hier finden Sie eine kleine Einführung in sein philosophisches Werk.

Über Michel Foucault

Der Vater von Paul-Michel Foucault (1926-1984) war Chirurg und Anatomieprofessor, sein Großvater mütterlicherseits war Chirurg und Professor. Michel, seine ältere Schwester Francine und sein jüngerer Bruder Denys gingen jeden Sonntag zur Kirche. Zeitweise war Michel Chorknabe. 1940-45 besuchte er das Collège Saint Stanislas, das von“Brüdern der christlichen Schulen“(Frères des Écoles chrétiennes) geleitet wurde. Die Bedrohung während des Zweiten Weltkriegs betrachtete Foucault später als „‚Ausgangspunkt meiner theoretischen Neigung'“ (zit. n. Eribon 32).

Einführung in die Philosophie von Michel Foucault

Ab 1946 studierte er gegen den Willen des Vaters Philosophie und Psychologie an der École normale supérieure. Foucault war arrogant, aggressiv und streitsüchtig. Seine Kommilitonen verabscheuten ihn fast alle. Um Aufmerksamkeit zu erregen, zerschnitt Foucault sich die Brust. In der Nacht verfolgte er einen seiner Kommilitonen mit einem Dolch. Als er sich 1948 umbringen wollte, überraschte das seine Kommilitonen kaum, die ihn für psychisch gestört hielten.

Sein Vater brachte ihn zu einem Psychiater. Auch noch danach versuchte Foucault, sich umzubringen oder tat zumindest so. Sein Psychiater führte seine Störungen darauf zurück, daß er seine Homosexualität weder verarbeitete noch befriedigend auslebte. Louis Althusser riet Foucault davon ab, sich in eine Psychiatrie aufnehmen zu lassen, als er wegen psychischen Problemen seinen Unterricht immer öfter ausfallen ließ.

1950 trat Foucault unter dem Einfluß Althussers der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) bei, verließ sie aber 1953, weil sie an die Erfindung des Ärztekomplotts gegen Stalin geglaubt hatte und Homosexuelle ablehnte. Mit dem Marxismus brach er erst 1955.

Foucault unterrichtete Philosophie und Psychologie, nachdem er als Psychologe in einem Krankenhaus und in einem Gefängnis gearbeitet hatte. In Uppsala, Warschau und Hamburg war er Lektor (d.h., er hielt Vorlesungen über Romanistik), auch Leiter des Frankreich-Instituts (d.h., er kümmerte sich um die Verwaltung und empfing Vortragsredner).

„Warschau musste Foucault infolge einer Affäre mit einem jungen Mann, der sich als Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes entpuppte, schon nach wenigen Monaten verlassen“ (Ruffing 13). Sylvia Lacan erinnert sich an folgende Äußerung Foucaults beim gemeinsamen Essen: „‚Es wird keine Zivilisation geben, solange nicht die Ehe unter Männern zugelassen ist'“ (Eribon 240).

Als Gastprofessor in Tunis erlebte Foucault die Verhaftung von Studenten „aus politischen Gründen“ (Ruffing 21). Zurück in Paris schloß er sich den 1968er-Studentenprotesten an. Als Demonstrant erlebte Foucault mehrere Zusammenstöße mit der Polizei und wurde auch verhaftet.

Foucault unternahm viele Vortragsreisen. Er kämpfte in mehreren Ländern für Menschenrechte, gegen die Todesstrafe und wehrte sich in Spanien auch körperlich gegen die Polizei Francos. In Japan übte er Zen-Meditation. Er starb an Aids.

Seine Bücher zeugen von immenser Arbeit in Bibliotheken und Archiven. Denn er wollte „‚Formen von Erfahrung in ihrer Geschichte […] studieren'“ (zit. n. Eribon 85). Sie sind sehr schwierig und trocken zu lesen. Trotzdem verstand Foucault sie als Anregungen zur politischen Aktion. Ihr Ursprung liegt in seinen persönlichen Erfahrungen.

Foucaults Biograph Didier Eribon, der Foucault von 1979-1984 persönlich kannte, betrachtet sein ganzes Werk „‚als Auflehnung gegen die Mächte der ‚Normierung'“ (S. 13). „‚Das umfassende Thema meiner Arbeit ist […] nicht die Macht, sondern das Subjekt'“, schrieb Foucault (Schriften Band 4, S. 270, zit. n. Ruffing 19).

Die philosophische Entwicklung Foucaults wurde vor allem von seiner Lektüre der Werke von Heidegger und Nietzsche bestimmt.

Psychologie und Geisteskrankheit (1954/62)

Foucault wollte in diesem Buch, das er 1962 umarbeitete, zwei Fragen beantworten:

  • „unter welchen Voraussetzungen kann man auf dem Gebiet der Psychologie von Krankheit sprechen?“
  • „welche Beziehungen lassen sich zwischen den Befunden der Psychopathologie und denen der organischen Pathologie feststellen?“ (S. 9)

Zur ersten Frage: Es gibt verschiedene Versuche, psychische Störungen zu klassifizieren. Das Problem: „je mehr die Einheit des Menschen als ein Ganzes aufgefaßt wird, desto mehr verflüchtigt sich die Wirklichkeit der Krankheit als einer spezifischen Entität“ (S. 21).

Zur zweiten Frage: In der Psychopathologie bedarf es „anderer analytischer Methoden“ als in der organischen Pathologie (S. 21). „Die Psychologie konnte der Psychiatrie niemals bieten, was die Physiologie der Medizin gegeben hat: das Instrument einer Analyse, die mit dem Abgrenzen der Störungen gleichzeitig den Blick auf das funktionelle Verhältnis zwischen dieser Störung und der Gesamtheit der Persönlichkeit richtet“ (S. 22). Kurz: Die Psychologie kann „niemals den Wahnsinn meistern“ (S. 132).

Das Grundproblem liegt darin, daß man zwar die persönliche Geschichte des Patienten als Ursache seiner Krankheit postulieren kann. Doch man begreift nicht, warum die einen auf ihr Leben mit Krankheit reagieren und die andern nicht, also gesund bleiben.

Einige Beispiele:

  • Gesunde bearbeiten ihre Konflikte direkt, Kranke projizieren sie auf andere. Zum Beispiel überträgt eine Mutter die homosexuelle Liebe zu ihrer Tochter auf ihren Schwiegersohn. Da sie sich schuldig fühlt, projiziert sie ihre Schuld auf ihren Mann und wird eifersüchtig auf ihn.
  • Gesunde können Ich und Du auseinanderhalten, Kranke nicht. Zum Beispiel schlägt ein dreijähriges Mädchen seine Kameradin und läßt sich dann von seiner Gouvernante trösten, weil sie selbst geschlagen worden sei.
  • Gesunde bearbeiten ihre Schuld dadurch, daß sie die betreffende Tat nicht wiederholen. Kranke wiederholen die Tat und beruhigen ihr Gewissen damit, daß sie sich erwischen lassen.
  • Gesunde gehen mit Widersprüchen bewußt um. Kranke reagieren darauf mit Angst.

Wahnsinn und Gesellschaft (1961)

„Gegenstand dieser Untersuchung“, die in der deutschen Fassung im Einverständnis mit Foucault etwas gekürzt wurde, ist jene „Erfahrungsstruktur des Wahnsinns, die völlig von der Geschichte abhängt, die aber an ihren Grenzen und dort ruht, wo diese sich entscheidet“ (S. 13). Anders ausgedrückt: Der Wahnsinn ist laut Foucault ein Produkt der Zivilisation.

Es ist nicht möglich, das ungeheuer umfangreiche Material, das Foucault zusammengetragen hat, zusammenzufassen. Deshalb beschränke ich mich hier auf die Wiedergabe einiger seiner Einsichten:

  • Auf dem Gemälde „Das Narrenschiff“ von Hieronymus Bosch (um 1450-1516), das eine vernunftlose Welt zeigt, übertrifft laut Foucault der Arzt (= der Mönch?) „seine Patienten an Wahnsinn […], weil seine falsche Wissenschaft kaum etwas anderes erreicht hat, als auf ihm die schlimmsten Hinterlassenschaften eines Wahnsinns abzuladen, den alle außer ihm sehen können“ (S. 47).

Man kann sich darüber streiten, was auf dem Gemälde zu sehen ist. Der Mönch könnte auch ein Wärter oder ein einfacher Geistlicher sein. Sturla J. Gudlaugsson ist der Ansicht, das das Gemälde „eine Satire ganz in der Art des Sebastian Brant“ sei und zeige, wie unter „geräuschvollen Späßen […] eine lockere Gesellschaft im ungesteuerten, leichten Fahrzeug ziellos“ dahintreibe (KML 2/78).

Henri Gouhier, Vorsitzender des Pomotionsausschusses, dem Foucault „Wahnsinn und Gesellschaft“ als Dissertation vorlegte, lehnte seine Beschreibungen der Bilder von Bosch ab. Doch Foucault bestand trotz aller Einwände. 1962 wurde er Ordentlicher Professor.

Foucault bringt das Gemälde von Bosch in Zusammenhang mit einem Gedicht von Sebastian Brant (1458-1521): „Ist das berühmte Narrenschiff Boschs nicht die direkte Übersetzung des Narrenschiffs von Brant, dessen Titel es trägt und dessen 16. Gesang es sehr genau zu illustrieren scheint […]?“ (S. 35f)

Der Inhalt dieses 16. Gesangs: Wer nur an Fressen und Saufen denkt, „zerstört Vernunft und Sinne“ (S. 63). Ein Besoffener achtet niemand, wird lüstern, ehrlos und lasterhaft, unfrei, unglücklich und arm. Er stirbt früh. Wein macht sogar Weise zu Narren, wenn sie „Maß und Ziel“ aus den Augen verlieren (S. 66).

In der gereimten Moralsatire „Das Narren Schyff“ (1494) wollte Brant an Weisheit, Vernunft und gute Sitten erinnern sowie Narretei, Blindheit, Irrsinn und Torheit anprangern. Der Satire sind Holzschnitte beigefügt, auf denen alle „von Brant gesammelten Schwächen, Vergehen und Laster […] personifiziert“ sind (Christoph Stoll, in: KNLL 3/45).

„Vorbild für die anthropomorphe Verbildlichung abstrakter Narrheit dürfte der Katalog der sieben Todsünden gewesen sein […]: Hoffart, Wollust, Völlerei, Neid, Trägheit, Geiz und Zorn. Sie finden sich denn auch im Narrenschiff als Substrat menschlicher Torheiten […]. Daneben stehen, wiederum als Narrheit gedeutet, Verstöße gegen die Zehn Gebote“ und „Alltagstorheiten“ (Stoll, KNLL 3/45f).

Das Motto: „Sünde ist Narrheit, und Narrheit ist Sünde.“ Dabei kommt es weniger auf die „(ohnedies unvermeidliche) Sündhaftigkeit“ an, sondern auf die „verstockte Weigerung, sich als Sünder-Narr zu erkennen“ (Stoll, KNLL 3/46). Das entspricht dem modernen Gedanken der fehlenden Krankheitseinsicht von Psychiatriepatienten. Das von Brant empfohlene Heilmittel dagegen ist die Selbsterkenntnis: Wer bei der Lektüre seiner Satire die eigene Narretei wiedergespiegelt finde, könne dadurch weise werden.

Wieder Foucault: „Das Mittelalter hatte dem Wahnsinn in der Hierarchie der Laster einen Platz eingeräumt“ (S. 42).

  • Im literarischen „Thema des Narrenhauses […] findet jede Wahnsinnsform ihren eigenen Platz, ihre Kennzeichen und ihren Schutzgott“ (S. 65).
  • Das „Zeitalter der Klassik“ bringt „den Wahnsinn […] zum Schweigen“ (S. 68): Wer denken kann, ist nicht verrückt.
  • Ein Zehntel der im Pariser Hôpital général Internierten gilt als verrückt. Aber: „Zwischen ihnen und den anderen besteht kein Zeichen einer Unterscheidung“ (S. 99).

An der Hospitalisierung sind nicht nur Ärzte, sondern auch Juristen beteiligt. „Ein Jurist kann einen Geisteskranken an seinen Worten erkennen, wenn dieser nicht in der Lage ist, sie zu ordnen. Er kann ihn auch an seinen Handlungen erkennen, an einer Inkohärenz seiner Gesten oder Absurdität seines bürgerlichen Benehmens […]. Das sind jedoch nur Vorgefühle, allein der Arzt kann sie in Gewißheit verwandeln“ (S. 117).

  • Honoré Gabriel Riqueti, Graf von Mirabeau (1749-1791), der „wegen seines ausschweifenden Lebenswandels“ (MEL 16/295) von seinem Vater mehrmals ins Gefängnis gesteckt wurde, erkannte, daß Krankenhäuser krank und Gefängnisse verbrecherisch machen.

Foucault kommentiert: „Die Situation des im Hospital befindlichen Kranken bringt besondere Krankheiten mit sich […]. Das Hospital ist so, wie die Internierung Schöpferin der Armut war, Schöpfer von Krankheiten.“ Dagegen sei „die Familie oder wenigstens die unmittelbare Umgebung des Kranken“ der „natürliche Ort der Heilung“ (S. 432).

  • Im 19. Jahrhundert wurde durch die Internierung versucht, „den Wahnsinn auf seine Wahrheit zu reduzieren“ (S. 496).

Wilhelm Miklenitsch faßt Foucaults Intention so zusammen: „Es geht Foucault darum, […] die […] Binnenstrukturen des wahnsinnigen In-der-Welt-Seins und die darüber errichtete Begrifflichkeit […] auf ihre Weltdimension zu öffnen und zu zeigen, daß ‚der‘ Wahnsinn nur als kulturelles Phänomen existiert, das eine Geschichte hat“ (in: KNLL 5/723).

Die Ordnung der Dinge (1966)

Die Lektüre dieses Buchs ist eine ziemliche Zumutung. Das mag daran liegen, daß Foucault im Vorwort zur deutschen Ausgabe bekennt: „Als ich das Buch schrieb, gab es viele Dinge, die mir unklar waren: einige schienen mir zu offensichtlich, andere zu dunkel“ (S. 9). „Viele Fragen sind darin zur Sprache gekommen, die noch keine Antworten gefunden haben; und viele Lücken verweisen entweder auf frühere Werke oder andere, die noch nicht fertiggestellt oder noch nicht einmal begonnen worden sind“ (S. 12).

Foucault „wollte […] das Wissen von den Lebewesen“, den Sprachgesetzen und den „ökonomischen Fakten“ „nebeneinander […] zeigen […] und sie mit dem philosophischen Diskurs ihrer Zeit [17.-19. Jh.] in Verbindung […] setzen“ (S. 10). Er „wollte […] ein positives Unbewußtes des Wissens […] enthüllen: eine Ebene, die dem Bewußtsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist“ (S. 11f).

Ausgangspunkt war die Klassifizierung der Tiere in einer chinesischen Enzyklopädie: „‚a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen'“ (S. 17).

Foucault schreibt, er habe über diesen Text gelacht, doch er zeigt, worum es ihm selbst geht: Wie kann man es besser machen? Wie wurde es besser gemacht? Oder nur anders? Es geht darum, die Dinge zu ordnen. Das wurde je nach Kultur und Epoche auf ganz verschiedene Weise geleistet.

Foucault unterscheidet dabei drei Elemente: „die Ordnungscodes“, „die Reflexion über die Ordnung“ und dazwischen „die nackte Erfahrung der Ordnung und ihrer Seinsweisen.“ Diese Erfahrung will Foucault „analysieren“: Er will „zeigen, was sie seit dem sechzehnten Jahrhundert inmitten einer Kultur wie der unseren hat werden können, auf welche Weise unsere Kultur […] manifestiert hat, daß es Ordnung gab und daß den Modalitäten dieser Ordnung der Warentausch seine Gesetze, die Lebewesen ihre Regelmäßigkeit, die Wörter ihre Verkettung und ihren Zeichenwert verdankten“ (S. 24).

Erster Teil. Im wesentlichen behauptet Foucault, daß im 17. und 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Klassik, die Sprache die Naturgeschichte und das Geld konstituierte. Damit meint er, daß die beiden Letztgenannten „auf die Weise der Sprache funktionieren“ (S. 255). Das Geld repräsentiert als Zeichen einen bestimmten Wert, in der Naturgeschichte stehen die Klassifizierungen für Mineralien, Pflanzen, Tiere usw.

Das bedeutet für das Zeitalter der Klassik: Was davor aufgrund von Ähnlichkeiten verglichen wurde (Signaturenlehre), wird nun im Hinblick auf Maß und Ordnung analysiert. „An der Schwelle des klassischen Zeitalters hört das Zeichen auf, eine Gestalt der Welt zu sein, und es ist nicht länger mit dem verbunden, was es durch die festen und geheimnisvollen Bänder der Ähnlichkeit oder der Affinität markiert“ (S. 92).

Foucault illustriert den Übergang von der Renaissance zur Klassik anhand des „Don Quichotte“ von Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616): Hier „enden die alten Spiele der Ähnlichkeit und der Zeichen, knüpfen sich bereits neue Beziehungen“ (S. 78). „In dem zweiten Teil des Romans trifft Don Quichotte auf Personen, die den ersten Teil des Buches gelesen haben.“ Er ist selbst „zu einem Buch geworden, das seine Wahrheit enthält […] und schließlich erlaubt, daß man ihn solange erkennt, als er all diesen Zeichen ähnelt, deren unauslöschbare Spur er hinter sich gelassen hat“ (S. 80). Don Quichotte „sieht überall nur Ähnlichkeiten und Zeichen der Ähnlichkeit. Alle Zeichen ähneln sich für ihn, und alle Ähnlichkeiten haben den Wert von Zeichen“ (S. 81).

Mit der Auffassung der Sprache als Zeichen gesellte sich Foucault in den Umkreis der Strukturalisten: „Charakteristisch für das strukturalistische Verfahren ist die Konzeption der Sprache als ein System distinkter Zeichen“ (Dieter Teichert und Hans Rott, EPhW 4/109).

Doch Foucault wandte „nicht im eigentlichen Sinne“ strukturalistische Verfahren „auf philosophische Probleme“ an, sondern reflektierte „über Implikationen und Konsequenzen des Strukturalismus“ (a.a.O., EPhW 4/111).

In „Die Ordnung der Dinge“ hielt Foucault den Strukturalismus für „keine neue Methode“, sondern für „das erwachte und unruhige Bewußtsein des modernen Wissens“ (S. 260). „Sehr bald weigert sich Foucault, sich als Strukturalist bezeichnen zu lassen, und hält schließlich die einfache Tatsache, unter diese Kategorie subsumiert zu werden, für einen aggressiven Akt“ (Eribon 259f).

Den Übergang von der Klassik zum 19. Jahrhundert illustriert Foucault anhand der Romane über Justine und Juliette des Donatien-Alphonse-François Marquis de Sade (1740-1814). Während in „Don Quichotte“ die „Repräsentation über die Ähnlichkeit“ ironisch triumphiert, schlägt bei de Sade „die dunkle, wiederholte Gewalt des Verlangens […] an die Grenzen der Repräsentation“. Während in Justine „das Verlangen und die Repräsentation nur durch die Präsenz eines Anderen“ kommunizieren, „entfaltet die große Erzählung des Lebens Juliettes […] das glitzernde Bild der Repräsentation“ (S. 263).

„Don Quichotte“ eröffnet das Zeitalter der Klassik, de Sade schließt es ab. „Von ihm an werden Gewalt, Leben und Tod, Verlangen, Sexualität unterhalb der Repräsentation eine immense, schattige Schicht ausbreiten, die wir jetzt so, wie wir können, wieder in unseren Diskurs, in unsere Freiheit, in unser Denken aufzunehmen versuchen“ (S. 264).

Zweiter Teil. Was das bedeutet, verstehen wir erst, wenn wir lesen, was Foucault über das 19. Jahrhundert schreibt: Jetzt werden die Klassifizierung in der Naturgeschichte „und die Reichtümer eine Seinsweise erlangen, die nicht mehr mit der der Repräsentation vereinbar ist“ (S. 274). Das Merkmal, um Pflanzen einzuordnen, wird „nicht mehr direkt der sichtbaren Struktur entnommen […]. Es gründet sich auf die Existenz für das Lebewesen wesentlicher Funktionen und auf Beziehungen der Wichtigkeit, die nicht mehr allein von der Beschreibung abhängen“ (S. 281).

Es kann vorkommen, „daß die bedeutendsten Merkmale am verborgensten sind“ (S. 282). Pflanzen werden nicht mehr nach dem Aussehen von Blüten und Früchten geordnet, sondern etwa nach dem Keimapparat oder den Samenlappen. Dasselbe gilt für die Tiere. „Klassifizieren heißt also nicht mehr, das Sichtbare auf sich selbst beziehen, indem man einem seiner Elemente die Aufgabe überträgt, die anderen zu repräsentieren, sondern heißt, […] das Sichtbare wie auf seine tiefe Ursache auf das Unsichtbare zu beziehen, dann aus dieser geheimen Architektur wieder zu deren manifesten Zeichen hinaufzusteigen, die an der Oberfläche der Körper gegeben sind“ (S. 283).

Die Beziehung zwischen Sprache und Dingen ändert sich: „Die Ordnung der Wörter und die Ordnung der Wesen decken sich nur noch in einer künstlich definierten Linie. […] Man beginnt, über Dinge zu sprechen, die in einem anderen Raum als die Wörter statthaben“ (S. 285). Das sind in der Grammatik die Flexion, in der Naturgeschichte die Organisation und bei der Bewertung der Gegenstände die Arbeit.

Aus der Grammatik wird die Philologie, aus der Naturgeschichte die Biologie (mit dem Vitalismus) und aus der „Analyse der Reichtümer“ die Politische Ökonomie (S. 309). Der Wert ist kein Zeichen mehr, sondern wird zum Produkt.

Foucault betrachtet de Sade geradezu als Propheten: Er verkündete, daß „das Leben nicht vom Mord, die Natur nicht vom Bösen, das Verlangen nicht von der Gegennatur getrennt werden kann“. In diesem Sinne betrachtet Foucault de Sades „120 Tage von Sodom“ als „die schneckenartige und wunderbare Umkehrung“ von Cuviers „Vorlesungen über vergleichende Anatomie“ (S. 339).

Die Ausführungen Foucaults über das Auftauchen und Verschwinden des Menschen beziehen sich auf dreierlei:

  • Perioden der Evolution (vormenschlich, menschlich, nachmenschlich);
  • verschiedene Bilder vom Menschen (metaphysisch: der Mensch ist unsterblich/unendlich; positivistisch: der Mensch ist sterblich/endlich; empirisch/phänomenologisch: man versucht, „den Schleier des Unbewußten zu lüften“, S. 394);
  • verschiedene Bewußtseinsstufen des Menschen (Foucault weist auf Nietzsches Übermensch und zwei verschiedene Stadien der Ethik hin: die antike Ethik etwa der Stoiker oder Epikureer ist aus der Weltordnung abgeleitet, bei der modernen Ethik geht es nicht mehr um Moral, sondern nur noch um „Bewußtwerdung“, S. 395).

Zur Rezeption. Das Buch, das im April 1966 erschien, wurde (verglichen mit anderen philosophischen Werken) ein großer Verkaufserfolg. Ende September 1966 waren bereits 15000 Exemplare verkauft, so daß im November die fünfte Auflage über 3500 Exemplare gedruckt wurde. Es galt als schick, sich mit dem Buch zu zeigen, um dazuzugehören. Das mag daran liegen, daß seit „Anfang der sechziger Jahre […] alle Intellektuellenzeitschriften in jedem ihrer Hefte vom Strukturalismus“ sprachen (Eribon 249).

Eribon faßt den „Leitfaden“ des Werks so zusammen: „Jede Epoche ist durch eine unterirdische Konfiguration charakterisiert, die ihre Kultur hervortreten läßt, einen Wissensraster, der jeden wissenschafltichen Diskurs, jede Aussagenproduktion erst ermöglicht […]: Tiefenschichten, die definieren und umgrenzen, was eine Epoche denken – oder nicht denken – kann“ (S. 245).

Sartre kritisierte in einem Interview das Buch heftig: Es handle sich um keine „Archäologie der Humanwissenschaften“ (so der Untertitel), sondern bloß um „eine Geologie: die Reihe sukzessiver Schichten, die unseren ‚Boden‘ bilden. Jede dieser Schichten definiert die Bedingungen der Möglichkeit einer bestimmten Denkweise, die im Laufe einer bestimmten Periode triumphiert hat. Aber Foucault erklärt uns nicht, was ja gerade das Interessanteste wäre: nämlich wie jedes Denken von diesen Bedingungen aus strukturiert wird und wie die Menschen von einem Denken zum anderen übergehen. Dazu müßte er die Praxis ins Spiel bringen, also die Geschichte, und eben das lehnt er ab. […] Foucault gibt den Leuten, was sie brauchen: eine eklektische Synthese, […] um die Unmöglichkeit historischer Reflexion zu demonstrieren“ (zit. n. Eribon 254).

Würdigung und Kritik. „Die Ordnung der Dinge“ ist ein Stück Geschichtsphilosophie, mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte der Humanwissenschaften. Die Geschichte betrachtet Foucault als „die erste und gewissermaßen die Mutter aller Wissenschaften vom Menschen“ (S. 439).

Er postuliert drei Perioden:

  • 15./16. Jahrhundert (Renaissance): Ordnung anhand von Ähnlichkeiten (Signaturenlehre);
  • 17./18. Jahrhundert (Klassik): Ordnung auf der Basis einer linguistischen Analyse;
  • 19. Jahrhundert (Romantik, Foucault: „Modernität“, S. 368 und 383 – für Hegel u.a. war „romantisch“ = „modern“, vgl. EPhW 3/636): Ordnung auf der Basis einer anatomischen Analyse unter Berücksichtigung der Funktionen.

Daß im 17./18. Jh. „keine Philosophie, keine politische oder moralische Option, keine empirische Wissenschaft gleich welcher Art, keine Beobachtung des menschlichen Körpers, keine Analyse der Sinneswahrnehmung, der Vorstellungskraft oder der Leidenschaft […] jemals […] auf etwas wie den Menschen gestoßen“ sein soll (S. 413), kann ich nicht nachvollziehen.

Daß die Bezeichnung „Anthropologie“ erst „etwa seit dem 16. Jh.“ ein „Titel für die Lehre von der Natur des Menschen“ aufkam (Oswald Schwemmer, in: EPhW 1/126), bedeutet nicht, daß danach nicht schon vorher gefragt wurde. Beispiele findet man in der gesamten Geschichte der Philosophie und Religion.

Daß keine Epoche den Menschen so gedacht hat wie das 19. Jahrhundert (S. 384), ist eine Binsenweisheit, wobei fraglich ist, ob das Denken des 19. Jahrhunderts einen Fortschritt gegenüber etwa der Bibel, Platon, Aristoteles oder Thomas von Aquin bedeutet.

Oder wollte Foucault einfach folgendes sagen: Seit der Mensch im 19. Jahrhundert in den Focus der Analyse rückte, hat er angefangen, sich aufzulösen, sozusagen von einer lebendigen Seele in ein Aggregat von Atomen, oder, noch schlimmer, in ein Konstrukt von Worten?

Insgesamt erscheinen mir Foucaults Ausführungen in „Die Ordnung der Dinge“ als eine Konstruktion, die weiter von der Wirklichkeit entfernt ist, als wenn er versucht hätte, einzelnen Autoren insgesamt gerecht zu werden.

Wem das als zu hart erscheint, der vergleiche das Gesamtwerk Nietzsches (also auch den Nachlaß und die Briefe) mit dem, was Foucault über ihn schreibt: „Durch eine philologische Kritik, durch eine bestimmte Form des Biologismus hat Nietzsche den Punkt wiedergefunden, an dem Mensch und Gott sich gehören, an dem der Tod des zweiten synonym mit dem Verschwinden des ersten ist und wo die Verheißung des Übermenschen zunächst und vor allem das Bevorstehen des Todes des Menschen bedeutet“ (S. 412).

Ich habe den Verdacht, daß Foucault die Philosophie Nietzsches nur als Sprungbrett für seine eigene Philosophie benutzte (und entsprechende Gedanken Nietzsches auswählte, die für ihn insgesamt nicht einmal wesentlich sind): Aus dem Tod Gottes bei Nietzsche macht Foucault das „Ende des Menschen“, das er als „jenes geringe, jenes unwahrnehmbare Verschieben, jenes Zurückweichen in der Form der Identität, die aus der Endlichkeit des Menschen sein Ende haben werden lassen“, näher bestimmt (S. 460).

Dabei ging es bei Nietzsche nur um den Tod des Gottes der Theologen. Dem entspricht bei Foucault die Feststellung, daß Ethnologie und Psychoanalyse „den Menschen auflösen“ (S. 453), ja „‚kaputt‘ […] machen“ (S. 454).

Eine ähnliche Feststellung wie die über Nietzsche macht Foucault über Freud, der ihm zufolge „mehr als jeder andere die Erkenntnis des Menschen von dessen philologischem und linguistischem Modell her befördert“ habe. Freud habe zuerst „die Teilung des Positiven und des Negativen auszulöschen“ unternommen, genauer: „des Normalen und des Pathologischen, des Begreifbaren und des Nichtmitteilbaren, des Bedeutenden und des Nichtsbedeutenden“ (S. 432).

So wie Foucault bei Nietzsche das Wesentliche gar nicht in den Blick bekommt, nämlich, daß er das Leid der Menschen lindern wollte, sieht er auch bei Freud das Wesentliche nicht: daß Menschen in seiner Gegenwart über Dinge sprechen konnten, die sie nicht einmal ihren engsten Freunden oder Angehörigen mitteilen konnten.

Überwachen und Strafen (1975)

Foucault faßt den Inhalt in einem einzigen Satz zusammen: „Thema dieses Buches ist eine Korrelationsgeschichte der modernen Seele und einer neuen Richtgewalt“ (S. 33).

Bemerkenswert sind seine Überlegungen zur Beibehaltung der Gefängnisse trotz der hohen Rückfälligkeitsraten: sie produzieren kontrollierbare Delinquenten. Foucault definiert so: der Rechtsbrecher verletzt das Gesetz, der Delinquent die Norm. So gesehen hat die Inhaftierung doch einen Erfolg:

„Anstatt von einem Versagen des Gefängnisses bei der Eindämmung der Kriminalität sollte man vielleicht davon sprechen, daß es dem Gefängnis sehr gut gelungen ist, die Delinquenz als einen spezifischen, politisch und wirtschaftlich weniger gefährlichen und sogar nützlichen Typ von Gesetzwidrigkeit zu produzieren; es ist ihm gelungen, die Delinquenz als ein anscheinend an den Rand gedrängtes, tatsächlich aber zentral kontrolliertes Milieu zu produzieren; es ist ihm gelungen, den Delinquenten als pathologisiertes Subjekt zu produzieren“ (S. 357).

Konkret werden aus den Delinquenten Zuhälter, Drogendealer, Denunzianten, Spitzel, Kolonisten, Geldeintreiber, Waffenhändler. Sie alle sorgen dafür, daß der Kreislauf (Straftat – Haft – Delinquenz) nicht nur in Gang bleibt, sondern auch Zuwachs von außen erhält: „Die polizeiliche Überwachung liefert dem Gefängnis die Straftäter, die dieses zu Delinquenten transformiert, welche dann zu Zielscheiben und Hilfskräften der Polizei werden und einige aus ihren Reihen regelmäßig wiederum ins Gefängnis bringen“ (S. 363f).

Kontrolliert werden sie über das Polizeiregister. Sie dienen der Überwachung der gesamten Bevölkerung, besonders der Arbeiter. Zu gewinnen bzw. zu zwingen sind sie einfach, da sie nach der Haft arbeitslos sind.

Sexualität und Wahrheit (1976-84)

Das Werk umfaßt drei Bände. Den zweiten und dritten Band hat Foucault acht Jahre nach dem ersten Band veröffentlicht. Den vierten Band, niedergeschrieben 1981/82, wollte Foucault noch überarbeiten. Er erschien entgegen seinem letzten Willen 2019 postum. Ursprünglich waren sechs Bände geplant.

Der Wille zum Wissen (1976). Foucaults grundlegende These ist, „daß man um den Sex herum einen unübersehbaren Apparat konstruiert hat, der die Wahrheit produzieren soll – wenn er sie auch im letzten Augenblick verhüllt. Entscheidend ist, daß der Sex nicht nur eine Angelegenheit von Gefühl und Lust, Gesetz und Verbot, sondern ebenfalls eine von wahr und falsch […] geworden ist“ (S. 73).

Eribon meint: „Der Wille zum Wissen ist ein sehr schmales Buch, in dem sich dennoch der ganze Foucault zu finden, zu bündeln scheint. In seinen Augen aber ist es nur ein Vorspiel, der Prolog zu einer Reihe historischer Forschungen, die die Ausgangshypothese verifizieren sollen“ (S. 391). „Die Zahl der angeschnittenen Themen und Probleme […] ist derart weitläufig, daß es zu ihrer genauen Analyse eines ganzen Buches bedürfte“ (S. 388).

Der Gebrauch der Lüste (1984). Foucault „möchte […] einige allgemeine Züge hervorheben, die die Art und Weise charakterisieren, in der das sexuelle Verhalten vom klassischen griechischen Denken als Bereich moralischer Einschätzung und moralischer Optionen reflektiert worden ist“ (S. 44).

Die Sorge um sich (1984). Anhand der griechischen Kultur zeigt Foucault, „daß hier die Kunst der Existenz […] von dem Prinzip beherrscht wird, wonach man ‚für sich selbst sorgen‘ muß“ (S. 60). In Platons Apologie präsentiere sich Sokrates „seinen Richtern geradewegs als Meister der Sorge um sich“: seine Berufung bestehe darin, „die Menschen zu mahnen, daß sie sich sorgen, nicht um ihre Reichtümer, nicht um ihre Ehre, sondern um sich selbst und um ihre Seele“ (S. 61).

Die entsprechende Stelle bei Platon lautet so: „‚Meine Mitbürger, euere Güte und Freundlichkeit weiß ich sehr zu schätzen, gehorchen aber werde ich mehr dem Gotte als euch, und solange ich noch Atem und Kraft habe, werde ich nicht aufhören der Wahrheit nachzuforschen und euch zu mahnen und aufzuklären und jedem von euch, mit dem mich der Zufall zusammenführt, in meiner gewohnten Weise ins Gewissen zu reden: Wie, mein Bester, du, ein Athener, Bürger der größten und durch Geistesbildung und Macht hervorragendsten Stadt, schämst dich nicht, für möglichste Füllung deines Geldbeutels zu sorgen und auf Ruhm und Ehre zu sinnen, aber um Einsicht, Wahrheit und möglichste Besserung deiner Seele kümmerst du dich nicht und machst dir darüber keine Sorge?'“ (29de)

Die Geständnisse des Fleisches (verfaßt 1981/82, erschienen 2019). Zunächst ein Lektüretip: Die im Vorwort von Frédéric Gros erwähnten Begriffe „Exomologese“ (Geständnis, Bekenntnis) und Exagoreusis (Verkündung, Bericht) erklärt Foucault in Anhang 2: Die Exomologese ist „das Prüfungs-Geständnis des Mönchslebens“ (S. 489), die Exagoreusis ist eine ständige Beobachtung des eigenen Gedankenlebens, um die Täuschungen und Versuchungen des Teufels zu entdecken, mit dem Ziel, sie zu entlarven bzw. ihnen zu widerstehen.

Im ersten Kapitel stellt Foucault fest, daß die Kirchenväter inbezug auf die Ehe ungefähr dasselbe sagen wie die antiken Philosophen: es gilt, das sexuelle Verlangen zu zügeln; eine zweite Ehe wird abgelehnt; es besteht ein Mißtrauen gegenüber der Lust. Bei den Äußerungen der Kirchenväter über die Taufe, die Buße und die Führung der Mönche, die Foucault zusammengetragen hat, fragt man sich, was das mit der Sexualität zu tun hat. Antwort: Sie reinigen von der Sünde der Sexualität.

Das zweite Kapitel handelt von der Jungfräulichkeit. Der Unterschied zwischen Enthaltsamkeit, die große Anstrengung kostet, und Keuschheit, in der man den Kampf gewonnen hat, entspricht ungefähr dem Unterschied zwischen dem Übergangsstadium Sozialismus und dem Endstadium Kommunismus („Der Marxismus weist viele Gemeinsamkeiten mit den mosaisch-christlichen Religionen auf“, Löw 222).

Im dritten Kapitel über die Ehe geht Foucault ausführlich auf die Auffassung vor allem des Chrysostomus ein, daß die Ehe der Dämpfung der Geschlechtslust diene und deshalb die Ehepartner zum Sex verpflichtet seien. Wer den Sex verweigere, tue dem andern Gewalt an bzw. versäume die Begleichung einer Schuld. Einvernehmlicher Verzicht auf Sex ist erlaubt, aber nicht auf Dauer. Die Grundlage dafür finden wir bei Paulus, der die Ehe als Zugeständnis für diejenigen betrachtete, die nicht sexuell enthaltsam leben können (vgl. 1 Kor 7,1-7). Foucault hebt das hervor, weil in diesem Punkt die christliche Ehemoral von der der Heiden abwich.

Darum ging es Foucault insgesamt, was man dann im Anhang 1 explizit erfährt: um die „Modifikationen“, die die Christen „am antiken Konzept der Lüste und ihrer Ökonomie“ vornahmen. „Diese Modifikationen erstrecken sich weniger auf die Teilung zwischen erlaubt und verboten als auf die Analyse des Bereichs der aphrodisia und auf die Art der Beziehung, die das Subjekt zu ihnen haben soll“ (S. 485).

Den Unterschied zwischen antiker und christlicher Sexualkonzeption faßt Foucault so zusammen: In der Antike galt der Koitus als Nachahmung des Todes und wurde „in eine allgemeine Ökonomie der Lüste und Kräfte eingegliedert“ (S. 480). Im Christentum ist es neu, daß der Koitus verrechtlicht wird: Es wird genau festgelegt, was wann wem wie erlaubt ist und was nicht.

Bleibt die Frage: Was hat das alles mit der Wahrheit zu tun? Foucaults Antwort: In der christlichen Auffassung zeige sich „die Wahrheit des Menschen als Subjekt […] in der Form, der jeder Geschlechtsakt unterworfen ist.“ Diese Form sei „auf die Struktur des Subjekts selbst“ zu beziehen (S. 464).

Die Unwillkürlichkeit der sexuellen Erregung gelte als eine Folge des Sündenfalls von Adam und Eva. Konkret: „Nun gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“ (Gen 3,7) bedeute dem Augustinus: Adam und Eva sahen die Erektion, „die das Geschlecht zum Subjekt des Aufstands und zum Objekt des Blicks macht“ (S. 449).

Foucault bettet das Thema der Sexualität in die spirituelle Entwicklung der Seele ein. Im Gegensatz zu Kritikern der christlichen Sexualmoral wie etwa Karlheinz Deschner und Uta Ranke-Heinemann wird Foucault den Kirchenvätern durchaus gerecht und nimmt sie ernst, wenn auch manchmal mit einem Augenzwinkern.

Vor dem Hintergrund seiner Auffassung der Philosophie als „‚kritische Arbeit des Denkens an sich selber'“ (Der Gebrauch der Lüste 15f) ist Foucaults Darstellung der Exagoreusis am wichtigsten: Es geht bei ihr „darum, das als Wahrheit ans Licht zu bringen, was von der Person noch nicht bekannt war. Und zwar auf zweierlei Weise: Indem man ans Licht bringt, was derart im Dunkeln war, dass niemand es erfassen konnte; und indem man die Trugbilder zerstört, die dazu führen, dass man falsches Geld für echtes, eine Einflüsterung des Teufels für eine wahre Eingebung Gottes hält“ (Die Geständnisse des Fleisches 200).

Die Exagoreusis erstreckt sich „nicht auf die vergangenen Handlungen […], sondern auf die Regung der Gedanken“ (S. 186); „das Ziel der Prüfung ist das Denken selbst […]; es geht also darum, eine Handlung, bevor sie erfolgt, dem Denken zu unterwerfen, indem man sie betrachtet und prüft“ (S. 187).

Die Prüfung der Gedanken entspricht der Arbeit eines Müllers, der gutes von schlechtem Korn unterscheidet, oder den Befehlen eines Feldherrn, der zu den einen Soldaten „sagt […], sie sollen gehen, und zu den anderen, sie sollen kommen“. Auch an die Tätigkeit eines Geldwechslers ist zu denken, „der die Münzen inspiziert, bevor er sie akzeptiert“ (S. 190).

Daran, wie schwer das ist, erinnert Basilius, indem er sich auf ein griechisches Sprichwort bezieht, das er „von den Listen des Teufels ausgehend neu“ deutet: „Neben der Tür zu einer jeden Tugend hat der Teufel eine ganz ähnliche zum Laster angebracht; man glaubt, an die erste zu klopfen, und es öffnet sich die andere“ (S. 289).

Der Dämon holt sich auch Feedback darüber, was seine Einflüsterungen bewirken. „Somit kann er sie fortsetzen, intensivieren, modifizieren; er kann diese Angriffe auch völlig ändern“ (S. 307). Es ist sehr schwierig zu erreichen, daß diese Angriffe aufhören. Doch einige Heilige haben es mit Gottes Hilfe geschafft. Am meisten sind diejenigen gefährdet, die sich nur auf ihre eigenen Kräfte und Fähigkeiten verlassen. Um den Fallen des Teufels zu widerstehen, muß man im Einzelfall herausfinden, was er will. Dann kann man das Gegenteil tun und ihn dadurch besiegen.

© Gunthard Rudolf Heller, 2022

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  • Sexualität und Wahrheit – Erster Band: Der Wille zum Wissen (1976), übersetzt von Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1983
  • Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit 2 (1984), übersetzt von Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1989
  • Die Sorge um sich – Sexualität und Wahrheit 3 (1984), übersetzt von Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt am Main 1989
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Gunthard Heller