Kleine Einführung in die Philosophie von Kierkegaard

Einführung in die Philosophie KierkegaardsDie
Werke von Sören Kierkegaard (1813-1855), meist unter einem
Pseudonym veröffentlicht, sind eine Zumutung. Interessant sind
sie eigentlich nur für Christen und Psychoanalytiker. Für
jeden anderen sind sie einfach nur viel zu umfangreich und belanglos.
Das "Tagebuch
des Verführers" am Schluß des ersten Teils von "Entweder
– Oder" mag zwar für Don Juans und Casanovas amüsant sein, doch
verantwortliche Liebhaber werden es als Gift empfinden, mit dem sie
ihre Seele nicht beschmutzen wollen.

Die
psychologischen Schlüssel zum Verständnis von Kierkegaard
sind die Beziehung zu seinem Vater, der als Jugendlicher "Gott
verflucht" hat
(Weischedel 231) und mit seinen erzieherischen Maßnahmen zur
Ausbildung des Denkens und der Phantasie dem Sohn mehr schadete als
nützte (Rohde 14 und 17f), und die Auflösung seiner
Verlobung mit Regine Olsen. "Der
Grund: Er fühlte sich nicht gut genug für sie. Der Weg: Er
spielte ihr den Schuft vor" (Schweizer 73). Der Rest ergibt sich aus seinem Theologie- und
Philosophiestudium. Schon der junge Kierkegaard empfand das
Christentum als kastrierend. So notierte er 1835:

"Wenn
ich eine Menge einzelner Phänomene in den christlichen Leben
betrachte, dann will es mir so scheinen, als sei das Christentum,
anstatt ihnen Kraft zu schenken – – ja, daß solche Individuen
im Vergleich zum Heiden durch das Christentum ihres Mannestums
beraubt sind und sich jetzt verhalten wie der Wallach zum Hengst
" (zit. n. Rohde 35).

Er
schreibt hier zwar von Beobachtungen an anderen Menschen, doch meines
Erachtens gilt diese Passage auch für ihn selbst. Daß er
sein Studium fünf Jahre später trotzdem mit der
theologischen Staatsprüfung abschloß, ist ein Wunder für
sich. Es wäre für ihn seelisch zweifellos gesünder
gewesen, die Theologie ganz an den Nagel zu hängen und nur
Philosophie zu studieren. Dann hätte er sich ein Gutteil
Quälerei erspart und sich früher vom pseudochristlichen
Dogmatismus befreit.

Für
den Einstieg am besten eignen sich die "Stadien
auf dem Lebensweg"
(1845), da sie alle drei
Lebenseinstellungen enthalten: die ästhetische (sinnliche), die
ethische und die eigentliche religiöse. Sie bereiten aus diesem
Grund auch gut vor auf die Lektüre von "Entweder
– Oder" (1843),
in dem ästhetische und ethische Lebensanschauung einander
ausführlich gegenübergestellt werden, während auf die
tatsächliche religiöse Anschauung Kierkegaards nur kurz
eingegangen wird.

Eher
psychologisch ausgerichtet sind "Der
Begriff Angst" (1844)
und "Die
Krankheit zum Tode"
(1849). Die "Philosophischen Brosamen" (1844), die
"Unwissenschaftliche Nachschrift" (1846), "Leben und
Walten der Liebe" (1847), "Der Augenblick" (1855), die
"Einübung im Christentum" (1850), "Zwei kurze
ethisch-religiöse Abhandlungen" (1849) und "Das Buch
Adler" (1847) kreisen sämtlich um’s Christentum.

Fast
unerträglich sind die "Erbaulichen Reden" (1847). Den
Inhalt der ersten Abteilung faßt Kierkegaard so zusammen:
Herzensreinheit bedeutet, "das
Gute in Wahrheit wollen
"
und "alles
dafür tun
"
bzw. "leiden
wollen
"
(im Original Sperrdruck, S. 84f; vgl. a. S. 126f). Das walzt er auf
151 Seiten aus. Ein kleiner Trost: Kierkegaard räumt ein, daß
er den Leser womöglich ermüdet – "denn eine
erbauliche Rede wird nicht müde" (S. 114). In der zweiten
Abteilung interpretiert Kierkegaard Mt 6,24-34. Die dritte Abteilung
enthält sieben Reden über Christusnachfolge und Leiden.

1.
Was heißt es, ein Christ zu sein?

Ein
Beispiel: Christoph Schrempf (1860-1944) wurde 1886 evangelischer
Pfarrer, nachdem seine Bedingung, er würde nur nach den
Evangelien der drei Synoptiker predigen, akzeptiert worden war. 1889
bewarb er sich wegen Reibungen "mit
einzelnen Lehren und Ordnungen der Kirche"
erfolglos "als Religionslehrer an einer höheren
Lehranstalt" (1/104). Schon
damals wurde er sich darüber klar,
daß er aus der Kirche austreten wollte. Nur über den
Zeitpunkt und die Art und Weise war er mit sich noch nicht im reinen.
1890 weigerte er sich, anläßlich einer Fahnenweihe des
Leuzendorfer Kriegervereins einen Gottesdienst abzuhalten. Der
Konflikt wurde durch die Beauftragung eines anderen Pfarrers gelöst.

Am
5. Juli 1891 änderte Schrempf den Wortlaut des Taufritus ab: Er
taufte das Kind nicht auf das evangelische Glaubensbekenntnis,
sondern auf Jesus Christus. Nachdem er sein Vorgehen dem kirchlichen
Dekanatamt Blaufelden mitgeteilt hatte, wurde er gerügt, daß
er einfach gehandelt hatte, anstatt sich vorher beraten zu lassen.
Von diesem Zeitpunkt an ließ er sich bei Taufen von Kollegen
vertreten. Seinen Glauben legte er der Oberkirchenbehörde am 6.
August 1891 in einem ausführlichen Schreiben dar und bat um
"eine sittlich unanfechtbare Wirksamkeit in ihrem Dienste"
(1/112).

Da
sich Schrempf bei der nächsten Taufe am 9. August 1891 vertreten
ließ, kamen Gerüchte auf "wie z. B., er verwerfe die
Kindertaufe und glaube an gar nichts" (1/132). Deshalb machte er
im Gottesdienst Tabula rasa: Man müsse zuerst Jesus gehorchen,
dann erst den kirchlichen Verordnungen. Falls das nicht möglich
sei, würde er lieber seiner "unwahren Amtsführung ein
Ende […] machen" (1/133). Daraufhin beschlossen der
Kirchengemeinderat und der Gemeinderat von Leuzendorf, Schrempf zu
bitten, sich beim nächsten Sonntagsgottesdienst von einem
Kollegen vertreten zu lassen.

Schrempf
antwortete, dazu sei er nicht befugt, und setzte das Königliche
Dekanatamt Blaufelden in Kenntnis. Gemeinderat und Kirchengemeinderat
verständigten das Königlich evangelische Konsistorium
Stuttgart darüber, an was Schrempf alles nicht glaube: an die
Empfängnis Jesu durch den Heiligen Geist; an Jesu physische
Himmelfahrt; an die leibliche Auferstehung aller Menschen; an das
evangelische Glaubensbekenntnis. Anschließend baten sie um
"dringende Abhilfe durch Berufung eines anderen Geistlichen.

Das
Vorkommnis hat in der ganzen Gemeinde Aufregung und Entrüstung
hervorgerufen, ganz besonders wirkt es auf die Jugend als eine
verderbliche Saat, welche niemals wieder gut gemacht werden kann"
(1/135). Daraufhin ließ Dekan Lang den widerspenstigen Pfarrer
durch einen Vikar vertreten. Das Königliche evangelische
Konsistorium verbot Schrempf die Ausübung seines Berufs, damit
der kirchliche Glauben nicht "verletzt und verwirrt werde",
und versprach die Einsetzung eines Amtsverwesers (1/136).

Schrempf
protestierte am 25. August 1891 dagegen. Das Königliche
evangelische Konsistorium schrieb nun an das Königliche
Dekanatamt, daß Schrempf weder in Leuzendorf bleiben noch
versetzt werden könne, "da die von ihm für den
einzelnen Geistlichen in Anspruch genommene unbeschränkte
Freiheit der Lehre durchaus unvereinbar ist mit dem Bestand einer
kirchlichen Gemeinschaft" (1/142). Es sei denn, er würde
widerrufen. Ansonsten müsse man ihn entlassen, es sei denn, er
würde freiwillig zurücktreten.

Inzwischen
war es November geworden. Schrempf beschwerte sich, daß der für
ihn eingesetzte Amtsverweser von seinem Gehalt bezahlt wurde. Auch
protestierte er gegen die Absicht, ihn zu entlassen. Daraufhin wurde
ihm eine Frist von drei Wochen zu seiner Verteidigung gesetzt.
Schrempf verteidigte sich nicht nur, sondern ging auch zum Angriff
über und beleuchtete "die sittliche Unordnung in der
evangelischen Landeskirche Württembergs schärfer", als
es ihm seine Achtung vor der Kirche und ihren Geistlichen
"wünschenswert macht". Die weitere Erfüllung der
Amtspflicht als einer "Schlinge für mein Gewissen"
lehnte er ab. Seine Beschwerde wurde zurückgewiesen, "da
Art. 111 des Beamtengesetzes vom 28. Juni 1876 auf Geistliche keine
Anwendung finde", doch für die Zeit vom 26. August 1891 bis
zum 25. Februar 1892 bekam er das halbe Gehalt ausbezahlt (1/168). Am
3. Juni 1892 wurde er entlassen. Seine Tochter taufte er 1893
trotzdem selbst, was zu einem neuen Konflikt mit der Kirche führte.

Erst
um 1900 fühlte sich Schrempf innerlich frei. Als ihm jemand den
Vorschlag machte, eine Zeitschrift ("Die Wahrheit")
herauszugeben, ging er darauf ein. Da er davon nicht leben konnte,
stellte er deren Erscheinen nach vier Jahren ein (3/XXIX). 1906
arbeitete er eine Rede mit dem Titel "Über die Frage des
Austritts aus der Kirche" aus (4/XXXVII). Nachdem er sein
Konfirmationsbekenntnis zurückgenommen hatte (2/LV), trat er
1909 aus der Kirche aus (4/XXXIX). Von 1909 bis 1929 übersetzte
er zusammen mit anderen die Werke Kierkegaards (4/XXXVIII). Bis 1914
hielt er jeden Sonntag eine öffentliche Rede (4/XLV).

2.
Schrempfs Auseinandersetzung mit Kierkegaard

Schrempf
übersetzte die Werke Kierkegaards nicht nur, sondern schrieb
auch darüber. "Denn
zum bloßen Übersetzer wollte ich mich doch nicht
degadieren" (4/XXXVIII). So verfaßte er 1927/28 eine umfangreiche
zweibändige Biographie (Gesammelte Werke Bd. 10 und 11) sowie
zwischen 1884 bis 1935 zahlreiche Aufsätze. 1935 faßte er
seine Erkenntnisse über Kierkegaard in "Der
Fall Kierkegaard" zusammen. Schrempfs Urteil ist vernichtend:

Kierkegaard
habe seine göttliche Berufung mißverstanden. Er habe

  • die Fehlerziehung durch seinen Vater nicht analysiert;
  • die Bibelkritik
    ignoriert;
  • die Notwendigkeit
    seiner eigenen Sünden nicht begriffen und
  • seine Verlobung
    aufgelöst, anstatt seine Braut zu heiraten.
  • Er sei
    Schriftsteller statt Seelsorger geworden.
  • Er habe sein Ideal
    des Christentums nicht gelebt.
  • Er sei dem
    unchristlichen Eifer um das Christentum aufgesessen, statt ihn zu
    entdecken.
  • Er habe sein
    Gewissen überhört, da es von anderen Stimmen übertönt
    worden sei: von der des Vaters, der Bibel, seiner Zeitgenossen sowie
    der seiner eigenen Leidenschaft und Klugheit (12/454-458).

Diese
seine Einschätzung führt Schrempf weiter zu der Frage:
Warum hat sich Gott von Kierkegaard mißverstehen lassen? Seine
Antwort: Gott verfolgte mit Kierkegaard einen höheren Zweck, den
dieser nicht durchschaute. Gott wollte anhand Kierkegaards
demonstrieren, welchen Schaden ein innerlich unfertiger Missionar
anrichtet. Dieser bringe nämlich weder sich selbst noch anderen
Klarheit. Indem Kierkegaard ständig nach den Fehlern seiner
Mitchristen gesucht habe, habe er die christliche Brüderlichkeit
verhindert. Außerdem habe Gott anhand des Schicksals von
Kierkegaard vorgeführt, daß das Neue Testament als
christliche Norm untauglich sei und es deshalb kein "normales
Christentum" geben
könne (12/461).

Abschließend
bemerkt Schrempf, Kierkegaard habe aus seiner realen Eigenart eine
illusionäre "Einzigartigkeit" erdichtet (12/462). Dadurch sei "seine
ursprünglich richtig geahnte […] Wirksamkeit unter
allerdings großem Lärm in einem bloßen ‚Fall
Kierkegaard‘ verpufft." Er
habe nicht einmal die Frage gestellt, ob er "seine Mission"
richtig verstanden habe und sei "also auch in illusorischer
Selbstgewißheit gestorben" (12/462f). Schrempf
räumt allerdings ein, daß ihm Kierkegaards Schicksal
unheimlich sei. Daraus zieht er zwei Schlüsse: 1. Die "zeitliche
Geschichte des Menschen" ist "nicht seine
ganze Geschichte". 2.
Schrempf "scheinen
[…] in Kierkegaards Leben […] Faktoren […]
vorhanden zu sein",
die ihm "wesentlich fremd sind" (12/463; Kursivdruck im Original gesperrt).

3.
"Johannes Climacus oder De omnibus dubitandum est –
Eine Erzählung"

Lesen
wir zusammen eine kleinere, unvollendete Schrift Kierkegaards aus dem
Winter 1842/43. Sie stammt aus dem Nachlaß und ist relativ
unbekannt geblieben. Doch sie "ist eins der wichtigsten Dokumente zum Verständnis des frühen
Kierkegaard" (Wolfgang Struve: Vorbemerkung, S. 6).

Der
heilige Johannes Climacus (Johannes Sinaites, Johannes Scholasticus),
das historische Vorbild für Kierkegaards Pseudonym "Johannes
Climacus", wurde vor
579 v. Chr. geboren. Der Mönch und Mystiker war "lange
Einsiedler, dann Abt des Sinaiklosters".
Er "schrieb die
weitverbreitete ‚Himmelsleiter‘ (‚Klĩmax
toũ paradeĩsou‘,
daher der Beiname), eine Anleitung zum asketisch-mystischen Leben".
Er starb "auf dem Berg Sinai um 649 (?)" (MEL 13/158).

Am
interessantesten sind die Bemerkungen über den Vater von
Johannes Climacus (= Kierkegaard). Er hindert das Kind am Herumtollen
im Freien und geht statt dessen im Zimmer mit ihm spazieren. Dabei
regt er die Phantasie des Jungen an, indem er so tut, als seien sie
tatsächlich draußen und sähen Straßen, Häuser
und Menschen. Ergebnis: Johannes ist "nach
einer halben Stunde Spazieren mit dem Vater so überwältigt
und müde […] als ob er einen ganzen Tag draußen
gewesen wäre" (S. 15).

Eine
zweite Erziehungsmethode des Vaters besteht darin, seinem Jungen
zuerst das eine und dann das Gegenteil zu beweisen. Johannes ist
hoffnungslos überfordert. Er kann nicht begreifen, wie auf
einmal alles falsch ist, was kurz davor noch richtig war.

Das
Ergebnis dieser Beziehung: Als junger Mann ist Johannes verliebt in
das Denken; "er
war und blieb fremd für die Welt" (S. 19). Er denkt lieber selbst, als daß er liest. Doch von
andern schnappt er einen Gedanken auf, der sich festsetzt: "de
omnibus dubitandum est" (S. 26) – an allem muß man zweifeln. Anhand dieses Satzes
schießt nun seine Denkwut ins Kraut. Zunächst dröselt
er ihn auf in drei Sätze: "1.
die Philosophie fängt mit Zweifel an; 2. man muß
gezweifelt haben, um zum Philosophieren zu kommen; 3. die neuere
Philosophie fängt mit Zweifel an" (S. 27).

Der
größte Teil der Schrift besteht nun in einem Herumwalken
dieser drei Sätze: inwiefern sie miteinander übereinstimmen,
inwiefern sie einander widersprechen, warum das so ist usw. Erst in
den Entwürfen zum zweiten Teil erfahren wir den "Plan
in dieser Erzählung":
Kierkegaard will "durch
die schwermütige Ironie",
die im Leben des Johannes liegt, "die
Philosophie rammen"
(S. 77f). Er zerbricht an seiner Beschäftigung mit dem Zweifel:

"Jetzt
verzweifelt er, sein Leben ist verspielt, seine Jugend ist mit diesen
Überlegungen hingegangen, das Leben hat nicht seine Bedeutung
für ihn bekommen, und all das ist die Schuld der Philosophie"
(S. 78).

Den
Schluß des zweiten Teils, der ansonsten in Stichworten und
unzusammenhängenden Bemerkungen besteht, hat Kierkegaard wieder
ausformuliert: "’So sind denn die Philosophen schlechter als die
Pharisäer, von welchen wir lesen, daß sie schwere Bürden
binden und selber sie nicht mit einem Finger heben’" (S. 78).
Das ist eine Anspielung auf Lk 11,46: "Weh auch euch
Gesetzeslehrern! Ihr ladet den Menschen Lasten auf, die sie kaum
tragen können, selbst aber rührt ihr keinen Finger dafür"
(zit. n. d. Einheitsübersetzung).

Kierkegaard
ließ das Werk als Fragment liegen. "Der
Anlaß hierfür ist: seine ehemalige Verlobte Regine Olsen,
von der er sich dadurch frei machen wollte, daß er vor ihr den
Betrüger spielte, hat ihm in der Frauenkirche am 16. April 1843
beim Abendgesang zweimal zugenickt und damit alle seine Anstrengungen
zunichte gemacht" (Struve, a.a.O., S. 8). Kierkegaard war erschüttert und
verarbeitete den Fehlschlag in "Die
Wiederholung" und "Furcht und Zittern".
Nachdem Regine sich mit Fritz Schlegel verlobt hatte, benutzte
Kierkegaard Johannes Climacus weiterhin als Pseudonym für seine
weiteren philosophischen Schriften. 1847 heiratete Regine ihren
Verlobten.

4. "Die Wiederholung –
Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie"

Kierkegaard
hat das Werk 1843 unter dem Pseudonym Constantin Constantius
herausgegeben. Er bearbeitet darin das Thema "Wiederholung" dialektisch: 1. Es gibt keine Wiederholung (S. 42, 45f). 2. Es gibt
eine Wiederholung (S. 71). 3. Durch wiederholte Prüfung
vergewissert sich Kierkegaard, daß es keine Wiederholung gibt
(S. 42). Im dritten Satz sind also die beiden ersten Sätze in
einer Art Hegelscher Synthese (Mediation) vermittelt. Kurz: "das
Wiederholte ist jeweils dasselbe und doch etwas ganz anderes" (Annemarie Pieper, in: KNLL 9/355).

Der
Rest ist Beiwerk: Kierkegaard


  • gebraucht das Wort "Wiederholung" in verschiedenen Bedeutungen (sie sei etwas Transzendentes, S. 53; ganz abstrus: auch daß Hiob seine Güter doppelt
    zurückbekommt, sei eine Wiederholungsvariante, S. 71),
  • knüpft es an
    verschiedene Erlebnisse (die Auflösung seines Verlöbnisses,
    eine Reise nach Berlin),
  • wiederholt in der
    vorliegenden Schrift zweimal dieselbe Thematik, einmal als
    persönliche Begegnung zwischen Freunden, das zweite Mal als
    Briefe des einen Freunds ohne Adressenangabe,
  • und
    befaßt sich in der vorliegenden Schrift nach "Entweder –
    Oder" zum zweiten Mal mit der Auflösung seines
    Verlöbnisses.

Bevor
man diese Struktur der Schrift verstanden hat, erscheint sie einem
nur geschwätzig, belanglos und zum Teil (alternativer Plan, ein
Mädchen loszuwerden) abstoßend. "Ihre
polemische Spitze war gegen HEGELS Begriff der Vermittlung gerichtet, durch den nach Kierkegaard alle
Gegensätze im Bewußtsein aufgehoben und nicht existentiell
ausgehalten werden" (Pieper,
a.a.O.).

Liselotte
Richter erklärt den Begriff "Wiederholung" folgendermaßen: "Wenn
man unter immer wiederholten Qualen frei geworden ist, kann es
geschehen, daß man nun wie Abraham oder Hiob das im Glauben
Geopferte auf eine höhere Weise wieder zurückerhält
und es in verklärter Form wiedererlebt im Sinne einer ’nach
vorwärts gewendeten Erinnerung‘, nachdem man durch die
Resignation hindurchgeläutert wurde. Diese ‚Doppelbewegung der
Unendichkeit‘ ist die Wiederholung" (Zum Verständnis der Werke,
in: Die Wiederholung – Die Krise, S. 119).

5.
"Furcht und Zittern – Dialektische Lyrik"

Das
Werk erschien am selben Tag wie "Die
Wiederholung" unter dem
Pseudonym "Johannes de Silentio"
und behandelt "dasselbe Thema auf andere Weise" (Heinrich
Fauteck, in: KNLL 9/354). Der
Titel ist aus Phil 2,12f entnommen. Kierkegaard zerlegt den Glauben
dialektisch anhand des abgebrochenen Menschenopfers von Abraham (Gen
22,1-19). Die einzelnen Schritte: 1. Abraham muß seinen Sohn
lieben. 2. Er muß ihn aus Gehorsam Gott gegenüber
ermorden. 3. Aus Abrahams Angst und Versuchung in dieser Situation
erwächst der Glaube.

Kierkegaard
reduziert die Thematik auf drei "Problemata": 1. "Gibt
es eine teleologische Suspension des Ethischen?
" (S. 46) 2. "Gibt
es eine absolute Pflicht gegen Gott?
"
(S. 62) 3. "War
es ethisch verantwortbar von Abraham, daß er sein Vorhaben vor
Sara, Elieser und Isaak verschwieg?
"
(S. 75)

Alle
drei Fragen sind auch heute noch aktuell. Die erste könnte man
so umformulieren: Heiligt der Zweck die Mittel? Die zweite wurde uns
anhand der Wiedergeburt des Kreuzzugsgedankens im Zusammenhang mit
dem zweiten Krieg gegen den Irak (2003) vor Augen geführt. Die
dritte ist ein ständiges Thema jeder Politik, wenn man an die
auch in Demokratien immer noch übliche Geheimhaltung bestimmter
Vorgänge denkt.

Es
gibt einen doppelten autobiographischen Hintergrund der
Opferthematik: Kierkegaard betrachtete sich im Hinblick auf seinen
Vater "als den
Geopferten […]; zugleich aber ist das Isaak-Opfer auch die
Preisgabe REGINES durch
die Auflösung der Verlobung: Kierkegaard mußte sein und
ihr Lebensglück seinem religiösen Auftrag opfern. Beide
Opferungen waren keine ethischen Handlungen, ebensowenig wie die
Opferung Isaaks, die doch zugleich die höchste Erprobung des
Glaubens war" (Richter, a.a.O., S. 118).

Bis
Kierkegaard erfuhr, daß Regine sich verlobt hatte, hoffte er,
sie "in höherem Sinne zurückzuerhalten, wie Abraham
den Isaak. […] So schreibt er am 17. Mai 1843 in sein
Tagebuch: ‚Hätte ich Glauben gehabt, wäre ich bei Regine
geblieben, das habe ich jetzt eingesehen …’" (ebd. 120).

Aber
wäre er dann der Philosoph geworden, der er geworden ist? Seine
eigenen Aussagen sprechen dagegen: "’Mancher
Mann ist ein Genie geworden durch ein Mädchen, mancher ein Held
durch ein Mädchen, mancher ein Dichter durch ein Mädchen,
mancher ein Heiliger durch ein Mädchen; – doch wurde er kein
Genie durch das Mädchen, das er bekam – mit ihr wurde er
nur Kommerzienrat; wurde er kein Held mit dem Mädchen, das er
bekam – durch sie wurde er nur General; wurde er kein Dichter
durch das Mädchen, das er bekam – durch sie wurde er nur
Vater; wurde er kein Heiliger durch das Mädchen, das er bekam;
denn er bekam überhaupt keins, und wollte nur ein einziges
haben, und das bekam er nicht, geradeso wie jeder von den anderen ein
Genie, Held, Dichter wurde durch das Mädchen, das er nicht bekam’" (Samlede Vaerker VI, 59; zit. n. Richter, a.a.O., S. 125).

6.
"Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen" (1851)

Kierkegaard
betrachtet hier die Bibel als Spiegel, in dem man sich selbst sehen
soll. Die Bibelkritiker vergleicht er mit Leuten, die den Spiegel
anstatt sich selbst in dem Spiegel betrachten. Er findet, daß
jemand, der Jesus nachfolgt, keine Beweise für die im Neuen
Testament berichteten Ereignisse (wie etwa Jesu Himmelfahrt) suchen
braucht: "Der Beweis
für das Christliche liegt nämlich eigentlich in der
‚Nachfolge’" (S. 56).

7.
"Richtet selbst! Zur Selbstprüfung der Gegenwart
anbefohlen" (1851/52)

Hier
führt Kierkegaard näher aus, was er unter Christsein
versteht: Jesus nachzufolgen heißt, Gott zu dienen und dafür
zu leiden. Das Entscheidende bei Jesus ist nicht die Lehre, sondern
sein Leben. Dementsprechend beginnt das Christsein nicht damit, daß
man etwas versteht oder glaubt, sondern damit, daß man in
seinem Leben "einen
entscheidenden Schritt" tut: "Hast du nämlich
den entscheidenden Schritt getan, infolgedessen du dein Leben dem
Leben dieser Welt entfremdest, in dem Leben dieser Welt dein Leben
nicht mehr haben kannst, dein Leben in Gegensatz zu dem Leben dieser
Welt bringst: so wirst du nach und nach in eine solche Spannung
versetzt werden, daß du auf das aufmerksam werden kannst, wovon
er [Jesus] redet" (S. 168).

8.
"Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als
Schriftsteller – Eine
direkte Mitteilung, Rapport an die Geschichte" (1859)

In
dieser erst nach seinem Tod erschienenen Schrift deckt Kierkegaard
seine Taktik als religiöser Schriftsteller auf: Eigentlich
wollte er seinen Mitmenschen klarmachen, wie man Christ wird. Doch da
sie seiner Meinung nach zwar dachten, sie seien Christen, aber keine
waren, mußte er erst ihre Einbildung beseitigen. Das tat er
dadurch, daß er das, was sie für Christentum hielten,
selbst produzierte: Ästhetik (Sinnlichkeit). Sein Ziel: Er
wollte die Menschen auf sich aufmerksam machen und sie dann zum
selbständigen Urteilen bringen.

Das
Ganze war ein Betrugsmanöver. Um dieses durchsichtig zu machen,
schrieb Kierkegaard unter Pseudonymen. Parallel dazu erweckte er
durch gezielte Auftritte in der Öffentlichkeit den Eindruck, er
sei ein Müßiggänger. Um den Verdacht nicht aufkommen
zu lassen, "Entweder
– Oder" sei von ihm,
bestritt er seine Verfasserschaft an mehreren seiner ebenfalls unter
Pseudonymen erschienenen Artikeln in verschiedenen Zeitschriften und
betonte, man solle nur dann an ihn als Autor denken, wenn sein Name
angegeben sei. Als er dann seine religiösen Schriften
veröffentlichte, stellte er seine Lebensweise entsprechend um
und sorgte dafür, daß er ausgelacht wurde.

Kierkegaards
zentraler Gedanke in seinen eigenen Worten: "Man beginnt also
[…] nicht so: ‚ich bin Christ, du bist kein Christ‘; sondern
so: ‚du bist ein Christ, ich bin keiner‘. Oder man beginnt nicht so:
‚das ist Christentum, was ich verkündige, und du lebst in bloß
ästhetischen Bestimmungen‘; nein, man beginnt so: ‚wir wollen
vom Ästhetischen reden.‘ Der Betrug besteht darin, daß man
so redet um gerade zum Religiösen zu kommen. Unsere
Voraussetzung ist ja aber auch die, daß der andere in der
Einbildung befangen ist, das Ästhetische sei das Christliche;
denn er meint, er sei Christ, und lebt doch in ästhetischen
Bestimmungen" (S. 29).

Das
klingt fürchterlich, darf aber nicht so verstanden werden, als
hätte Kierkegaard sich diese Strategie ausgedacht und danach
gelebt, also seine Mitmenschen an der Nase herumgeführt und sich
eingebildet, das sei christlich. Tatsächlich war seine
Schriftstellerphase als Ästhetiker eine Art Auskotzen ("eine
notwendige Ausleerung", S. 52), also ein Stück Therapie für
ihn selbst. Insgesamt hat
er seinen eigenen Weg zum Christentum dokumentiert. Er betont eigens, daß seine
Werke Ergebnisse eigener Reflexionen, also nicht göttlich inspiriert sind (S. 49). Kierkegaards Schicksal ist
also in erster Linie als Schule für ihn selbst zu verstehen. Daß
ein Missionar lügt, um andere zu Christen zu machen, ist ein
Widerspruch in sich, da neben der Liebe die Wahrheit ein zentraler
Wert des Neuen Testaments
ist.

In
einer Beilage bestimmt Kierkegaard schließlich, was er unter
dem Christentum versteht: als einzelner alleine vor Gott zu stehen
und ihm zu gehorchen.

Literaturverzeichnis

DIE
BIBEL – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,
Stuttgart/Klosterneuburg 41987

BLOCH,
Ernst: Sören Kierkegaard, in: Neuzeitliche Philosophie II –
Deutscher Idealismus. Die Philosophie des 19. Jahrhunderts –
Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie Band 4,
Frankfurt am Main 11985, S. 361-367

KIERKEGAARD,
Sören: Entweder – Oder, Deutsche Übersetzung von
Heinrich Fauteck, 2 Bände, München 1988


  • Über den
    Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates,
    aus dem Dänischen übersetzt von Emanuel Hirsch, unter
    Mitarbeit von Rose Hirsch, Gütersloh 1984
  • Stadien auf dem
    Lebensweg – Studien von Verschiedenen. Gesammelt, zum Druck
    befördert und herausgegeben von Hilarius Buchbinder (Kopenhagen
    1845), übersetzt von Christoph Schrempf und Wolfgang
    Pfleiderer, Jena 1922
  • Der Begriff Angst – Die Krankheit zum Tode, Übersetzungen von
    Christoph Schrempf und Hermann Gottsched, Wiesbaden 2005
  • Philosophische
    Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, aus dem Dänischen
    von B. und S. Diderichsen, München 2005
  • Furcht
    und Zittern, Übersetzung von Liselotte Richter, Frankfurt am
    Main 21988
  • Leben und Walten
    der Liebe (Kopenhagen 1847), übersetzt von Albert Dorner und
    Christoph Schrempf, Jena 1924
  • Der
    Augenblick, Übersetzung von Christoph Schrempf, Jena 21909
  • Einübung im
    Christentum – Zwei kurze ethisch-religiöse Abhandlungen –
    Das Buch Adler, aus dem Dänischen von Hans Winkler, Walter Rest
    und Theodor Haecker, München 2005
  • Erbauliche Reden in
    verschiedenem Geist (1847), aus dem Dänischen übersetzt
    von Hayo Gerdes, Gütersloh 1983
  • Johannes Climacus
    oder De omnibus dubitandum est, übersetzt und eingeleitet von
    Wolfgang Struve, Darmstadt 1948
  • Die Wiederholung –
    Die Krise. Mit Erinnerungen an Kierkegaard von Hans Bröchner,
    übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay ‚Zum
    Verständnis der Werke‘ herausgegeben von Liselotte Richter,
    Reinbek bei Hamburg 1966
  • Zur Selbstprüfung
    der Gegenwart anbefohlen, übersetzt
    von A. Dorner und Chr. Schrempf, Jena o. J.
  • Der Gesichtspunkt
    für meine Wirksamkeit als Schriftsteller – Zwei kleine
    ethisch-religiöse Abhandlungen – Über meine
    Wirksamkeit als Schriftsteller, übersetzt von A. Dorner und
    Chr. Schrempf, Werke Bd. 10, Jena 1922
  • Tagebücher
    1834-1855, ausgewählt und übertragen von Theodor Haecker,
    München 41953
  • Briefe,
    unter Mitarbeit von Rose Hirsch ausgewählt, neugeordnet und
    übersetzt von Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1955

KINDLERS
NEUES LITERATUR-LEXIKON, 21 Bände, hg. v. Walter Jens, München
1996 (KNLL)

LUKÁCS,
Georg: Kierkegaard, in: Die Zerstörung der Vernunft. Band I:
Irrationalismus zwischen den Revolutionen (1954), Darmstadt/Neuwied
1973, S. 219-269

MEYERS
ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81 (MEL)

ROHDE,
Peter P.: Sören Kierkegaard in Selbstzeugnissen und
Bilddokumenten, Hamburg 1974

SCHIERSE,
Franz Joseph: Konkordanz zur Einheitsübersetzung der Bibel,
Düsseldorf/Stuttgart 21986

SCHREMPF,
Christoph: Für die Kirche wider die Kirche, Gesammelte Werke
Band 1, Stuttgart 1930


  • Noch im Banne der Kirche, Gesammelte Werke Band 2, Stuttgart 1930
  • Noch im Banne der
    Moral, Gesammelte Werke Band 3, Stuttgart 1931
  • Über den
    Rubikon, Gesammelte Werke Band 4, Stuttgart 1931
  • Auseinandersetzungen
    – Kierkegaard, Gesammelte Werke Band 10-12, Stuttgart 1935

SCHWEIZER,
Frank: Nur einer hat mich verstanden … –
Philosophenanekdoten, Stuttgart 2006

VOLPI,
Franco/NIDA-RÜMELIN, Julian: Lexikon der philosophsichen Werke,
Stuttgart 1988

WEISCHEDEL,
Wilhelm: Kierkegaard oder Der Spion Gottes, in: Die philosophische
Hintertreppe – 34 große Philosophen in Alltag und Denken,
München 121984

WIKIPEDIA
– Die freie Enzyklopädie
(http://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Schrempf)

Gunthard Heller