„Der Stern der Erlösung“ – Kleine Einführung in die jüdische Philosophie

In diesem Artikel gibt Gunthard Heller einen kleinen Einblick darüber, was Jüdische Philosophie ist und beschreibt einen Überblick über deren Geschichte.

1.
Franz Rosenzweig als Höhepunkt der jüdischen Philosophie

Franz
Rosenzweig (1886-1929) ist heute vor allem durch die gemeinsam mit
Martin Buber (1878-1965) verfaßte Übersetzung der
hebräischen Bibel ("Die Schrift") bekannt. "In
seinem Hauptwerk ‚Stern der Erlösung‘ (1921, 31954) –
entstanden aus der Auseinandersetzung mit dem Christentum –
vertritt Rosenzweig über die Verbindung von Theologie und
Philosophie eine Rückkehr zur jüdischen Tradition"
(MEL 20/342f).

Heinrich
und Marie Simon fassen zusammen, wie es dazu kam:

"Aus
allgemein religiöser Weltanschauung heraus, zu der er gelangt
war, entschied er sich im Anschluß an Hegel für das
Christentum als die höchste Stufe der Religion. Doch wollte er
seinen Entschluß erst nach bewußtem Abschied von seiner
jüdischen Existenz in die Tat umsetzen und nahm darum an dem
ganztägigen jüdischen Gottesdienst des Versöhnungstages
teil. Das Erlebnis stimmte ihn um und bewirkte seine Entscheidung für
das Judentum […].

Der
Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschien ihm als Bestätigung
seiner Ansicht, der Staat sei keineswegs die Wirklichkeit der
sittlichen Idee, wie Hegel gemeint hatte" (S. 307).

"Der
Stern der Erlösung" ist schwierig zu lesen und setzt die
Kenntnis der Bibel sowie der Philosophiegeschichte voraus: v.a.
Platon, Aristoteles, die "Dialektik" der mittelalterlichen
Scholastik (sic et non = "so
und nicht (so)", also "ja und nein"), Kant,
Hegel, Schelling, Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche.

Was
sofort auffällt, sind die scharfen Grenzen, die Rosenzweig
zwischen den Religionen (Heidentum: griechische, indische und
chinesische Religion, Judentum, Christentum und Islam) zieht. Während
wir heutzutage eher gewohnt sind, das Verbindende zu sehen, nämlich
die individuelle Beziehung zur geistigen Welt, die Arbeit an sich
selbst und die Nächstenliebe, setzt Rosenzweig neben seine
Abgrenzungen einen doppelten Kontrapunkt zu Hegel: Er stellt das
Judentum über das Christentum und versucht, dem Islam gerecht zu
werden (der nicht in Hegels System paßte und von ihm ziemlich
stiefmütterlich abgefertigt wurde).

Rosenzweigs
Begründung für die Bevorzugung des Judentums gegenüber
den anderen Religionen: "Das jüdische Volk ist für
sich schon an dem Ziel, dem die Völker der Welt erst
zuschreiten. Es besitzt die innere Eintracht von Glauben und Leben,
die als Eintracht von fides [Glaube] und salus [Heil, Rettung, Leben]
Augustin wohl der Kirche zuschreiben darf, die aber den Völkern
in der Kirche nochein bloßer Traum ist" (S. 368).

Rosenzweigs
Anlehnung an Hegel ist rein äußerlich: Das Buch ist in
drei Teile zu je drei Büchern gegliedert. Der erste Teil handelt
von Gott, der Welt und dem Menschen, der zweite von der Schöpfung,
der Offenbarung und der Erlösung, der dritte vom ewigen Leben
("Feuer"), dem ewigen Weg ("Strahlen") und der
ewigen Wahrheit ("Stern"). Die Dreiteilung wird dadurch
durchbrochen, daß jedem Teil eine Einleitung vorangestellt
(über das Erkennen, das Wunder und das Reich) und eine
Schlußbetrachtung ("Übergang", "Schwelle",
"Tor") angehängt ist.

Der
Stern war schon "in der babylonischen Keilschrift […] das
Ideogramm für ilu =
Gott" (Manfred Lurker, in: WS 688).

Rosenzweig
schreibt darüber folgendes:


  • "Diese
    Hoffnung auf das zukünftige Reich der Sittlichkeit wurde der
    Stern, nach dem der Glaube seine Weltfahrt richtete" (S. 111).
  • "In
    der innersten Enge des jüdischen Herzens leuchtet der Stern der
    Erlösung" (S. 457; vgl. S. 123: die menschliche Seele als
    "Licht Gottes").
  • "Im Stern der
    Erlösung, in dem wir die göttliche Wahrheit Gestalt werden
    sahen, leuchtet so nichts andres auf als das Antlitz, das Gott uns
    leuchtend zuwandte. Ja den Stern der Erlösung selber, wie er
    uns nun endlich als Gestalt aufging, werden wir nun wiedererkennen
    im göttlichen Angesicht" (S. 465).
  • "Der Stern der
    Erlösung, in dem die Wahrheit Gestalt gewinnt, kreist nicht.
    Was oben steht, steht oben und bleibt oben stehn" (S. 469).

Unter
"Erlösung" versteht Rosenzweig die
Versöhnung von "Offenbarung und Schöpfung" (S.
348). Anders ausgedrückt: Erlösung ist "dies, daß
das Ich zum Er Du sagen lernt" (S. 305).

Der
Sinn dieser Sätze ist klar: Erlösung bedeutet, daß
sich das göttliche Wort (Offenbarung) mit dem göttlichen
Werk (Schöpfung) versöhnt, daß der Mensch (Ich) mit Gott (Er) in einen Dialog tritt
("Du" zu ihm sagen lernt).

Konkret
bezieht sich Rosenzweig auf den sechszackigen Stern (Hexagramm) aus
"zwei übereinandergelegten Dreiecken" (S. 470). "Das
Symbol ist in vielen Kulturen anzutreffen, im Judentum ist es unter
der Bezeichnung Davidstern – von wenigen Ausnahmen abgesehen –
erst vom Mittelalter an verbreitet. […] Im 19. Jh. wird der
Davidstern zum religiösen Symbol des Judentums, er erscheint an
Synagogen und auf Zeremonialgegenständen, vergleichbar etwa dem
Kreuz im christlichen Raum. Seit dem 1. Zionistenkongreß 1897
in Basel ist er das Wahrzeichen des Zionismus. […] 1948 wurde
der Davidstern in die Staatsflagge, die Handelsflagge und in die
Flagge der Streitkräfte Israels aufgenommen" (MEL 6/313;
s.a. Scholem: Judaica 75-118).

Norbert M. Samuelson
faßt den Inhalt des Buchs im Hinblick auf zwei Ziele zusammen.
"Das erste Ziel ist polemisch, das zweite rein philosophisch.
Das polemische Ziel besteht in der Beantwortung der Frage: Warum ist
es für einen intelligenten, zivilisierten, gebildeten, modernen
deutschen Juden sinnvoll, weiterhin Jude zu bleiben? […]

Das
zweite Ziel des Buchs ist philosophisch. Rosenzweig wollte ein Bild
des Universums malen. Dieses Bild ist ein Magen David [hebräisch: "Schild
Davids"], der Judenstern. Das ganze Werk, Der Stern
der Erlösung
, zeichnet
dieses Bild und erklärt es dem Leser als das wahre Bild des
Universums" (S. 243).

Samuelson, der
Rosenzweigs Buch für das beste Werk der jüdischen
Philosophie hält (S. 9), ordnet die "’Elemente’" Gott,
Mensch und Welt, die die Wirklichkeit ausmachen, und die "’Bahnen’",
über die sie miteinander in Verbindung stehen, zu sechs Punkten
an, die den Stern bilden: "Gott und Mensch sind durch Gottes
Offenbarungsakt, Gott und die Welt durch Gottes Schöpfungsakt
miteinander verknüpft. Mensch und Welt sind durch den
menschlichen Erlösungsakt verbunden. Aus diesen sechs Punkten
ist der explizit formulierte Stern gebildet" (S. 239f).

2.
Was ist jüdische Philosophie?

Diese
Frage ist nicht einfach zu beantworten, denn: "Es hat niemals
eine jüdische Philosophie in dem Sinne gegeben, in dem es eine
griechische oder römische, eine deutsche oder französische
gibt. Die jüdische Philosophie ist seit der Antike ihrem Wesen
nach Philosophie des Judentums, wenn sie auch im Mittelalter […]
zeitweise über ihr religiöses Zentrum hinausgreift. […]
Sie ist Religionsphilosophie in dem spezifischen Sinne, der durch die
Eigenart der monotheistischen Offenbarungsreligionen gegeben ist"
(Guttmann 10).

In
diesem Sinne beginnt die jüdische Philosophie bereits mit
Werken, die in die hebräische Bibel aufgenommen wurden: dem Buch Hiob, den Sprüchen, dem Hohen Lied und dem
Buch Kohelet.

Noch
vor diesen Schriften wurden die Gebote der Thora (= "Lehre,
Weisung, Gesetz", MEL 23/445; gemeint sind die Bücher
Genesis, Exodus, Numeri, Leviticus und Deuteronomium) mündlich
ausgelegt und kommentiert. Daraus entstand nach der Befreiung der
Juden aus der babylonischen Gefangenschaft durch Kyros (539 v. Chr.)
der Talmud (v. hebr. lilmod =
lernen oder lelamed =
lehren, vgl. Rosten 592).

Die
Juden, die in Babylonien blieben, schufen den Babylonischen, die
Juden, die zurück nach Palästina gingen, den Jerusalemer
Talmud. Die schriftliche Fixierung des letzteren wurde Anfang des 5.
Jahrhunderts n. Chr. beendet, die des ersteren Anfang des 7.
Jahrhunderts n. Chr. Es gibt zwei verschiedene Einteilungen:
inhaltlich in Halacha (Gesetz) und Haggada (alles andere, vor allem
Erzählungen), formal in Mischna (Kommentar zur Thora) und Gemara
(Kommentar zur Mischna).

Der
Babylonische Talmud umfaßt sechs Sektionen, die in einzelne
Traktate unterteilt sind. Sektion I handelt von den Saaten, Sektion
II von den Feiertagen, Sektion III von den Frauen, Sektion IV von den
Schädigungen, Sektion V von den Heiligtümern und Sektion VI
von der Reinheit.

Nachdem
Alexander der Große 332/32 v. Chr. Syrien, Palästina und
Ägypten erobert hatte, entstand eine umfangreiche
hellenistisch-jüdische Literatur, die zum Teil in die
Septuaginta (griechische Übersetzung der Bibel) aufgenommen
wurde. Von diesen Werken kann man die Bücher Weisheit und Jesus Sirach zur jüdischen Philosophie rechnen.

Die
zunächst nur mündlich überlieferte jüdische
Geheimlehre und Mystik wurde nach dem hebräischen Verbum qabal = empfangen Kabbala genannt (vgl. MEL
13/287). Neben der Seelenwanderung finden wir hier auch die
Seelenschwängerung (Ibbur):
"Hat ein Mensch in der unteren Welt eine Tat nicht zu Ende
geführt, muß seine Seele nach seinem Tod ins Leben
zurückkehren, sich […] an die Seele eines lebenden
Menschen anschmiegen, sich eng mit ihr zusammenschließen und
sich mit ihr vereinigen, um das Versäumte nachzuholen" (Manfred Baumotte, in: Bloch 20).

"Esoterische
und rätselhafte Äußerungen finden sich bereits in der
hellenistisch-jüdischen Literatur, ebenso kosmogonische
Spekulationen in der rabbinischen Literatur. Aber erst mit der sog.
Merkabamystik (nach der Bezeichnung für den Thronwagen" in Ez 1,15-28 "und mit der
Ausbildung einer Angelologie" (Engellehre)
"liegt eine festumrissene Lehre vor (Hechalot-Schriften, 4.-10.
Jh.). Daneben steht schon früh 1. Mos. 1 im Mittelpunkt einer
kosmologischen Ausdeutung im sog. ‚Werk der Schöpfung’" (Ma῾ase bereschit);
"diese herrscht auch im Buch Jezira vor. Vom 8. Jahrhundert an
gelangt die mystische Bewegung von Palästina nach Europa und
zeigt Auswirkungen bei den sog. deutschen Chassidim […]; im
‚Buch der Frommen’" (Sefer
chasidim
) "sind die
Hauptlehren zusammengefaßt.

Vom
12. bis 14. Jahrhundert entsteht in Südfrankreich (Provence) und
Spanien die Bewegung, die als Kabbala im eigentlichen Sinn bezeichnet
wird. […] Ein bedeutendes Dokument dieser Zeit ist das Buch Bahir […].
Zwischen 1240 und 1280 entsteht das Hauptwerk der älteren
Kabbala, das Buch Sohar" (MEL 13/288), der das "höchste
Ansehen genießt" (Miers
219).

"Über
den praktischen Teil der Kabbala finden sich nur Andeutungen, und
diese nur in seltenen Manuskripten, die in grossen öffentlichen
und privaten Bibliotheken zu finden sind. […] Derartige
Manuskripte sind unter dem Namen ‚Clavicula Salomonis‘ bekannt und
bilden die Grundlage der landläufigen Zauberbücher, wie
‚Albertus magnus‘, ‚roter Drache‘ und ‚Zauberbuch des Honorius’" (Papus 3).

Auf
die Haarspaltereien, was nun "jüdisch" (vgl. Sand
21-40!) und was Philosophie ist, gehe ich hier nicht ein, da sie
unfruchtbar sind. Es genügt zu sagen, daß sich die
jüdische Philosophie denkerisch mit den Inhalten der Bibel
auseinandersetzt. Das heißt, daß auch die
Auseinandersetzung von Juden mit dem Neuen Testament zur jüdischen
Philosophie gehört.

3.
Überblick über die Geschichte der jüdischen
Philosophie

"Als
ersten jüdischen Philosophen nennt die Überlieferung
Aristobul, der wahrscheinlich schon Vorläufer hatte, doch kennen
wir ihre Namen nicht und wissen nichts von ihrem Wirken"
(Simon/Simon 32). Eusebius von Caesarea (zw. 260 und 265 – 339
n. Chr.) rechnet Aristobul (2. Jh. v. Chr.) in seiner
Kirchengeschichte zu den Historikern (S. 288). Er versuchte zu
"zeigen […], daß die griechischen Dichter und
Philosophen ihre Weisheit aus dem Alten Testament bezogen haben".
Die "Anthropomorphismen der alttestamentlichen
Gottesvorstellung" erklärte er als Allegorien (Dihle 348).
Von den Werken des Aristobul sind nur Fragmente erhalten, deren
Echtheit bezweifelt wurde; "manche wollten seine Schrift als
christliche Fälschung fassen, doch ist den Vertretern der
Athetese ["Verwerfung einer überlieferten Lesart",
Duden Bd. 5] ein bindender Beweis nicht gelungen" (Lesky 898).

Dagegen
sind die Schriften des Philon von Alexandria (15/10
v. Chr. – 45/50 n. Chr.) zum größten Teil erhalten. "Von
der heidnischen Literatur wurde Philon kaum beachtet; bei den
christlichen Theologen fand er dagegen großen Anklang,
besonders in seinem Anliegen, Offenbarungsreligion und Philosophie
einander näherzubringen und religiös-theologische Themen in
der Sprache der Philosophie zu behandeln" (MEL 18/584).

Unter
der Herrschaft der Muslime, die unter der Anführung der Kalifen
(Mohammeds Nachfolger) im 8. Jahrhundert bis Spanien vordrangen,
setzten sich jüdische Philosophen mit dem Kalam ("Gespräch") auseinander. Mit diesem Begriff wird "die
verstandesmäßige Diskussion von Glaubenssätzen"
"innerhalb des Islams" bezeichnet (Simon/Simon 50). Der
Kalam wurde angeregt durch syrische Christen und die griechische
Philosophie.

Innerhalb
des Kalam nennt man Gelehrte, die die "Behauptung der göttlichen
Einheit und Gerechtigkeit zum Kern ihrer Ansichten machten", Mutaziliten ("sich Absondernde") (Simon/Simon 50).
Ihnen gegenüber stehen innerhalb der Sunniten die
traditionalistischen Hanbaliten, benannt nach Ahmad ibn Hanbal
(780-855), und die nach ihrem Gründer al-Ahaari (873-935)
benannten Ashariten, die sich gegen beides wehrten: "gegen
den blinden Glauben der Traditionalisten und gegen den von den
Muʽtaziliten vertretenen uneingeschränkten Gebrauch der
Vernunft" (Khoury 703f).

Benjamin
ben Moses Nahawendi
(1. Hälfte des 9. Jh.s) lehrte, "Gott
selbst habe nur einen Engel geschaffen, der dann erst die Welt schuf
und der ebenso den Propheten ihre Offenbarungen zuteil werden ließ"
(Guttmann 67).

Chiwi
aus Balch
(2. Hälfte des 9. Jh.s) galt als Ketzer, weil er
in einem verlorengegangenen Werk 200 Einwände und Fragen
gegenüber der Bibel hatte: "Er wies auf die Widersprüche
der biblischen Erzählungen hin, erklärte die Wunder […]
auf natürlichem Wege" und wandte "sich mit besonderer
Schärfe gegen die anthropomorphe Gottesvorstellung der Bibel"
(Guttmann 65). Er fand, "Gott sei ungerecht, ohne Mitleid und
begünstige das Übel. Er sei weder allwissend noch
allmächtig; es mangele ihm an Konsequenz und er ändere
seine Meinung." Viele Vorschriften hielt er für sinnlos,
den freien Willen der Menschen verneinte er (Simon/Simon 59).

David
ibn Merwan Almuqammis
(9./10.
Jh.) verband in seiner fragmentarisch erhaltenen Schrift "Zwanzig
Traktate" griechische Philosophie und Kalam. Mit der Ansicht,
"daß die negativen Aussagen über Gott angemessener
und wahrer sind als die positiven", schloß er sich
Aristoteles an (Guttmann 87). Den Beinamen "der Springer"
soll er seiner vorübergehenden Konversion zum Christentum
verdanken (Simon/Simon 61).

Saadia
ben Josef
(882-942) widerlegte das Buch von Chiwi aus
Balch, dessen Meinungen damals sogar den Elementarunterricht
beeinflußt haben sollen. In seinem Hauptwerk "Buch der
philosophischen Meinungen und der Religionslehren" (933)
betrachtete er Philosophie und Religion als Mittel der
Wahrheitsfindung. Als Erkenntnisquellen nannte er die Erfahrung
(bestehend aus Sinneswahrnehmung und Vernunft), die Wahrheitsliebe,
die Logik und die Tradition der göttlichen Offenbarung. Bei
Divergenzen zur Bibel nahm er die allegorische Interpretation zu
Hilfe. Die Atomtheorie des Kalam lehnte er ab (Simon/Simon 60,
62-66).

Samuel
ben Chofni
(gest. 1013) kämpfte
gegen Astrologie und Magie. Er dachte, Saul sei bei der
Totenbeschwörung durch die Hexe von Endor betrogen worden (vgl.
1 Sam 28,3-25). Fromme konnten ihm zufolge keine Wunder vollbringen
(obwohl im Talmud das Gegenteil steht), nur die Propheten zur
Bestätigung ihrer
Botschaften.

Nissim
ben Jakob
ist maßgeblich
von den Mutaziliten geprägt. "Den Zweck der Offenbarung
sieht er […] darin, daß sie die Zweifel behebt, die jede
rein rationale Erkenntnis immer noch übrig läßt, gibt
dem Gedanken aber die […] Wendung, daß die Unsicherheit
der begrifflichen Erkenntnis sich nicht nur […] auf die Zeit
ihrer Entstehung und Vorbereitung beschränkt, sondern ihr
dauernd anhaftet, und daß nur die sinnliche Gewißheit
volle Evidenz besitzt. In dem Besitz dieser sinnlichen Gewißheit,
die durch die Offenbarung gegeben ist, sieht er den Vorzug Israels
vor allen anderen Völkern" (Guttmann 88).

Samuel
ben Chofnis Schwiegersohn Hai (gest.
1038) entwickelte "eine äußerst subtile Theorie des
göttlichen Wissens. Gott weiß nicht nur, was tatsächlich
eintritt, sondern auch, wie sich der Lauf der Dinge gestaltet hätte,
wenn eine von der menschlichen Freiheit abhängige Entscheidung
anders ausgefallen wäre, als es in Wirklichkeit der Fall ist.
Gott weiß zwar, wie der Mensch sich in jedem Falle entscheiden
wird, aber da der Freiheit des Menschen an sich verschiedene
Möglichkeiten offen stehen, muß das göttliche Wissen
die Konsequenzen jeder dieser Möglichkeiten überschauen
können" (Guttmann 89).

Josef
ben Abraham Albasir
(Anfang 11.
Jh.) lehnte sich als Rationalist an die Mutaziliten an: "Die
Wunder der Propheten sind so lange kein Beweis für die Wahrheit
der von ihnen offenbarten Lehre, als wir nicht wissen, daß das
Wesen, von dem sie gesandt sind, unser Bestes will und kein Geist der
Täuschung, sondern ein Geist der Wahrheit ist. Von der
Wahrhaftigkeit Gottes aber kann uns […] nur die Vernunft
überzeugen" (Guttmann 90).

Ahron
ben Elia
hielt in "Der
Baum des Lebens" (1346) den Kalam für jüdisch und
betrachtete ihn als Gegensatz zum heidnischen Aristotelismus.

Isaak
Israeli
(um 850 – um 950)
"war in gewisser Weise der erste jüdische Philosoph, wenn
man den Ton auf ‚Philosoph‘ legt" (Simon/Simon 80). In seinem
"Buch der Definitionen" betrachtete er die Philosophie als
"’Angleichung an die Werke des Schöpfers entsprechend der
Fähigkeit des Menschen’" (zit. n. LphW 374). Seine
Naturphilosophie im "Buch der Elemente" "beruht
weitgehend auf Kompilation antiker Lehrmeinungen" (Heinrich
Simon, in: LphW 375).

Salomo
ibn Gabirol
(um 1021 –
1058 oder 1070) "gilt als einer der bedeutendsten hebräischen
Dichter des Mittelalters" (Simon/Simon 92). Ein Teil seiner
"Hymnen, Klagelieder, Gebete und Bußgesänge […]
wurde in die jüdische Liturgie aufgenommen". Sein
philosophisches Hauptwerk mit dem Titel "Lebensquell" stieß
"wegen seiner pantheistischen Gedanken […] bei den Juden
auf Widerstand" (MEL
9/603).

Bachja
ben Joseph ibn Pakuda
(11. Jh.) trat in seinem Hauptwerk
"Herzenspflichten" für die Stärkung der
sittlichen Gesinnung durch Religionsunterricht ein.

Die
Schrift "Vom Wesen der Seele" (um
1200) wurde Bachja ibn
Paquda "zu Unrecht […] zugeschrieben" (Simon/Simon
115). In ihr wird der Neuplatonismus mit den Lehren der Thora
gleichgesetzt.

Abraham
bar Chija
(1. Hälfte 12. Jh.) war Mathematiker, Astronom,
Naturwissenschaftler und Philosoph. In seiner "Betrachtung der
betrübten Seele bei ihrem Anklopfen an das Tor der Umkehr"
geht es um religiöse Unterweisung zur Hebung der Moral. "Die
Schrift des Enthüllers" enthält Abrahams
Geschichtsphilosophie und eine Berechnung der Zeit, zu der der
Messias kommt.

Der
rabbinische Richter Josef ibn Zaddiq (gest.
1149) behandelt in seinem "Mikrokosmos" den Menschen als
"kleine Welt", der nach dem höchsten Gut (Gott) und
vollkommener Tugend streben soll.

In
den Bibelkommentaren von Abraham ibn Esra (1089-1164
oder 1092-1167) sind auch textkritische Passagen enthalten, so daß
sich Spinoza auf ihn berufen konnte.

Der
nationalistisch eingestellte Arzt Jehuda Halewi (um
1085 – nach 1140) "gilt als einer der hervorragendsten
hebräischen Dichter des Mittelalters, dem höchstens Salomo
ibn Gabirol als gleichwertig zur Seite zu stellen ist"
(Simon/Simon 147). Er wollte vor allem "die Überlegenheit
des jüdischen Glaubens über die Philosophie […]
erweisen" (ebd. 151).

Der
Name von Abraham ibn Daud (vor
1110 – 1180) ist aus dem Hebräischen und Arabischen
gemischt worden, um eine Verwechslung mit Abraham ben David zu vermeiden (die arabische
Alternative wäre Ibrahim
ibn Daud
gewesen).
Im "Buch der Überlieferung" verfolgt er das
rabbinische Judentum bis zu Moses zurück. "Der erhabene
Glaube" in Briefform handelt von der philosophischen
Durchdringung des Glaubens. So versucht er zum Beispiel im 139. Psalm
die Kategorienlehre des Aristoteles zu finden (vgl. Simon/Simon 172f;
die Hervorhebung der als Kategorien gedeuteten Textteile durch
Kursivdruck und die Anordnung der Vershälften untereinander ist
von mir):

"Jahwe,
du erforschest mich, und du kennst mich; / Substanz

wann ich sitze und wann ich stehe, du weißt es. Lage

Meine
Gedanken schaust du von ferne
; Qualität

du
schaust mich, wann ich gehe und ruhe
; Quantität

all
meine Wege
sind dir vertraut. […] Qualität
(Habitus?)

Von
rückwärts und vorne schließt du mich ein
,
Qualität + Quantität

und
du legst auf mich deine Hand. […]

Wohin soll ich flüchten vor deinem Geiste? […] Wo

Du
bist es, der meine Nieren geschaffen; /

du
hast mich im Leib meiner Mutter gewoben
. […] Relation

Als
ich gebildet wurde im Dunkel, / Wirken + Leiden

gewoben in den Tiefen der Erde:

Schon
sahen deine Augen auf meine Taten, / Quantität

in
dein Buch sind alle geschrieben,

festgelegt
meine Tage, ehe noch einer von ihnen erschien
. Wann

Insgesamt
hat Aristoteles (384-322 v. Chr.) in seiner "Topik" zehn
Kategorien oder "Gattungen der Aussageformen" (ta
genē tōn katēgoriōn
)
aufgestellt: "Was-es-ist [Substanz],
So-und-so-viel
[Quantität],
So-und-so-beschaffen
[Qualität],
Im-Verhältnis-zu…
[Relation],
An-irgendeiner-Stelle
[Ort,
Wo],
Zu-der-und-der-Zeit
[Zeitpunkt,
Wann], Lage, Haben [Habitus],
Tun
[Wirken],
Erleiden
"
(103b; vgl. a. EPhW 2/368). Man kann sie in jedem beliebigen Text
finden, so daß sie nichts zur Interpretation der Bibel
beitragen.

Samuelson
betrachtet Moses Maimonides (1135-1204)
und Baruch Spinoza als "intellektuelle Ahnen der klassischen
Reform". Maimonides "lehrte, daß die höchste
Stufe eines sittlichen und religiösen Lebens, die ein Mensch
erreichen könne, das Leben eines Propheten sei" (S. 82f).
Er "gilt als der bedeutendste jüdische Religionsphilosoph
des Mittelalters." In seinem "Führer der
Unschlüssigen" versucht er eine Synthese von
Aristotelismus, Neuplatonismus und Judentum (MEL 15/473).

Der
Mathematiker, Astronom und Philosoph Lewi ben Gerson (1288-1344) verfolgt in seinem
Hauptwerk "Gotteskämpfe" das Ziel, für Gott alle
falschen Anschauungen zu bekämpfen. Im Gegensatz zu Maimonides
bezieht er die Astrologie in seine Philosophie ein.

Chasdai
ben Abraham Crescas
(um 1340 – 1410) bringt in seinem
philosophischen Hauptwerk "Gotteslicht" außer Polemik
gegen den "Führer der Unschlüssigen" des
Maimonides und Aristoteles eine eigene Interpretation der jüdischen
Religion.

Der
Rabbiner Josef Albo (um
1380 – um 1444) behandelt in seinem "Buch der Grundlehren"
die Grundlagen des Judentums. Seine 11 Dogmen "sind nun an sich
nicht für das Judentum spezifisch, und Albo räumt ein, daß
es verschiedene Religionen gebe, die geeignet sind, den Menschen zu
seiner Bestimmung zu führen, nämlich zum ewigen Heil im
Jenseits" (Simon/Simon 265).

Isaak
Abravanel
(1437-1508)
behauptete, er stamme von König David ab. Er verfaßte
Kommentare zur Bibel und zum "Führer der Unschlüssigen"
des Maimonides.

Jehuda
ben Jechiel
(2. Hälfte 15.
Jh.) verfaßte vor allem Kommentare zu Aristoteles, Averroes und
Porphyrius. In seiner Rhetorik vergleicht er
die biblische Sprache mit derjenigen von Cicero.

Elia
del Medigo
(ca. 1460 –
1497) unterscheidet in seiner "Prüfung der Religion"
Offenbarungs- und Vernunftwahrheiten. "Er teilt den Standpunkt
des Averroes, für die ungelehrte Mehrheit der Menschen seien die
Lehren der Religion entsprechend ihrem äußeren Wortsinn
verbindlich, während der philosophisch Geschulte sie
interpretieren dürfe und müsse" (Simon/Simon 275).

Die
"Dialoge über die Liebe" von Jehuda
Abravanel
(um 1460 – nach
1521) sind von Platon beeinflußt. "Die Liebe durchdringt
alle Teile des Kosmos und schließt sie zu einem einzigen
Individuum zusammen, dessen Sein im Streben nach Vervollkommnung und
in der Verwirklichung der vollen Harmonie besteht" (Simon/Simon
278).

Samuelson
rechnet Baruch Spinoza (1632-1677) zur jüdischen
Philosophie (S. 135), Guttmann und H. und M. Simon zählen ihn
nicht dazu. Begründung: "Die Aufgabe aller bisherigen
jüdischen Philosophie, die Religion des Judentums philosophisch
zu deuten und zu rechtfertigen, hat für Spinoza vom Beginn
seines selbständigen Philosophierens an ihren Sinn verloren"
(Guttmann 278). Spinozas "denkerische Intention" stelle ihn
"bewußt in die Kontinuität der europäischen
Tradition". Charakteristisch für die jüdische
Philosophie sei dagegen der "Versuch, philosophisches
Gedankengut […] mit jüdischer Religion zu vereinen und
sich bewußt in die Kontinuität der Tradition des Judentums
zu stellen oder zumindest Jude bleiben zu wollen." Spinoza habe
sogar "die jüdische Gemeinschaft verlassen"
(Simon/Simon 286).

Moses
Mendelssohn
(1729-1786) war das Vorbild für Lessings
Protagonisten in "Nathan der Weise", "wiewohl die
Figur des Nathan im wesentlichen ein Selbstporträt Lessings ist
und dessen Anschauungen repräsentiert.

Obwohl
Mendelssohn als Aufklärer weniger radikal und konsequent als
Lessing war, verfocht er doch dieselbe Sache, die durch die
Stichworte Vernunftreligion und Toleranz gekennzeichnet werden kann"
(Simon/Simon 287).

Obwohl
Mendelssohns "Phädon" (1767) auf den ersten Blick eine
Nachdichtung des gleichnamigen Dialogs von Platon vermuten läßt,
steckt dahinter etwas anderes. In einem in hebräischer Sprache
geschriebenen Brief an Hartwig Wessely erklärte Mendelssohn, "er
habe seine Unsterblichkeitsbeweise ursprünglich in hebräischer
Sprache und in Anlehnung an talmudische Aussprüche vortragen
wollen, mit denen er völlig im Einklange sei, statt sie dem
Sokrates in den Mund zu legen, der ihn als Bekenner der wahren
Religion nichts angehe" (Guttmann 307).

Seine
Einstellung gegenüber der jüdischen Religion hat er in
seiner Schrift "Jerusalem oder über religiöse Macht
und Judentum" (1783) deutlich gemacht: Unter der geistigen
Freiheit des Judentums versteht Mendelssohn, "daß die
Offenbarung nur das Handeln bestimmt und das Denken freiläßt"
(Guttmann 312).

Nachman
Krochmal
(1785-1840) verfaßte mit seinem "’Führer
der Unschlüssigen der Zeit‘ eine Geschichtsphilosophie, die den
historischen Prozeß als Kreislauf auffaßt; allein die
Juden überdauern auf Grund des Schutzes durch Gott, den
absoluten Geist, jeweils das Stadium des Verfalls" (Simon/Simon
293).

Der
Kantianer Salomon Maimon (1754-1800) nannte sich nach
Maimonides, den er kommentierte.

Salomon
Formstecher
(1808-1889) interpretierte das Judentum in seinem
Hauptwerk "Die Religion des Geistes" (1841) vor dem
Hintergrund von Schellings Philosophie.

Der
Rabbiner Samuel Hirsch (1815-1889) legte das Judentum in
seiner "Religionsphilosophie der Juden" à la Hegel
aus.

Salomon
Ludwig Steinheim
(1789-1866) betrachtete in seinem Hauptwerk "Die
Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge" (4 Bände,
1835-1865) das Christentum als Mischung von Offenbarungs- und
Naturreligion, während ihm das Judentum als reine
Offenbarungsreligion galt.

Moritz
Lazarus
(1824-1903) befaßte sich mit der jüdischen
Ethik auf der Basis von Talmud und Kant. "Er sieht darum an der
religiösen Beziehung des Menschen zu Gott nur das sittliche
Moment und läßt an dem biblischen Gedanken von der
Heiligkeit Gottes wie an den religiösen Grundgefühlen der
Ehrfurcht und Liebe das spezifisch religiöse Moment
unberücksichtigt" (Guttmann 344).

Hermann
Cohen
(1842-1918) war der "Hauptvertreter des
Neukantianismus der Marburger Schule" (MEL 5/798). Zur jüdischen
Philosophie gehören "Der Begriff der Religion in dem System
der Philosophie" (1915), 60 Aufsätze in "Jüdische
Schriften" (3 Bände, 1924) und "Religion der Vernunft
aus den Quellen des Judentums" (1919). Im letztgenannten Werk,
das erst nach seinem Tod erschien, behandelt Cohen Gott und Mensch,
Kult und Gebet, Schöpfung und Offenbarung, Versöhnung und
Auferstehung, den heiligen Geist, den Messianismus, das Gesetz und
die Tugenden.

Martin
Buber
(1878-1965) befaßte sich mit dem Chassidismus,
Anthropologie, Ethik, Soziologie und Erwachsenenbildung. "Sein
Buch ‚Ich und Du‘ (1923), das das dialogische Prinzip zur Grundlage
menschlichen Miteinanders wie auch der Beziehung des Menschen zu Gott
macht, befruchtete auch christliche Theologie und Ethik" (MEL
4/846). In Bubers eigenen Worten: Sein "wesentlichstes Anliegen"
ist "die enge Verbundenheit der Beziehung zu Gott mit der
Beziehung zum Mitmenschen" (S. 122).

Die
Begründung dafür bringt er in "Zwiesprache"
(1929): "Wer mit den Menschen reden will, ohne mit Gott zu
reden, dessen Wort vollendet sich nicht; aber wer mit Gott reden
will, ohne mit den Menschen zu reden, dessen Wort geht in die Irre"
(S. 160).

Wieder
zurück zu "Ich und Du": Es geht Buber darum, daß
"wir […] nicht bloß zu anderen Menschen, sondern
auch zu Wesen und Dingen, die uns in der Natur entgegentreten, im
Ich-Du-Verhältnis stehen können" (S. 123). Das
Gegenteil davon ist das Ich-Es-Verhältnis, bei dem nie das ganze
Wesen des Menschen beteiligt ist (S. 7).

Ein
Dialog zwischen Buber und seinen Glaubensgenossen kam leider nicht
zustande (Scholem: Vortrag auf der Eranos-Tagung 1966, in: Judaica
2/191). Er hatte fast keinen Einfluß auf sie. Gustav Landauer,
einer von Bubers Freunden, stellte schon 1913 fest, daß er das
Judentum nicht vor den Juden, sondern "’vor der Menschheit’"
vertrete (ebd. 2/135). Alle hätten ihn besser verstanden als die
Juden, kommentiert Scholem (2/136).

Dafür
gab es mehrere Gründe:



  • Die
    Jugend, die Buber zur Auswanderung nach Israel aufgerufen hatte,
    verzieh ihm nicht, daß er selbst nicht mitkam (2/134): 1904
    starb Theodor Herzl; im selben Jahr beendete Buber seine
    zionistische Arbeit. Erst 1938 emigrierte er nach Jerusalem.
  • Buber
    veränderte das Judentum (2/136).
  • Er
    nahm nicht am Kultus teil – keiner sah ihn jemals in einer
    Synagoge (2/137).
  • Er
    hielt das göttliche Gesetz in der Thora für
    lebensfeindlich (2/142), die Berichte der Thora für nicht
    historisch (2/174).
  • Er
    gab seine Quellen gar nicht oder nur nur den Titel an, so daß
    die Überprüfung seiner Interpretionen der chassidischen
    Mystiker erschwert wurde (2/184f).

Schon
1962 hatte Scholem in "Martin Bubers Deutung des Chassidismus"
(in: Judaica 165-206) kritisiert,


  • daß
    Bubers Auswahl selektiv sei (er
    ignoriere weitgehend
    die älteren Traktate zugunsten der jüngeren Legenden),
  • daß
    er Magie und Soziologie des Chassidismus nicht berücksichtige,
  • daß
    seine persönliche Wandlung vom Mystiker zum Existentialisten
    die Interpretation des Chassidismus verändere
    (zuerst
    habe er
    Kabbala und Chassidismus identifiziert, später habe
    er
    die kabbalistischen Wurzeln des Chassidismus ignoriert und dessen
    theoretische Schriften vernachlässigt; aus der chassidischen
    Freude an der Gegenwart Gottes im Augenblick habe er die
    existentialistische Freude am Augenblick gemacht),
  • daß
    er behaupte, der Chassidismus habe die Esoterik weggelassen (das sei
    falsch),
  • daß
    er meine, im Chassidismus sei die Trennung eines Lebens in der Welt
    und in Gott überwunden (auch das sei
    falsch),
  • daß
    er als "religiöser Anarchist" (S. 197) den Weg des
    einzelnen offengelassen habe, während der Chassidismus konkrete
    Vorgaben im Rahmen des Judentums (Thora) mache,
  • daß
    er das Individuelle als Charakteristikum des Chassidismus
    hingestellt habe, während es doch aus der lurianischen Kabbala
    komme, "die Buber in seinen späteren Schriften so schief
    ansieht" (S. 200),
  • daß
    er chassidischen Begriffen andere Bedeutungen unterschiebe
    und
    seine Übersetzungen deshalb zum Teil falsch seien,
  • daß
    er Zen-Geschichten als Legenden mißverstehe
    (sie
    seien Aufgaben zum Meditieren) und
  • daß
    der Messianismus bei ihm zu kurz komme, weil er ihn nicht verstehe.

Zusammengefaßt:
"Er kombiniert die Fakten und die Zitate, wie es seiner Absicht
entspricht. Diese Absicht besteht aber darin, den Chassidismus als
ein geistiges Phänomen, nicht als ein historisches darzustellen"
(S. 170). "Ich bin nicht überzeugt, daß der Sinn
seiner Botschaft, wie er ihn formuliert hat, der des Chassidismus
ist" (S. 205).

Dabei
hat Buber seine ersten beiden Ausgaben chassidischer Legenden –
"Die Geschichten des Rabbi Nachman" (1906) und "Legende
des Baalschem" (1907) – später selbst "verworfen",
da ihm seine "Bearbeitungsmethode […] als allzu frei"
erschien, und sie nicht in die Ausgabe von 1949 aufgenommen (Die
Erzählungen der Chassidim, Vorwort, S. 13).

Was
ist nun aber der Chassidismus? Das Wort ist von hebr. chassid =
fromm abgeleitet. Die Bewegung geht auf Israel Ben Elieser (um
1700-1760) zurück, der von seinen Anhängern Baal
Schem Tow
("Meister des
guten [nämlich göttlichen] Namens"; Rothschild 91)
genannt wurde. "Hauptgegenstand der Lehre ist die Vorstellung
vom Einssein Gottes mit seiner Schöpfung und der jedem Wesen
innewohnenden Gottesherrlichkeit. Im Gegensatz zur Askese gelangt der
Mensch durch freudigen Dienst an Gott zum Einssein mit Gott. Hierbei
sind Inbrunst und Ekstase in Gebet und Tanz wichtige Elemente"
(MEL 3/268).

Zur
Ergänzung von Scholems Beobachtungen über den gescheiterten
Dialog zwischen Buber und seinem Volk noch einige Bemerkungen über
mögliche Gründe:


  • In "Zwiesprache"
    erzählt Buber von der Begegnung mit einem ratsuchenden
    Menschen, bei dem er es "nach einem Morgen ‚religiöser‘
    Begeisterung […] unterließ […], die Fragen zu
    erraten, die er nicht stellte." Seither hat Buber "jenes
    ‚Religiöse‘ […] aufgegeben oder es hat mich aufgegeben.
    […] Das Geheimnis tut sich nicht mehr auf" (S. 158).
  • Im selben Werk (S.
    190) charakterisiert Buber das Antworten als Können (im
    Gegensatz zum Sollen). In "Die Frage an den Einzelnen"
    stellt er fest: "Wer nicht mehr Antwort gibt, vernimmt das Wort
    nicht mehr" (S. 207).
  • In "Elemente
    des Zwischenmenschlichen" stellt Buber an ein echtes Gespräch
    folgende Anforderungen: Die Gesprächspartner müssen
    wahrhaftig sein, sich in ihrem ganzen Wesen einbringen und
    rückhaltlos offen sein. Wenn sie letzteres nicht sind, entsteht
    eine überaus komplizierte Situation – statt zwei Menschen
    sind es auf einmal acht, die sich mit einander unterhalten, zwei
    Menschen (4.) und sechs Gespenster (1.-3.): 1. wie sie einander
    erscheinen wollen; 2. wie sie einander tatsächlich erscheinen;
    3. wie jeder "sich selbst erscheint"; 4. die körperlichen
    Personen. Da es jeweils zwei sind, sind es also insgesamt acht (S.
    279).

Mordechai
Kaplan
(1881-1983) begründete den Rekonstruktionismus der
amerikanischen Juden. "Im Mittelpunkt steht die Vorstellung vom
Judentum als ‚Zivilisation‘, in der sich jüdische Geschichte und
Religion, eine eigene Sprache und spezielle soziale Verhaltensformen
vereinigt haben. Im Zentrum dieser Zivilisation steht das jüdische
Volk, dessen besonderer Charakter gegenüber anderen Völkern
und Zivilisationen hervorgehoben wird" (MEL 19/686).

Gershom
Scholem
(1897-1982) schrieb vor
allem über die jüdische
Mystik und die Kabbala. In den sechs Bänden seiner Judaica befaßt er sich außerdem
mit Judaistik, Alchemie, Nihilismus, Messianismus, Sabbatianismus,
Zionismus, Israel, dem Verhältnis zwischen Juden und Deutschen
sowie verschiedenen Autoren.

Über
den Essay "Erlösung
durch Sünde" schreibt Michael Brocke im Nachwort: "Kein
anderes Werk Scholems hat einen vergleichbaren Schock ausgelöst"
(5/134). Scholem behandelt hier "die Ideologie des
Sabbatianismus und ihre Entwicklung" (5/15).

Der
Sabbatianismus ist benannt nach Sabbatai Zwi (1626-1676), der sich
als Messias ausgab, aber 1666 zum Islam übertrat, um der
Hinrichtung durch die osmanischen Behörden zu entgehen. Diese
Konversion bedeutete für seine Anhänger ähnliche
Erklärungsnöte wie die Kreuzigung Jesu für die
Christen. Scholem faßt die Ideologie von Sabbatais Jüngern
unter den Schlagworten "Nihilismus" und "Frankismus"
zusammen. Sie schloß den Grundsatz ein, "daß ‚die
Aufhebung der Tora ihre Erfüllung‘ sei" (5/19), was Scholem
als Zerstörung des Judentums interpretiert (5/88).

Der
Frankismus ist nach Jakob Frank (1726-1791) benannt, der zuerst
Muslim und später Katholik
wurde. Scholem rechnet ihn "zu
den abstoßendsten Erscheinungen der jüdischen Geschichte":
"Ein religiöser Anführer, der, ob nun Scharlatan oder
Schurke, tatsächlich korrupt und verdorben war" (5/89) und
die Zerstörung als Weg zur Freiheit betrachtete (4/178).

Andere
Jünger Sabbatais schlossen sich in Saloniki zur Sekte der Dönmeh
(türkisch: "Apostaten"; vgl. Scholem: Judaica 174)
zusammen. Am 22. Adar feierten sie das "’Fest des Lammes’"
mit einer als "’Löschen der Lichter’" bezeichneten
sexuellen Orgie, die Partnertausch
einschloß. Scholem führt sie auf einen "uralten
heidnischen Kult der ‚großen Mutter’" in Izmir zurück.
"Noch nach dem Untergang der heidnischen Kulte hielten sich in
abgelegenen Winkeln Kleinasiens unter der Maske des Islam Sekten der
‚Auslöscher des Lichts’" (5/68f).

Unter
den christlichen Gnostikern finden wir übrigens dasselbe und
noch mehr: Epiphanios (um 315 – 403), Bischof von Constantia
(Salamis) auf Zypern, gibt
in seinem Panarion ("Arzneikasten
gegen alle Irrlehren" ) folgende
Schilderung von den Orgien der Barbelo-Gnostiker, die er mit eigenen
Augen gesehen hat (26,4f):

"’Sie
haben ihre Frauen gemeinsam […]. Üppige Speisen tragen
sie auf, essen Fleisch und trinken Wein, auch wenn sie arm sind. Wenn
sie so miteinander getafelt und sozusagen die Adern mit ihrem
Überschuß an Kraft angefüllt haben, gehen sie zur
Anreizung über. Und der Mann verläßt den Platz an der
Seite seiner Frau und spricht zu seinem eigenen Weibe: Stehe auf und
vollziehe die Agape mit dem Bruder. […] Nachdem sie sich […]
vereint haben, erheben sie […] noch ihre eigene Schande gen
Himmel: Weib und Mann nehmen das, was aus dem Manne geflossen ist, in
ihre eigenen Hände, treten hin, richten sich nach dem Himmel zu
auf mit dem Schmutz an den Händen und beten als sogenannte
Stratiotiker und Gnostiker, indem sie dem Vater, der Allnatur, das,
was sie an den Händen haben, selbst darbringen mit den Worten:
‚Wir bringen dir diese Gabe dar, den Leib des Christus.‘ Und dann
essen sie es, kommunizieren ihre eigene Schande und sagen: ‚Das ist
der Leib des Christus, und das ist das Passah, um dessentwillen
unsere Leiber leiden und gezwungen werden, das Leiden des Christus zu
bekennen.‘ So machen sie es auch mit dem Abgang des Weibes, wenn es
in den Zustand des Blutflusses gerät. Das von ihrer Unreinheit
gesammelte Menstrualblut nehmen sie ebenso und essen es gemeinsam.
Und sie sagen: ‚Das ist das Blut Christi.‘ […] Wenn sie sich
aber auch miteinander vermischen, so lehren sie doch, daß man
keine Kinder zeugen dürfe. Denn nicht zur Kinderzeugung wird bei
ihnen die Schändung betrieben, sondern um der Lust willen, da
der Teufel mit ihnen sein Spiel treibt und das von Gott geschaffene
Gebilde verhöhnt’" (zit. n. Leisegang 190ff).

Epiphanios
berichtet weiter, daß versehentlich gezeugte Kinder abgetrieben
wurden. Die Embryos bereiteten sie mit Hilfe von Honig, Gewürzen
und Ölen zu einer Mahlzeit zu und aßen sie auf. Danach
beteten sie zu Gott: "’Wir ließen nicht Spiel mit uns
treiben vom Archon der Lust, sondern sammelten die Verfehlung des
Bruders.‘ Auch das halten sie nämlich für das vollkommene
Passah" (ebd. 192f).

Hans
Leisegang kommentiert: "Man sieht hieraus, daß der von den
Römern so oft erhobene Vorwurf: die Christen schlachten zu ihren
Kultmahlen kleine Kinder, nicht jeder Begründung ermangelt, so
wie es von den Apologeten, die allerdings hiervon selbst nichts
gewußt haben, hingestellt wird. Auch diese Gnostiker waren
Christen, bis sie auf Grund der Anzeige des Epiphanios aus der Kirche
ausgestoßen wurden" (S. 193).

Die
mittelalterlichen Christen und die modernen Antisemiten warfen den
Ritualmord schließlich den Juden vor. "Obwohl von Kaisern
und Päpsten mehrfach die Unwahrheit der Anklage festgestellt
wurde, waren die Vorurteile unausrottbar […]. Die Anklage auf
Ritualmord entstand besonders zur Passahzeit. Die seelische Erregung
während der dem gleichen Zeitraum angehörenden Passion mag
die Christen in eine verstärkte antijüdische Stimmung
gebracht haben, zumal in den Kirchen die Bilddarstellungen der
Leidensgeschichte und der jüdischen ‚Schuld‘ […] tiefe
Wirkungen übten.

Das
jüdische Brauchtum zum Passahfest schien mit seinem für
Fremde undurchschaubaren Ablauf verdächtig. […] Seit dem
12. Jahrhundert hat die Blutbeschuldigung unzählige Verfolgungen
ausgelöst. Die Anklage war stets gleich: Die Juden ergriffen,
quälten und töteten Christen (insbesondere Kinder), deren
Blut sie für ihre religiösen Praktiken benötigten.
Auch das von christlicher Seite mißdeutete Schächten mag
Anlaß der Unterstellungen gewesen sein" (Gamm 51f).

Schalom
Ben-Chorin
(1913-1999) wurde
durch seine Trilogie über Jesus, Paulus und Maria bekannt. In
"Die Erwählung Israels" interpretiert er die
Beschneidung als "Humanisierung des Menschenopfers" (S.
21). Den Lobpreis Gottes "’Wie gut ist unser Teil, wie angenehm
unser Los…’" kann er nach Auschwitz nicht mehr beten (S. 27).
Das Leid des jüdischen Volkes erklärt er so: Gott läßt
es leiden, um eine Rechtfertigung für seine Erhöhung zu
haben (S. 55). Er findet, daß die Juden Jesus nicht brauchen,
weil sie schon bei Gott sind (S. 70). Die verhinderte Opferung Isaaks
und Jesu Kreuzigung betrachtet er als Widerlegung der Klischees vom
"Gott der Rache" im Alten und vom "Gott der Liebe"
im Neuen Testament (S. 124f).

Die
Philosophie von Emil Fackenheim (1916-2003) "beruht auf
seiner Bindung an einen auf die Bibel gegründeten Glauben, der
bejaht, daß es ein vollkommenes Wesen gibt, den Gott Israels,
der in der Geschichte auf besondere Art und Weise handelt. Gottes
besondere Manifestationen in der Geschichte werden ‚epochemachende
Ereignisse‘ genannt" (Samuelson 331). Dazu rechnet Fackenheim
den Auszug aus Ägypten, die Mitteilung der Gebote an Moses, die
beiden Zerstörungen des Tempels 586 v. Chr. durch die Chaldäer
und 70 n. Chr. durch die Römer, die Emanzipation der Juden im
Gefolge der Aufklärung, den Holocaust und die Gründung des
Staates Israel.

Pinchas
Lapide
(1922-1997), vor allem bekannt durch seine Auslegung der
Bibel, insbesondere der Evangelien, zitiert in "Wie liebt man
seine Feinde?" Rabbi Nathan, der auf die Frage, wer der
Mächtigste sei, antwortete: "’Wer die Liebe seines Feindes
gewinnt’" (S. 20). Mit einer rabbinischen Parabel betrachtet
Lapide "den Kochtopf als Vorbild für alle Friedensstifter",
da er eine friedliche, konstruktive Zusammenarbeit zwischen Feuer und
Wasser ermögliche (S. 31).

In
"Er wandelte nicht auf dem Meer" macht Lapide bei der
Interpretation des Vaterunsers darauf aufmerksam, daß sich
Juden gegenüber Nichtjuden besonders lauter zu verhalten haben,
um Gott nicht zu entehren (S. 62). Wie steht es damit nach Auschwitz?
Lapide erzählt dazu eine Geschichte von Eli Wiesel: "In
Auschwitz saßen einst zehn fromme Juden zusammen und hielten
Gericht über Gott" (S. 92). Nachdem sie ihn schuldig
gesprochen hatten, beteten sie zu ihm (S. 93).

In
"Mit einem Juden die Bibel lesen" vergleicht Lapide die
Versklavung der Hebräer durch die Ägypter unter Hinweis auf
Ex 1,8-12 und 5,6-20 "mit dem Inferno der Konzentrationslager"
(S. 31). Ergänzend zu den angegebenen Stellen sollte man auch
noch Ex 1,13f lesen: "Deshalb zwangen die Ägypter die
Israeliten zur Arbeit und verbitterten ihnen das Leben durch harte
Fron in Lehm und Ziegeln und durch allerlei Feldarbeit, durch alle
Arbeiten, zu denen man sie zwang."

Lapide
kommentiert: "Die aufreibende Zwangsarbeit, der Sadismus der
Funktionäre, die Psychose von Mißtrauen und Haß, der
ununterbrochene Terror – alles mit dem Ziel, Menschen zu
entmenschen und wie Vieh umzubringen – dies machte Ägypten
zum Vorläufer des Nazireiches und vergegenwärtigt den
Exodus für unsere Generation wie kaum für eine andere in
der langen Leidensgeschichte Israels" (S. 31).

Die
"Kriege der sogenannten Landnahme und Landsicherung"
bezeichnet Lapide mit dem evangelischen Theologen Gerhard von Rad
(1901-1971) als "Verteidigungskriege", die die Rabbiner zu
den "’gebotenen Kriegen’" rechneten. Die Kriege von König
David gehörten für die Rabbiner zu den "’freiwilligen
Kriegen’". "Einen ‚Heiligen Krieg‘ im Sinne einer
muslimischen Dschihad oder eines augustinischen ‚bellum
justum‘
[lat.:
"gerechter Krieg"] hat es im Judentum nie gegeben" (S.
136).

Zum Tötungsverbot
in Ex 20,13 schreibt Lapide in "Ist die Bibel richtig
übersetzt?": "Nun steht aber in der Hebräischen
Bibel das Verbum ‚razach‘, das nicht jede beliebige Art zu töten
meint, sondern ausschließlich ein Töten, das außerhalb
des Gesetzes geschieht. Es kann je nach dem Zusammenhang ‚ermorden‘,
‚unabsichtlich töten‘ oder ‚in Leidenschaft töten‘
bedeuten. Nie aber wird das Verbum gebraucht für das Töten
im Krieg oder für die gesetzliche Hinrichtung von Verbrechern.
Es bietet daher keine Handhabe für die Abschaffung der
Todesstrafe noch gegen die Ableistung des Wehrdienstes" (S.
37f).

Mit
dem Thema "Schuld" setzt sich Lapide in "War Eva an
allem schuld?" und "Wer war schuld an Jesu Tod?"
auseinander. Das erste Buch bringt Rundfunkgespräche mit Lapide
über die Schöpfung. Im zweiten meint er, Jesus sei nicht
wegen seines Anspruches auf den Messias-Titel angeklagt worden: "Es
gab nicht weniger als neunzehn Messias-Anwärter im Laufe der
jüdischen Geschichte, von denen kein einziger von einer
jüdischen Behörde wegen dieses Anspruchs belangt worden
ist." Auch die Beanspruchung der Gottessohnschaft sei keine
Gotteslästerung, sondern lediglich "ein Kompliment für
einen frommen, gottergebenen Juden" gewesen (S. 59). Jesu
"Schimpftiraden" gegen die Pharisäer im
Matthäusevangelium (Mt 23,13-39) seien Widerspiegelungen der
Auseinandersetzungen der Heidenchristen mit den Pharisäern, die
bei den Römern als "’Rebellen’" galten (S. 110).

In
"Er predigte in ihren Synagogen" weist Lapide auf "eine
grammatische Merkwürdigkeit […] beim Gebot der
Nächstenliebe" hin: "Da es im Hebräischen keinen
kategorischen Imperativ gibt, sondern nur die Zukunftsform, so heißt
es eigentlich nicht: Du sollst deinen Nächsten lieben, sondern
du wirst ihn
lieben!" (S. 96)

In
"Ist das nicht Josephs Sohn?" faßt Lapide "in
Kürze die Hauptzüge des Jesusbildes in den heutigen
Schulbüchern des Staates Israel" zusammen: Der
Antisemitismus der Christen wird nicht Jesus angelastet. Jesu
Hinrichtung führt zur Identifizierung der Juden mit ihm. Seine Rechtgläubigkeit als
Jude wird schwerer gewichtet als seine Reformvorschläge (S. 78).

Schlußbemerkung

Wer
sich auf die Vielgestaltigkeit der Philosophien der großen
Religionen einläßt, wird feststellen, daß es
innerhalb jeder Religion so gut wie alle Richtungen vom
Traditionalismus über den Rationalismus bis zur Mystik gibt, die
die beiden ersteren mit persönlichen Erfahrungen verbindet.
Diese Vielfalt innerhalb der einzelnen Religionen macht jeden
fundamentalistischen Streit vollkommen sinnlos. Auch macht es keinen
Sinn, einen Gegensatz zwischen Philosophie und Religion zu
konstruieren (selbst der dogmatische Materialismus und Atheismus ist
eine Art Glaube und taucht schon bei den alten Chinesen, Indern,
Griechen und Römern auf).

Der
interreligiöse Dialog sollte also nicht so laufen: "Im
Gegensatz zu den Juden sagen die Christen …, aber die Muslime
glauben …", sondern: "Dem und dem im Judentum
entspricht das und das im Christentum und das und das im Islam."
Die Basis eines derartigen Dialogs sollte das Wissen darum sein, daß
man (fast) überall (fast) alles finden kann.

Das
kann man zum Teil sogar bis in den Kultus hinein verfolgen: Stola,
Kirche, Kanzel, ewiges Licht, Weihwasserbecken, die Trennung von
Männern und Frauen (außer bei Familien) und
Doppelfeiertage haben jüdische Vorbilder, Ostern, Pfingsten und
Erntedank sind jüdische Feste (vgl. Trepp 177-203).

© Gunthard Rudolf Heller, 2013

Anmerkung der Redaktion: Da der Artikel „Überlänge“ hat, d. h. zu lange ist, mussten wir das Literaturverzeichnis auslagern. Sie finden es unterhalb des Artikels in den Kommentaren.

Gunthard Heller