Kleine Einführung in die Philosophie von Gotthold Ephraim Lessing

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), Sohn eines protestantischen Predigers, wandte sich schon als Zwölfjähriger gegen die Diskriminierung anderer Menschen aufgrund von Volkszugehörigkeit und Religion. Nachdem er bibelkritische Fragmente von Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) veröffentlicht und darüber mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717-1786) gestritten hatte, durfte er über religiöse Fragen nicht mehr schreiben. Deshalb verlegte er die Thematik in „Nathan der Weise“ auf die Theaterbühne.

Im folgenden bespreche ich lediglich Lessings philosophische Schriften, allerdings mit Blick auf sein dichterisches und theologisches Werk. Seine Schriften über Literatur und bildende Kunst (am bekanntesten: „Von dem Wesen der Fabel“, „Briefe, die neueste Literatur betreffend“, „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, „Hamburgische Dramaturgie“, „Wie die Alten den Tod gebildet“) berücksichtige ich nicht.

1. Johann Huarts Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften (1752)

In der Vorrede zu seiner Übersetzung, die 1752 erschien, teilt Lessing mit, daß Huart ein spanischer Gelehrter war, der um 1520 – vor 1590 gelebt hat. Er war promovierter Apotheker. Der spanische Titel seines Werks lautet Examen de Ingenios para las sciencias. Huart hat es immer wieder überarbeitet. Lessing räumt ein, daß „die Art zu philosophieren welche man darinnen antrifft jetzo ziemlich aus der Mode gekommen ist.“ Die Paradoxa von Huart verteidigt Lessing damit, daß ein mutiges Pferd „niemals mehr Feuer aus den Steinen schlägt, als wenn es stolpert“ (Ph 420).

Gotthard Ephraim Lessing

2. Doktor Faust (1755-67)

Lessing hat dieses Schauspiel, das er zuerst 1755 erwähnte, nicht vollendet. Lessings Bruder Karl hat eine Skizze des ersten Akts veröffentlicht. Freunde von Lessing rekonstruierten Verlorenes aus ihrer Erinnerung.

Zur Handlung: Die Teufelversammlung betrachtet Fausts Erkenntnisdrang als Fehler, der zu Lastern führen kann. Faust ermüdet einen Teufel, der behauptet, er sei Aristoteles, mit seinen Fragen. Ein Dämon beschwert sich darüber, daß Faust ihn herbeizwingt. Aus sieben Höllengeistern wählt Faust den schnellsten aus.

Um Faust vor dem Satan zu schützen, versetzt ihn ein Engel in den Tiefschlaf. Die Teufel greifen stattdessen ein Phantom an, das der Engel erschaffen hat. Als sie denken, sie hätten Faust auf ihre Seite gebracht, löst sich das Phantom auf. Faust bekommt im Traum alles mit. Als er aufwacht, sind die Teufel schon weg, und Faust denkt, er sei im Traum belehrt worden.

3. Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem (1776)

Der Vater von Karl Wilhelm Jerusalem (1742-1772) war Theologe, Abt und Konsistorialpräsident. Nachdem Jerusalem sich umgebracht hatte, galt er als Vorbild für Goethes Werther (1774). Lessing fand, Goethe habe den Charakter Jerusalems falsch dargestellt: Er sei kein Gefühlsmensch, sondern ein Philosoph gewesen, der „die Wahrheit bis in ihre letzte Schlupfwinkel“ verfolgt habe (Ph 421).

Lessing gab Jerusalems Aufsätze, die eine Frucht der Gespräche mit Lessing sind, 1776 heraus. In den anschließenden Zusätzen kommentiert er sie. Er weist darauf hin, daß die Gespräche mit Jerusalem freundschaftlich waren, also nicht von einem der Gesprächspartner manipuliert wurden, wie Sokrates das gemacht habe.

I. Dass die Sprache dem ersten Menschen durch Wunder nicht mitgeteilt sein kann. Dieser Aufsatz ist im Stil scholastischer Spekulationen gehalten.

Lessing kommentiert, daß das Ergebnis rein negativ sei. Darüber hinaus könne ein Philosoph nur mutmaßen: Ein gütiger Gott unterrichte die Menschen eher in der Sprache, als daß er ihnen deren Erfindung selbst überlasse, was sehr viel Zeit in Anspruch nehme.

II. Über die Natur und den Ursprung der allgemeinen und abstrakten Begriffe. Jerusalem betrachtet Allgemeinbegriffe als Erleichterung des Denkens.

Lessing ergänzt: Die Allgemeinbegriffe seien vor den konkreten Bezeichnungen dagewesen. „Baum ist sicherlich ältern Ursprungs, als EicheTanneLinde “ (Ph 448).

III. Über die Freiheit. Jerusalem macht die Freiheit an der Beherrschung unserer Vorstellungen fest. Wer nach deutlichen Vorstellungen handle, sei tugendhaft, wer nach dunklen Vorstellungen handle, lasterhaft. Laster ist also eine Form der Unvollkommenheit. Jerusalem betrachtet den Tod als „Übergang zu einem andern Zustande“ (Ph 432). Dem Tugendhaften geht es nach dem Tod besser als dem Lasterhaften.

Lessing fühlt sich geborgener, wenn er das Beste nach dem Willen Gottes tun muß, als wenn er frei ist. Denn ohne Freiheit mache er weniger Fehler.

IV. Über die Mendelssohnsche Theorie vom sinnlichen Vergnügen. Jerusalem ist mit der Auffassung von Moses Mendelssohn (1729-1786), daß sinnliches Vergnügen mit einem vollkommeneren Körper einhergeht, nicht einverstanden. Zur Begründung beruft er sich auf die Erfahrung, etwa das Vergnügen eines Betrunkenen. Wer zuviel Sex habe, schade dem Körper, ohne daß dadurch die Wollust verschwinde.

Lessing weist darauf hin, daß Mendelssohn sich inzwischen korrigiert habe: Die Sinnenlust sei „noch etwas anders […], als Gefühl der verbesserten Beschaffenheit des Körpers, welche die Seele bloß als Zuschauerin wahrnehme“ (Ph 449).

V. Über die vermischten Empfindungen. Auch hier setzt sich Jerusalem mit Mendelssohn auseinander, der meint, daß „ein bitterer Tropfen in den Honig des Vergnügens uns denselben noch angenehmer macht“ (Ph 439). Jerusalem schränkt diese Theorie zweifach ein: 1. Das treffe nur bei einem objektiven Übel zu, nicht bei einem subjektiven. 2. Das treffe nur zu, wenn durch das Übel das Positive nicht verringert werde.

Konkrete Beispiele: „Das Mitleiden ist eine vermischte Empfindung, die aus dem Vergnügen über die Vollkommenheiten eines Gegenstandes, und der Unlust über das Unglück desselben besteht, und ist daher angenehm, weil das Übel, welches die Unlust erregt, objektiv ist.“ Das ist am meisten im Theater der Fall, aber nicht beim Unglück einer Person, die uns nahe steht. „Auch wenn das Übel so beschaffen ist, daß es einen Ekel erregt, so verschwindet das Vergnügen des Mitleidens“ (Ph 442). Ähnliches gelte für den Streit. Am unangenehmsten sei die Eifersucht.

Lessing verweist kritisch ergänzend auf den Zorn: Gehört er nicht zu den vermischten Empfindungen, weil er uns stets Unlust bereitet?

4. Das Geheimnis (1751)

1751 verspottete Lessing die Freimaurer in dem Gedicht „Das Geheimnis“: Der dumme Hans beichtet bei einem Pater, dem auffällt, daß er so wenig zu beichten hat. Also fragt er nach Dirnen, Diebstahl, Körperverletzung und Hurerei des Vaters. Hans gesteht schließlich auf die Drohungen des Paters hin, daß er den Ort eines Vogelnests nicht preisgeben wolle, da ihm schon zehn gestohlen worden seien und er kein Vertrauen auf Wahrung des Beichtgeheimnisses habe. Da schickt der Pater ihn weg, da er sich um solche Belanglosigkeiten nicht kümmere.

Diese Situation vergleicht Lessing mit der der Freimaurer, die leicht schweigen könnten, da sie nichts wüßten: „Wer kein Geheimnis hat, kann leicht den Mund verschließen. […] / Und wissen sie auch was, so kann mein Märchen lehren, / Daß oft Geheimnisse uns nichts Geheimes lehren, / Und man zuletzt wohl spricht: war das der Mühe wert, / Daß ihr es mir gesagt, und ichs von euch begehrt?“ (W I 152)

In der Zeit, da Lessing dieses Gedicht verfaßte, hatte er Umgang mit den Freimaurern Christian Friedrich Voß, der seine Werke verlegte und die „Vossische Zeitung“ begründete, und dem Schriftsteller und Buchhändler Christoph Friedrich Nicolai, mit dem Lessing und Mendelssohn Briefe über das Trauerspiel wechselten.

Nicolai gründete mit Mendelssohn die Zeitschrift „Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste“ (1757-1760), mit Lessing und Mendelssohn die Wochenschrift „Briefe, die neueste Litteratur betreffend“ (1759-1765). Die von Nicolai 1765 begründete „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ verfocht die Aufklärung und Menschlichkeit. Sie enthielt Polemik gegen Sturm und Drang, Pietismus und Irrationalismus.

Auch Johann Joachim Christoph Bode, der Lessings „Hamburgische Dramaturgie“ verlegte, war Freimaurer. Die „Buchhandlung der Gelehrten“, die Bode 1768 mit Lessing gründete, bestand nicht lange. Bode lehnte es 1771 ab, Lessing in das Hochgradsystem der Strikten Observanz aufzunehmen, da er dachte, deren Fortschritte seien für den kritischen Lessing zu langsam. Lessings Manuskript „Der wahre Orden der Frey Maurer aus den aeltesten Urkunden hergeleitet und mit Gründen bewiesen“ wollte Bode nicht drucken. Auch Nicolai und der Logikprofessor, Dichter und Schriftsteller Karl Wilhelm Ramler lehnten den Druck ab.

5. Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer (1778/80)

In die Neuausgabe seiner Gedichte (1771) nahm Lessing „Das Geheimnis“ nicht auf. In diesem Jahr ließ er sich von dem früheren preußischen Hauptmann Georg Johann Freiherr von Rosenberg in dessen Hamburger Loge „Zu den drei goldenen Rosen“ aufnehmen. Rosenberg beförderte Lessing noch bei der Aufnahme „in alle drei Grade […]. Die Aufnahme war eigentlich vollkommen ungesetzlich vollzogen. Denn die Loge war nicht gesetzmäßig besetzt, die beiden Aufseher und die übrigen Beamten waren nicht eingeladen worden“ (IFL 507).

Lessing war nicht besonders beeindruckt. Fünf Tage nach der Aufnahme verlangte Landes-Großmeister Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf von Lessing eine Art Loyalitätserklärung und wollte sein Manuskript über die Freimaurer, da er zur „Vorzensur“ „berechtigt war“ (IFL 507). Lessing „zeigte sich […] enttäuscht und verzichtete fortan auf jeden Besuch von Freimaurerlogen“ (KNLL 10/310). Doch bis 1780 stand sein Name in der Liste seiner Loge.

1778 veröffentlichte Lessing drei Gespräche „Ernst und Falk“ anonym. Der Widmungsträger Herzog Ferdinand von Braunschweig rügte Lessing, da er vor der Veröffentlichung nicht um seine Zustimmung gebeten hatte. Obwohl Lessing, der sich entschuldigte, die Veröffentlichung zweier weiterer Gespräche nicht wollte, erschienen sie 1780 „in fehlerhaftem Druck“ (KNLL 10/310). Ein paar Monate nach dem Tod von Lessing veröffentlichte Johann Georg Hamann eine weitere korrigierte Ausgabe (1781). 1787 erschienen zum ersten Mal alle fünf Gespräche zusammen. Johann Gottfried Herder und Friedrich Schlegel verfaßten Fortsetzungen.

Vorrede eines Dritten. Lessing will das Wesen der Freimaurerei aufdecken.

Erstes Gespräch. Ernst fragt Falk, ob er ein Freimaurer ist. Falk antwortet: „Ich glaube es zu sein“ (Ph 452). Diese Antwort begründet er damit, daß viele Freimaurer nicht wissen, was sie wissen, „die wenigen aber, die es wissen, es nicht sagen können“ (Ph 453).

Andererseits könnten auch Nichtfreimaurer wissen, was sie wissen: „Die Freimäurerei ist nichts willkürliches, nichts entbehrliches: sondern etwas notwendiges, das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft gegründet ist. Folglich muß man auch durch eignes Nachdenken eben so wohl darauf verfallen können, als man durch Anleitung darauf geführet wird“ (Ph 453).

Die Freimaurerei habe es schon immer gegeben, sagt Falk. Da das Ordensgeheimnis nicht mitteilbar sei, werde der Orden durch Taten ausgebreitet. Ernst wendet ein, daß es auch außerhalb der Freimaurer gute Taten gibt. Gegenseitige Unterstützung gebe es in jeder Bande. Falk erwidert, die wahren Taten der Freimaurer seien nicht die äußeren Taten, sondern „ihr Geheimnis“ (Ph 456). Man erkenne sie erst nach Jahrhunderten. Sie hätten den Zweck „gute Taten […] entbehrlich zu machen“ (Ph 457). Alles Gute in der Welt sei den Freimaurern zu verdanken.

Zweites Gespräch. Falk sagt, der Staat sei für die Menschen da, nicht umgekehrt. Doch der Staat bedinge verschiedene Interessen verschiedener Völker, Religionen und Stände. Deshalb sei es wünschenswert, daß es in jedem Staat Männer gebe, die über den Vorurteilen von Völkern, Religionen und Ständen stehen. Das seien die Freimaurer.

Drittes Gespräch. Falk sagt, man könne auch Freimaurer sein, „ohne es zu heißen“ (Ph 468). Das „Grundgesetz“ der Freimaurer sei, „jeden würdigen Mann von gehöriger Anlage, ohne Unterschied des Vaterlandes, ohne Unterschied der Religion, ohne Unterschied seines bürgerlichen Standes, in ihren Orden aufzunehmen“ (Ph 469f). Das überzeugt Ernst, und er wird Freimaurer.

Vorrede eines Dritten. Lessing hatte das vierte und fünfte Gespräch Freunden zum Lesen gegeben. Der Herausgeber vermutet, daß sie die Gespräche unerlaubt abgeschrieben haben. Er selbst sei zwar „kein aufgenommener Maurer“, habe aber bei der Veröffentlichung der beiden Gespräche in der ihm vorliegenden Abschrift ausgeschriebene Namen unterdrückt (Ph 472).

Viertes Gespräch. Ernst beschwert sich, daß Falk ihn zur Freimaurerei verführt habe. Falk behauptet, er habe ihm zu verstehen“ gegeben, es sei unnütz und schädlich, „daß jeder ehrliche Mann ein Freimäurer werde“ (Ph 473). Man könne die höchsten Freimaurerpflichten auch erfüllen, ohne in eine Loge einzutreten.

Ernst jammert, er habe in der Loge nur leere Vertröstungen zu hören bekommen. Falk unterscheidet zwischen Heimlichkeiten und dem „Geheimnis der Freimäurerei“, das darin bestehe, „was der Freimäurer nicht über seine Lippen bringen kann, wenn es auch möglich wäre, daß er es wollte“ (Ph 476).

Ernst behauptet, daß die Freimaurer Nichtchristen und niedere Stände diskriminieren würden. Falk meint, er habe schon lange keine Verbindung mehr mit Logen. Das Verhältnis der Logen zur Freimaurerei entspreche dem Verhältnis der Kirche zum Glauben. Er lehne das Streben der Freimaurer nach Geld und Privilegien ab. Die Freimaurerei habe nicht immer so geheißen.

Fünftes Gespräch. Falk sagt, die Freimaurerei sei so alt wie die bürgerliche Gesellschaft. Beide seien miteinander entstanden. Die Freimaurerei beruhe nicht auf der Logenzugehörigkeit, „sondern auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister“ (Ph 481). Der Name sei erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufgekommen. Die Freimaurerei gehe auf die Tafelrunde und die Templer zurück. Christopher Wren, der Erbauer der St. Pauls-Kathedrale, habe die moderne Freimaurerei geschaffen.

Kommentar aus dem „Internationalen Freimaurer-Lexikon“: In den Gesprächen „hält das Geschichtliche, das Lessing gibt, historischer Kritik nicht stand“ (IFL 507). „Ob Wren überhaupt zu den Londoner Logen in Beziehung stand, ist eine der meistumstrittenen Fragen der englischen Freimaurergeschichte“ (IFL 914).

Zur Vorgeschichte der Freimaurerei werden acht verschiedene Theorien angegeben (IFL 344ff), die mit Ausnahme der ersten mehr oder weniger bestritten werden: Die Freimaurerei gehe auf die deutsche und englische Bauhütten der Kirchenbauer zurück (1). Es gebe Ähnlichkeiten mit den alten Akademien (2). Die Freimaurerei gehe auf englische Deisten (3), das Rosenkreuzertum (4), die Kabbalisten der Renaissance (5), den Templerorden (6) oder die antiken Mysterien (7) zurück. Paul G. Wagler behauptet, die Freimaurerei beruhe auf dem ästhetischen Instinkt mittelalterlicher Dombauer in Deutschland (8).

„Aber Lessing darf […] als der Künder des philosophischen und sozialethischen Gedankeninhaltes der Freimaurerei bezeichnet werden“ (IFL 507).

6. Die Juden (1749)

Das 1749 aufgeführte Stück erschien erst 1754. Lessing wandte sich darin direkt gegen den Antisemitismus der Christen und forderte Toleranz hinsichtlich Religion und Herkunft.

7. Nathan der Weise (1779)

Giovanni Boccacio (1313-1375) erzählt in der dritten Novelle des ersten Buchs seines „Dekameron“ die Geschichte des Juden Melchisedech, der sich mit der Fabel von den drei Ringen vor Saladin rettet.

Saladin braucht Geld. Melchisedech ist der einzige, der als Gläubiger in Frage kommt. „Der Jude war aber so geizig, daß er es freiwillig nimmer getan hätte, und Gewalt wollte er nicht brauchen“; also beschließt Saladin, Melchisedech „unter einigem Scheine von Recht Gewalt anzutun“ (S. 54).

Er bestellt ihn zu sich und fragt ihn, ob er das jüdische, das sarazenische oder das christliche Gesetz für das wahre hält. Melchisedech durchschaut die Falle sofort: Egal, welches Gesetz er bevorzugt, Saladin erreicht sein Ziel.

Also erzählt er die Ringfabel: Ein Familienerbstück wird von Generation zu Generation weitergegeben, bis ein Vater für seine drei Söhne zusätzlich zwei Duplikate anfertigen läßt, um keinen zu enttäuschen. So beanspruchen alle drei das Erbe. Jeder zieht seinen Ring hervor, und keiner kann sagen, welcher der ursprüngliche ist. Mit den drei Gesetzen sei es genauso.

Nun legt Saladin die Karten auf den Tisch, und Melchisedech hilft ihm. Saladin zahlt den geliehenen Betrag mit zusätzlichen Geschenken zurück „und behielt ihn für alle Zeit mit großer Auszeichnung als Freund in seiner Nähe“ (S. 56).

Lessings Theaterstück spielt in Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge, da alle drei Religionen dort vertreten sind. Nathan erzählt die Ringfabel, weil der Sultan seine Freigebigkeit und Vernunft testen will. Der Sultan erkennt, daß darin von den drei Religionen die Rede ist. Der Angehörige einer jeden muß durch seine Taten beweisen, daß seine Religion die beste ist.

„Ein dem antisemitischen Vorurteil widersprechender Zug Nathans zeigt sich in seiner prinzipiellen Abneigung zu borgen, auf Zins zu leihen und dadurch Ärmere in Abhängigkeit von sich zu halten. Statt dessen schenkt er sein Geld her, um die Beschenkten in Freiheit zu setzen“ (Gert Sautermeister und Redaktion von Kindlers Literatur-Lexikon, in: KNLL 10/328).

Das Theaterstück wurde erst nach Lessings Tod in einer von Friedrich Schiller gekürzten Fassung aufgeführt (1801). Im 19. Jahrhundert wurde es einerseits Pflichtlektüre für Schüler, führte aber andererseits zu antisemitischen Reaktionen durch

  • Karl Eugen Dühring (1833-1921), der sich für den eigentlichen Begründer des Antisemitismus hielt,
  • Josef Nadler (1884-1963), der mit seiner Literaturbetrachtung auf der Basis von Volksstämmen und Landschaften „späteren nationalsozialistischen Interpretationen Vorschub“ leistete (MEL 16/720), und
  • Adolf Bartels (1862-1945), der als „leidenschaftlicher Antisemit […] die Literatur hauptsächlich nach deutschvölkischem Gesichtspunkt“ wertete und einen großen „Einfluß auf die Literatur in der Zeit des Nationalsozialismus“ hatte (MEL 3/534).

„Während des Dritten Reiches wurde der Nathan totgeschwiegen, um nach 1945 als ‚zeitgemäß supranationales Wiedergutmachungsstück‘ (H. Göbel) vor allem in den fünfziger Jahren eine Renaissance auf den duetschsprachigen Bühnen zu erleben“ (Gert Sautermeister und Redaktion von Kindlers Literatur-Lexikon, in: KNLL 10/328).

8. Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780)

Die Paragraphen 1 – 53 erschienen schon 1777, allerdings ohne das lateinische Motto von Augustinus und ohne den „Vorbericht des Herausgebers“ (Ph 489); erst 1780 wurde die Schrift vollständig veröffentlicht.

Im vierten Fragment „aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend“, das Lessing zuerst 1774 veröffentlichte, behauptete Reimarus, daß „die Bücher A. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren„. Seine Begründung: eine Religion müsse die „Unsterblichkeit der Seelen“, die „Belohnung und Bestrafung unserer Handlungen in einem zukünftigen ewigen Leben“ und die „Vereinigung frommer Seelen mit Gott“ beinhalten. Das fehle im Alten Testament (Th II 398f).

Lessing gesteht das in den „Gegensätzen des Herausgebers“ zum vierten Fragment zu und ergänzt, im Alten Testament finde man „nicht einmal den wahren Begriff von der Einheit Gottes“. Denn „die Einheit, welche das Israelitische Volk seinem Gotte beilegte“, sei „gar nicht die transcendentale metaphysische Einheit“ gewesen, „welche itzt der Grund aller natürlichen Theologie ist“ (Th II 473). Das erkenne man schon daran, daß Moses Gott nach seinem Namen gefragt habe (vgl. Ex 3,13). Jahwe sei ursprünglich lediglich eine nationale Gottheit gewesen.

„Bei dem wahren echten Begriffe eines einigen Gottes, hätte dieses Volk unmöglich so oft von ihm abfallen, und zu andern Göttern übergehen können. […] Kurz, der Einige hieß bei ihm nichts mehr, als der Erste, der Vornehmste, der Vollkommenste in seiner Art. Die Götter der Heiden waren ihm auch Götter“ (Th II 473).

In der Babylonischen Gefangenschaft hätten die Juden den Gott der Perser kennengelernt, „das sich den Einigen Gott würdiger dachte“. Erst jetzt seien die Schriften von Moses und den Propheten populärer geworden. So hätten die Juden gemerkt, daß „Jehova eine weit erhabnere Einheit zukomme, als die, welche ihn bloß an die Spitze aller andern Götter setzte“. Dadurch seien sie zu einem anderen Volk geworden, „und alle Abgötterei hörte unter ihm auf“ (Th II 474).

Anhand der Formulierungen Lessings kann man erkennen, daß er das alles hypothetisch meint: „Es sei so“, „wenn man will“, „man behaupte“, „zu einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit“, „Gewiß ist es wenigstens“ (Th II 472f). Dasselbe ergibt sich aus dem Augustinus-Motto der vollständigen Fassung der „Erziehung des Menschengeschlechts“: „‚All dies ist aus denselben Gründen in gewisser Hinsicht wahr, aus denen es in gewisser Hinsicht falsch ist'“ (Ph 709).

Lessings Schlußfolgerung: „Auf die Göttlichkeit der Bücher des A. T. ist aus dergleichen Dingen wenigstens gar nichts zu schließen. Denn diese muß ganz anders, als aus den darin vorkommenden Wahrheiten der natürlichen Religion erwiesen werden“ (Th II 474). Den göttlichen Ursprung des A.T. könne man weder beweisen noch widerlegen.

Anschließend bringt Lessing „den Anfang“ des Aufsatzes mit dem Titel „Die Erziehung des Menschengeschlechts“, ohne sich selbst zur Verfasserschaft zu bekennen (Th II 476).

In dem der vollständigen Fassung vorangestellten „Vorbericht des Herausgebers“ faßt Lessing den Inhalt des Aufsatzes in folgender Frage zusammen: „Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll?“ (Ph 489)

Als These ausgedrückt: „Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte“ (Ph 490).

In den folgenden Paragraphen zeichnet Lessing die Geschichte der Offenbarung in drei Stadien nach. Gott habe die Juden wie Kinder mit Zuckerbrot und Peitsche, Anspielungen und Fingerzeigen erzogen. Sie seien „die künftigen Erzieher des Menschengeschlechts“ (Ph 493), selbst erzogen „in diesem heroischen Gehorsame gegen Gott“ (Ph 497). Die Chaldäer, Perser und griechischen Philosophen hätten einen Teil der Juden „mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bekannter“ gemacht (Ph 499).

Jesus habe den zweiten Erziehungsschritt gebracht und sei „der erste zuverlässigepraktische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele“ gewesen (Ph 502). Nach dem Alten Testament sei das Neue Testament zum zweiten, besseren „Elementarbuch für das Menschengeschlecht“ geworden (Ph 503), das inzwischen ins „Knabenalter“ eingetreten sei (Ph 504).

Wenn die Menschheit erwachsen ist, wird „die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums“ kommen (Ph 508).

Lessing spielt hier an auf Joachim von Fiore (um 1130 – 1202), der „drei Weltzustände“ unterschied:

„Den ersten, in dem wir unter Gesetz waren; den zweiten in der Gnade, den dritten, den wir in Bälde erwarten, in noch reicherer Gnade […]. Der erste Status war in der Wissenschaft, der zweite in der Macht der Weisheit, der dritte in der Vollkommenheit der Erkenntnis. Der erste in der Knechtschaft der Sklaven, der zweite in der Dienstbarkeit der Söhne, der dritte in der Freiheit. […] Der erste in der Furcht, der zweite im Glauben, der dritte in der Liebe. Der erste im Zustand der Knechte, der zweite der Freien, der dritte der Freunde“ (Concordia 89, fol. 112b; Joachim von Fiore 82).

„Daher gehört der erste Status zum Vater, der der Schöpfer von Allem ist […] Der zweite (Status gehört) zum Sohn, der sich gewürdigt hat, unser Fleisch anzunehmen […]. Der dritte (Status) gehört zum heiligen Geist“ (Concordia V e, 84, Protokoll von Anagni, S. 131f; Joachim von Fiore 84).

Allerdings legte Fiore den Beginn des dritten Zeitalters anders als Lessing. Außerdem unterschied er zwischen dem Anfang eines Zeitalters und der Zeit der Reife, in der es Frucht trägt.

  • Das erste Zeitalter beginnt mit Adam und trägt Frucht „von Abraham bis zu Zacharias, dem Vater Johannes des Täufers“.
  • Das zweite Zeitalter beginnt „bei Usia oder in den Tagen des Ahab, unter dem Elisa von dem Propheten Elia gerufen wurde“, und trägt Frucht „von Zacharias bis zur 42. Generation“.
  • Das dritte Zeitalter beginnt „beim heiligen Benedikt“ und trägt Frucht „mit der 22. Generation nach dem heiligen Benediktus bis zum Ende der Zeiten“ (Concordia II. tr. 1 c, Protokoll von Anagni, S. 102f; Joachim von Fiore 85f).

Der heilige Benedikt von Nursia wurde um 480 geboren und starb 547 (?). Wenn man für eine Generation 25 Jahre rechnet, kommt man nach 22 Generationen bei 547 + 550 = 1097 heraus.

Das heißt, Joachim von Fiore sah sich schon in der Zeit der Frucht des Zeitalters des Heiligen Geistes: „Aber jetzt handelt es sich schon um das fünfte Zeitalter [Joachim zählt hier anders], in dessen Anfang wir uns befinden, in dem der vom Sohn gesandte heilige Geist seine Werke wirken muß, um Vieles stärker, als er bis anhin gewirkt hat, damit alle den Heiligen Geist wie den Vater und den Sohn verehren lernen“ (Psalterium, fol. 259 d – 260 a; Tondelli, Bd. I, S. 68; Joachim von Fiore 86).

Lessing verlegt dagegen die Zeit seines neuen Evangeliums noch in die Zukunft. Er ist der Ansicht, daß „gewisse Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts […] darin irrten, daß sie den Ausbruch desselben so nahe verkündigten“ (Ph 508). „Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten“ (Ph 509).

Wenn die Schwärmer an Reinkarnation glauben würden, müßten sie nicht so ungeduldig sein, stellt Lessing fest. Denn dann könnten sie sich damit trösten, im nächsten Leben weiter an ihrer Vervollkommnung zu arbeiten.

© Gunthard Rudolf Heller, 2021

Literaturverzeichnis

BOCCACCIO, Giovanni di: Das Dekameron, Frankfurt am Main/Leipzig 1999

ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSHTEORIE, hg. v. Jürgen Mittelstraß, 4 Bände, Stuttgart/Weimar 2004

INTERNATIONALES FREIMAURER-LEXIKON von Eugen Lennhoff, Oskar Posner und Dieter A. Binder, München 2000 (IFL)

JENS, Walter/KÜNG, Hans: Dichtung und Religion – Pascal, Gryphius, Lessing, Hölderlin, Novalis, Kierkegaard, Dostojewski, Kafka, München/Zürich 1988

JOACHIM VON FIORE: Das Zeitalter des Heiligen Geistes, herausgegeben und eingeleitet von Alfons Rosenberg, Bietigheim 1977

KINDLERS NEUES LITERATUR-LEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996 (KNLL)

LESSING, Gotthold Ephraim: Werke, 2 Bände, Wiesbaden o.J. (W)

  • Werke. Siebenter Band – Theologiekritische Schriften I und II, München 1976 (Th I und II)
  • Werke. Achter Band – Theologiekritische Schriften III (Th III), Philosophische Schriften (Ph), München 1979

LEXIKON DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988

LEXIKON DER WELTLITERATUR Band II – Hauptwerke der Weltliteratur in Charakteristiken und Kurzinterpretationen, hg. v. Gero von Wilpert, Stuttgart 31993

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81 (MEL)

RITZEL, Wolfgang: Lessing. Dichter – Kritiker – Philosoph, München 1978

SEIDEL, Siegfried: Gotthold Ephraim Lessing, Leipzig 1981

Gunthard Heller