Jürgen Habermas und die deutsche Studentenbewegung – Lektüretips

Jürgen
Habermas (geb. 1929) wurde neben Adorno und Horkheimer "führender
Theoretiker der kritischen Gesellschaftstheorie der sogenannten
‚Frankfurter Schule‘ […]. Für die deutsche studentische
Protestbewegung der sechziger Jahre war er ein wichtiger
Gesprächspartner, der maßgeblich zur Klärung
aktionistischer, anarchistischer und dogmatisch-totalitärer
Positionen beitrug"
(Reiner Wimmer, in: EphW 2/19).

1.
Die Frankfurter Schule

"Charakteristisch
für die Frankfurter Schule ist eine Verbindung des die
demokratischen bürgerlichen Rechts- und Verfassungsstaaten
leitenden Vernunftprinzips mit den Grundlagen der von K. Marx
geleisteten politisch-ökonomischen Analysen der bürgerlichen
Gesellschaft." Daraus
resultieren "eine Kritik […] der kapitalistisch
strukturierten bürgerlichen Demokratien", "der
totalitären, insbesondere bürokratischen, Scheinformen des
Sozialismus" und der Wissenschaft ("Kritische Theorie")
(Friedrich Kambartel, in: EphW 1/669).

Rolf
Kosiek hat die Frankfurter Schule heftig kritisiert: Deren Vertreter
hätten die Jugend verwirrt (S 7). "Durch
ihre Forderung nach Kritik aller bestehenden, als
Unterdrückungsverhältnisse behaupteten Beziehungen, nach
Demokratisierung und Emanzipation, nach Abbau aller Bindungen und
Verpflichtungen, nach Sexualisierung des Lebens und Umwälzung
aller politischen Verhältnisse gab diese Schule die theoretische
Begründung und wurde dann der Wortführer in Westdeutschland
für die Auflösungserscheinungen in Staat und Gesellschaft
seit den fünfziger Jahren. Durch die Zerstörung des Heimat-
und Volksbegriffes sowie durch ihren ausgesprochenen Antibiologismus
bereitete sie darüber hinaus den Boden für die dann
einsetzende Umweltzerstörung vor"
(S. 15).

Anhand
dieses Zitats ist zu sehen, daß Kosieks Buch mindestens genauso
verwirrend ist, denn da wird alles mögliche in einen Topf
geworfen, was gelinde gesagt etwas differenzierter beurteilt werden
sollte: Warum sollen Demokratie und Emanzipation schlecht sein? Was
spricht wirklich gegen Individualisierung und sexuelle Befreiung? Ist
die Umweltzerstörung nicht eher auf finanzielle Gier
(Profitmaximierung in der Wirtschaft) als auf einen ideologischen
Trend (von rechts nach links) zurückzuführen?

2. Die deutsche Studentenbewegung

Die
Studentenunruhen in den 1960er Jahren wandten sich "zuerst
meist gegen schlechte Studienbedingungen, bald aber gegen politische
und soziale Verhältnisse schlechthin"
(MEL 22/722).

Die
Demonstrationen der 68er gegen den Vietnamkrieg betrachtet Notker
Wolf, heute Abtprimas des Benediktinerordens, als "Gesinnungsshows,
allenfalls gut zur kollektiven Einübung in Selbstgerechtigkeit."
Ihre Diskussionen mit Professoren glichen "oft genug einem
Verhör zum Zweck der
Verhöhnung. […]

Ich
begriff bald dass diese Leute jedem erlaubten, seine Meinung frei zu
äußern, solange er ihrer Meinung war. Andernfalls
allerdings wurde der Betreffende im Namen der Meinungsfreiheit zum
Schweigen gebracht. […]

Es
war schon ein Zeichen von Nachsicht, wenn sie bei Leuten, die ihre
Auffassung nicht teilten, lediglich die Auswirkungen von
‚Manipulation‘ feststellten – als wären die Ärmsten
Opfer einer Gehirnwäsche geworden" (S. 57f).

Die
an der Universität München organisierten Störungen der
Vorlesungen waren für Wolf "der Offenbarungseid von Leuten,
denen es in keiner Weise um Freiheit ging, sondern darum, auch einmal
unterdrücken zu dürfen." Durch die offenen Fenster des
antiautoritären Kinderladens gegenüber des Studienkollegs
in der Königinstraße sah Wolf damals, "wie sich die
Kleinsten schon in Psychoterror und Gewalt üben durften."
Er sah "nackte Kinder herumspringen, die sich mit Kot bewarfen
oder damit die Wände beschmierten oder einfach kaputtmachten,
was ihnen in die Hände fiel" (S. 58).

Wolf
hält es deshalb für einen "gut gepflegten Mythos",
daß wir den 68ern "Toleranz, Liberalität,
Weltoffenheit und individuelle Freiheit […] verdanken"
und betrachtet die deutsche Studentenbewegung eher als "Reaktion
auf die Gräuel des Nationalsozialismus", als "Versuch,
eine Schuld aus der Welt zu schaffen, die sie selbst gar nicht auf
sich geladen hatte" (S. 59).

Doch
er sieht auch die andere Seite der 68er, die für ihn identisch
ist mit der "Lehre unseres Ordensgründers": den "Geist
der Rebellion gegen die Bevormundung durch Institutionen", den
Kampf gegen die Einmischung von Autoritäten in das persönliche
Leben, die Abwendung vom Herdeninstinkt und das Streben nach
persönlichem Glück und individueller Freiheit (S. 98).

Aber
im Gegensatz zu den 68ern hält Wolf die Selbstverwirklichung
"nur innerhalb einer Gemeinschaft" für möglich,
"unter den Voraussetzungen einer sinnvollen Ordnung" (S.
102).

3.
"Protestbewegung und Hochschulreform"

Unter
diesem Titel "sind die wichtigsten Aufsätze von Jürgen
Habermas zur Universitätsreform, zur Hochschulgesetzgebung und
zur studentischen Protestbewegung zusamengefaßt" (S. 2).

Die
Kritik, die Habermas in der umfangreichen Einleitung (S. 9-50)
vor allem an den Aktionisten der Studentenbewegung übt, ist
bockelhart: "Sie sind
nicht länger willens, sich an den Rationalitätsanspruch von
Diskussionen zu binden"
(S. 9).

Habermas
gliedert die Proteste der deutschen Studenten in drei Phasen:

1.
gegen Hochschulangelegenheiten und Vietnamkrieg;
2. gegen
Springer-Konzern ("Bild", "Die
Welt"), Notstandsgesetzgebung, Parteien und Gewerkschaften;
3. gegen Reformen
an Hochschulen (S. 10f).

Bei
der Untersuchung der ideologischen Grundlagen der Protestler
unterscheidet Habermas Absichten ("Intentionen") von
Rechtfertigungen. Es sind jeweils drei: Intentionen sind die "Parole
der Großen Weigerung" (= Unzufriedenheit darüber, daß
bisher Proteste nutzlos waren; S. 14), die "antiautoritäre
Einstellung" (= Kampf gegen Leistungsforderungen; S. 15) und die
"Parole der Neuen Unmittelbarkeit" (= Drang nach der
Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse; S. 16). Rechtfertigungen
für diese Intentionen sind Imperialismus, Anarchismus und
maoistische Kulturrevolution (S. 18-28).

Das
Resümee von Habermas ist vernichtend: Er findet in der aus den
genannten Quellen gespeisten Ideologie der Studentenbewegung zwar
"rationale Elemente; aber insgesamt decken sie sich mit
empirisch gestützten Realitätseinschätzungen so wenig,
daß einige ihrer Verbindungen zu fixen Ideen werden" (S.
28).

Im
Hinblick auf den Hintergrund der Studentenbewegung kann Habermas
nicht auf Fakten, sondern nur auf "Erklärungsversuche"
(S. 33) verweisen, u.a. das bürgerliche Elternhaus mit
Liberalisierung bzw. fehlender Vaterfigur und die Kritische Theorie.

Die
"Dialektik der
Aufklärung" (1944) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno faßt Habermas
kurz zusammen: Die Autoren haben die "These
entfaltet, daß technische Rationalität heute mit der
Rationalität der Herrschaft selber verschmilzt"
(S. 41).

Den
Vorwurf, er hätte "die Scheinrevolution erst nahegelegt und
dann ‚verraten’", weist Habermas mit folgender Begründung
zurück: "die Tendenzen zur Aushöhlung der formal
rechtsstaatlichen Demokratie, die dem autoritären
Wohlfahrtsstaat innewohnen, sind nur aufzufangen, wenn die
geschichtliche Transformation des liberalen Rechtsstaates in eine
sozialstaatliche Demokratie auf der Grundlage und unter Ausschöpfung
geltender Verfassungsnormen mit Willen und Bewußtsein
fortgesetzt wird" (S. 43).

In "Die Scheinrevolution und ihre Kinder", sechs
Thesen, die am 5. Juni 1968 in der Frankfurter Rundschau erschienen, sprach Habermas in einem Fall gar von "Wahnvorstellung"
und "Infantilismus" (S. 197f), die "bis an die Grenze
lächerlicher Potenzphantasien" reichten (S. 200).

Daraufhin
erschien ein Sammelband unter dem Titel "Die Linke antwortet
Jürgen Habermas"
, in dem 15 Autoren Stellung zu dem
Artikel bezogen (in den Bibliographien wird aus alphabethischen
Gründen Wolfgang Abendroth stellvertretend für die anderen
angegeben).

Oskar
Negt
wies darauf hin, daß Habermas mit einer öffentlichen
Stellungnahme zur Studentenbewegung lange zögerte und keine
Replik für den Sammelband schrieb, wie das ursprünglich
vorgesehen war. Das interpretierte Negt so, daß es Habermas um
eine Grundsatzdiskussion "innerhalb der Neuen Linken"
ging (S. 18).

Er
kritisierte vor allem, daß Habermas auf der Basis "eines Revolutionsbegriffs und einer Organisationspraxis"
argumentiert habe, der weder der aktuellen Wirklichkeit entspreche
noch die Aktionen der Studenten bestimme (S. 25). Auch Furio
Cerutti
(S. 37), Arnhelm
Neusüss
(S. 53) und Peter
Brückner
(S. 75) versetzten
Habermas einen Schlag in diese Kerbe, gaben ihm also seinen Vorwurf
der Realitätsfremdheit zurück.

Klaus
Dörner
, bekannt durch das
Psychiatrielehrbuch "Irren ist menschlich", monierte, daß
Habermas die Studentenunruhen unter pathologischem Aspekt
betrachtete, was "in der sozialen Wirklichkeit potentiell […]
reale Gewalt, […] politische Todesurteile für die
Akteure" bedeute (S. 61). Er habe diese Folgen zwar nicht
beabsichtigt, aber vorhersehen müssen.

Arnhelm
Neusüss
räumt immerhin
die Möglichkeit ein, "daß
bei einzelnen Aktivisten im Eifer des Gefechts der spektakulären
Aktionen Wunsch und Wirklichkeit tatsächlich gelegentlich
durcheinandergeraten sein mögen",
obwohl er Habermas‘ klinische Begriffe als "denunziatorisch" verwirft (S. 54).

Am
12. Dezember 1968 gab Habermas angesichts der studentischen
Streikaufrufe an der Universität Frankfurt eine "Erklärung
vor Studenten"
ab, in der er für die Aufrechterhaltung
des Lehrbetriebs eintrat. Er warf den Aktionisten vor, sie wollten
"den Wissenschaftsbetrieb als solchen […] zerstören"
und "aufgeklärtes politisches Handeln" verhindern. Sie
würden "das Prinzip herrschaftsfreier Diskussion"
ablehnen und dadurch "die Bedingungen vernünftiger Rede und
damit die Grundlage von Humanität" abschaffen wollen. Wer
damit einverstanden sei, zeige eine faschistische bzw. stalinistische
Mentalität (S. 244f).

4.
"Erkenntnis und Interesse"

Habermas‘
im April 1968 herausgegebene Untersuchung basiert auf seiner
gleichnamigen Antrittsvorlesung an der Frankfurter Universität
im Juni 1965 und Vorlesungen an der Heidelberger Universität im
Wintersemester 1963/64.

Eine
kurze Zusammenfassung der Thematik steht in den "Seminarthesen" vom 14. Dezember 1968, mit denen Habermas auf die Besetzung des
Soziologischen Seminars Anfang des Monats reagierte (in:
"Protestbewegung und Hochschulreform", S. 245-248):

"Die
Aktionsvorbereitung verlangt eine subjektiv interessierte Aneignung
von Informationen, die vorweggenommene Ziele präzisieren und die
Wahl von Mitteln zu deren Realisierung erleichtern. Der
Wissenschaftsprozeß hingegen erfordert die Vermittlung von
subjektiven Interessen mit der Einübung in die objektiv
interessierte Einstellung einer methodologischen Grundstruktur. […]

Die
Aktionsvorbereitung ist auf Agitation angewiesen. […] Der
Wissenschaftsprozeß hingegen kann nur im Rahmen einer
ungezwungenen Diskussion fortschreiten […].

Der
Erfolg der Aktionsvorbereitung bemißt sich allein an der
Effektivität des Handelns, zu der sie führt. Der Erfolg des
Wissenschaftsprozesses bemißt sich an Standards, die, wenn sie
eingehalten werden, Erkenntnisfortschritte garantieren. Dazu gehören
unter anderem:

  • allgemeine
    Regeln der Argumentation und der Erzielung von Konsensus,
  • Forderung
    nach Explikation [Erläuterung, Erklärung],
  • Forderung
    der Legitimation der Geltung von Aussagen,
  • Klärung
    der Methode und Prüfung der Forschungstechniken.

[…]
Die Teilnahme an der Vorbereitung von Aktionen verlangt keine
speziellen Qualifikationen, die über ein übliches Maß
formaler Schulbildung hinausgehen. Die Beteiligung am
Wissenschaftsprozeß hingegen verlangt spezielle Qualifikationen
[…].

Mithin
bestehen zwischen Wissenschaft und Aktionsvorbereitung strukturelle
Unterschiede, die eine klare institutionelle Trennung beider Bereiche
erfordern. Wird eine mit der anderen konfundiert, muß beides
Schaden leiden: die Wissenschaft würde unter Handlungsdruck
korrumpiert, und politisches Handeln müßte durch ein
pseudowissenschaftliches Alibi in die Irre geführt werden"
(S. 247f).

5.
"Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie"

Dieser
zusammen mit Niklas Luhmann (1927-1998) 1971 herausgegebene
"Diskussionsband dokumentiert die Auseinandersetzung um die
beiden einflußreichsten Ansätze der zeitgenössischen
Sozialtheorie: Luhmanns Konzept einer funktionalen Systemtheorie der
Gesellschaft und Habermas‘ Entwürfe zu einer Theorie des
kommunikativen Handelns" (Hans-Joachim Höhn, in: LphW 702).

In
seinem Beitrag "Vorbereitende
Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz"
(S. 101-141) verteidigt Habermas die Konsenstheorie der
Wahrheit. Sie ist eine Weiterentwicklung der Korrespondenztheorie,
die folgendes besagt: "Wahr
nennen wir eine Aussage dann, wenn das Prädikat dem genannten
Gegenstand zukommt" (S. 123). Wann ist das der Fall? Wenn diese Aussage eine Wiedergabe
oder Abbildung der Realität ist. Habermas hält diese "Auskunft" für "unbefriedigend,
weil die Korrespondenz zwischen Aussagen und Wirklichkeit wiederum in
Aussagen expliziert werden muß. Dem Terminus ‚Wirklichkeit‘
können wir am Ende keinen anderen Sinn beimessen als den, den
wir in wahren Aussagen über existierende Sachverhalte
implizieren" (S.
123f).

Wir
drehen uns bei der Korrespondenztheorie also laut Charles Sanders
Peirce (1839-1914), auf den sich Habermas bezieht, im Kreis: Um die
Wahrheit einer Aussage zu beurteilen, müssen wir bereits wissen
daß sie wahr ist.

Als
Leser reibt man sich die Augen und denkt: Wenn ich auf der Straße
ein Auto sehe und nun sage: "Ich
sehe ein rotes Auto",
dann ist diese Aussage doch wahr, oder nicht? Und wenn ich sage: "Ich
sehe ein grünes Auto",
dann ist diese Aussage falsch, wenn vor mir ein rotes Auto steht. Wo
soll da ein erkenntnistheoretischer Zirkel sein?

Peirce
und Habermas würden sagen: Der Gedanke, daß ich ein rotes
Auto sehe, ist bereits ein Urteil darüber, daß das
Prädikat "rot"
dem Gegenstand "Auto"
zukommt. Um also zu entscheiden, ob die Aussage "Ich
sehe ein rotes Auto" wahr ist, berufe ich mich genau auf den Satz, über dessen
Wahrheit ich erst befinden will.

Deshalb
geht Habermas einen anderen Weg, nämlich den der Konsenstheorie
der Wahrheit: "Ihr
zufolge darf ich dann und nur dann einem Gegenstand ein Prädikat
zusprechen, wenn auch jeder andere, der in ein Gespräch mit mir
eintreten könnte,
demselben Gegenstand das gleiche Prädikat zusprechen würde" (S. 124).

Übertragen
auf unser Beispiel würde das heißen, daß ich einen
Passanten anspreche und ihn frage: "Dieses
Auto ist doch rot, oder nicht?" Nun hängt die Antwort davon ab, wen ich gefragt habe. Was ist,
wenn der Passant mir den Vogel zeigt und sagt: "Nein,
das Auto ist grün"?
Dann hat er damit ausgedrückt, daß er mich für einen
Spinner hält, weil ich mich mit solchen Fragen befasse.
Angenommen, der Passant ist rotgrünblind. Dann wird er sagen:
"Tut mir leid, da ich rotgrünblind bin, kann ich die Farbe dieses Autos nicht sehen."
Ein blinder Passant wird fragen: "Sehen Sie nicht meinen
Blindenhund und meinen weißen Stock?"

Habermas‘ Definition
der Konsenstheorie ist also an der Wirklichkeit gescheitert und
erfordert eine Differenzierung: Die Gesprächspartner müssen
für die Beurteilung der Aussage kompetent sein. Rotgrünblinde
und Blinde sind nicht in der Lage, meine Aussage, daß dieses
Auto rot ist, zu beurteilen. Sie sind in dieser Hinsicht inkompetent.

Doch
wie steht es mit dem ersten Gesprächspartner? Er ist
offensichtlich kompetent, doch er sieht gleich
viel mehr, als er sehen soll, nämlich auch noch mich, der ihn
gefragt hat. Da er sich über den Sinn der Frage Gedanken macht
und zu dem Schluß kommt, daß ich ein Spinner bin, ist er offensichtlich
überqualifiziert, und diese Überqualifikation verhindert
meine Wahrheitssuche (aus diesem Grund wollen Arbeitgeber keine
überqualifizierten Bewerber einstellen).

Es
ist also notwendig zu bestimmen, was Kompetenz ist. Habermas bezieht
sich nun auf Wilhelm Kamlah (1905-1976) und Paul Lorenzen
(1915-1994), wenn er antwortet: Die "potentiellen Beurteiler"
müssen "imstande sein, eine geeignete
Nachprüfung
anzustellen.
Sie müssen sachverständig sein" (S. 125).

Doch auch das bringt
uns nicht weiter: Wann ist eine Nachprüfung geeignet? Was ist
Sachverstand? Wer darf ihn für sich beanspruchen? Jemand der den
Doktortitel in Philosophie erworben hat? Also jemand, dessen
Sachverstand durch Konsens seiner Prüfer anerkannt wurde? Wir
sehen schon: Habermas Konsenstheorie dreht sich genauso im Kreis wie
die Korrespondenztheorie, macht also alles ohne jeden
Erkenntnisgewinn nur noch komplizierter.

Habermas formuliert
das so: "Auch darüber", nämlich, ob jemand nun
sachverständig ist oder nicht, "muß es einen Diskurs
geben dürfen, dessen Ausgang wiederum von einem Konsensus der
Beteiligten abhängt" (S. 125).

Als Ausweg aus der
Klemme führt Habermas ein neues Kriterium ein: "Ich will
deshalb die Kompetenz eines Beurteilers, an dessen Zustimmung ich
mein eigenes Urteil kontrollieren kann, nicht von seinem Sachverstand
abhängig machen, sondern einfach davon, ob er ‚vernünftig‘
ist" (S. 125).

Doch wann ist jemand
vernünftig? Laut Habermas jemand, der in der Lage ist, eine
Beobachtung zu machen oder eine Befragung durchzuführen. Das
heißt für unser Beispiel mit dem roten Auto: Jeder
Passant, der in der Lage ist zu sehen, ob das Auto rot ist, kommt als
Beurteiler meiner Aussage in Frage. Falls eine direkte Beobachtung
nicht möglich ist, etwa, wenn ich wissen will, ob Fritz vor
einer halben Stunde zum Bahnhof gelaufen ist, bietet sich die zweite
Option an: Ich kann Passanten fragen, ob sie Fritz auf dem Weg zum
Bahnhof gesehen haben. Und ich kann natürlich Fritz selbst
fragen, ob er zum Bahnhof gegangen ist, wenn ich ihn wieder treffe.
Jeder also, der Fritz sehen oder eine solche Befragung durchführen
kann, ist nach Habermas ein vernünftiger Beurteiler.

Doch Habermas hat
nun wieder nichts erreicht: Die Korrespondenztheorie ist durch die
Hintertür seiner Konsenstheorie wieder hereingekommen. Denn
darüber, ob die Beobachtung richtig ist, entscheidet der
Vergleich zwischen Aussage und Wirklichkeit. Und darüber, ob
eine Befragung zuverlässige Ergebnisse liefert, entscheidet die
Wahrheit der erfragten Aussagen.

Habermas macht das
Problem noch komplizierter: Ob jemand "zu Beobachtung und
Befragung fähig" ist, ist wiederum eine Frage der Kompetenz
(S. 129). Er hat sich also ein weiteres Mal im Kreis gedreht: Weil er
nicht entscheiden konnte, was Kompetenz ist, hat er die Vernunft
eingeführt. Die Vernunft hat er durch Beobachtungsgabe und
Befragungsfähigkeit definiert. Diese beiden sind wiederum
Kompetenzen.

Um nun diesem Zirkel
zu entgehen, führt Habermas wieder ein neues Wort ein: "Wie
aber können wir diese Kompetenz feststellen? Es genügt ja
nicht, daß einer so tut, als mache er eine Beobachtung oder als
führe er eine Befragung durch. Wir erwarten, daß er, sagen
wir einmal, seiner Sinne mächtig ist, daß er
zurechnungsfähig ist. Er muß in der öffentlichen Welt
seiner Sprachgemeinschaft leben und darf kein Idiot sein, also
unfähig, Sein und Schein zu unterscheiden" (S. 129).

Hier muß man
ergänzen: Der potentielle Beurteiler darf nicht nur kein Idiot
sein. Er darf auch kein Betrüger sein. Wie sollen wir nun
herausfinden, ob jemand entweder betrogen hat oder verrückt ist?
Habermas macht folgenden Vorschlag: "Und ob einer bei Vernunft
ist, merken wir erst, wenn wir mit ihm sprechen und in
Handlungszusammenhängen auf ihn rechnen" (S. 130). Doch
auch das läuft letzten Endes darauf hinaus, seine Aussagen
anhand der Wirklichkeit zu überprüfen. Wir sind also ein
weiteres Mal bei der Anwendung der Konsenstheorie bei der
Korrespondenztheorie herausgekommen.

Habermas geht aber
unverdrossen auf seinem Weg weiter und bringt einen weiteren
Gesichtspunkt ins Spiel: Wenn wir jemand danach beurteilen, wie er
handelt, brauchen wir dafür Normen, die ebenso fragwürdig
sind wie einfache Aussagen. Das erfordert einen praktischen Diskurs, bei dem nun nicht mehr über Wahrheit oder Falschheit
einfacher Aussagen, sondern über die Berechtigung von Normen
diskutiert wird.

Erst
jetzt behandelt Habermas die Möglichkeit des Betrugs und
schreibt: "Ich halte es für sinnvoll, die Vernünftigkeit
eines Sprechers an der Wahrhaftigkeit
seiner Äußerungen
zu
bemessen. Wahrhaftig sind die Äußerungen eines Sprechers,
wenn er weder sich noch andere täuscht" (S. 131).

Trotzdem kann sich
ein wahrhaftiger Sprecher irren, und um seine Irrtümer
aufzudecken, müssen wir wiederum seine Aussagen daraufhin
überprüfen, ob sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen.
So sind wir ein weiteres Mal bei der Korrespondenztheorie
herausgekommen.

Habermas
schreibt zwar: "Die Wahrhaftigkeit von Äußerungen
liegt in einer anderen Dimension als die Wahrheit
von Aussagen
"
(S. 131). Doch es hilft nichts: "Denn welche Bedingungen müssen
erfüllt sein, damit wir berechtigt sind, eine Äußerung
wahrhaftig zu nennen? Ein Sprecher äußert sich wahrhaftig,
wenn er die Intentionen, die er im Vollzug seiner Sprechakte zu
erkennen gibt, sich oder anderen nicht bloß vortäuscht,
sondern tatsächlich meint – wenn er beispielsweise ein
Versprechen, das er gibt, auch halten will" (S. 131).

Sein Versprechen
kann er vielleicht nicht halten, weil sich die Voraussetzungen, unter
denen er es gegeben hat, geändert haben. Um diese
Voraussetzungen bzw. ihre Änderung zu beurteilen, muß er
Aussagen über sie machen können. Um die Wahrheit dieser
Aussagen zu überprüfen, muß er sie an der
Wirklichkeit messen. Mit anderen Worten: Auch der von Habermas neu
eingeführte praktische Diskurs über die Geltung von Normen
mit dem Kriterium der Wahrhaftigkeit für die Diskursteilnehmer
führt uns letztlich wieder zur Korrespondenztheorie der Wahrheit
zurück.

Diesen Zirkel
formuliert Habermas so: "Die Frage nach der Wahrhaftigkeit von
Äußerungen kann nicht durch einen Rekurs auf die Wahrheit
von Aussagen entschieden werden, wenn zuvor die Frage nach der
Wahrheit von Aussagen zum Rekurs auf die Wahrhaftigkeit von
Äußerungen genötigt hat" (S. 132).

Als
neuen Ausweg macht Habermas nun folgenden Vorschlag: "Um die Wahrhaftigkeit
von Äußerungen
zu
entscheiden, rekurrieren wir also auf die Richtigkeit
von Handlungen.
"
Es geht also darum festzustellen, ob "jemand einer Regel korrekt
folgt" (S. 133). Wie sollen wir das feststellen? Dazu braucht es
nach Habermas mindestens zwei, die zu einem Konsens darüber
kommen, ob nun die Regel befolgt wurde oder nicht.

Das
ist aber "nichts Neues unter der Sonne" (Koh 1,9; zit. n.
der Einheitsübersetzung): vgl. Num 35,30;
Dt 17,6; Mt 18,16; 2 Kor 13,1; 1 Tim 5,19; Hebr 10,28. Auch mehrere
wahrhaftige Zeugen können sich irren. Außerdem bedarf es
für das Urteil über die Regelbefolgung wiederum des Vergleichs
zwischen Regel und Handlung. Man kann nun fragen, ob die Überprüfung
der Übereinstimmung einer Handlung mit einer Regel etwas
grundsätzlich anderes ist als die Überprüfung der
Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit.

Zusammengefaßt:
Um dem Zirkel der Korrespondenztheorie zu entkommen, hat Habermas sie
gleich durch mehrere andere Zirkel ersetzt. Er hat das ursprüngliche
Problem also nicht gelöst, sondern lediglich vervielfältigt,
wenn er ein Urteil über eine Aussage durch ein Urteil über
die Befolgung einer Regel zu ersetzen hofft.

Natürlich
merkt Habermas das: "Nur eine ontologische Wahrheitstheorie [wie
die Korrespondenz- oder Evidenztheorie; Anm. von mir] könnte
diesen Zirkel durchbrechen. Keine dieser Theorien hat aber bisher der
Diskussion standgehalten" (S. 135). Wie sollen wir uns also im
Gespräch verständigen? Oder: Warum gelingen Gespräche?
Habermas‘ Antwort: Weil "wir in jedem Diskurs wechselseitig eine
ideale Sprechsituation unterstellen"
(S. 136). Was ist eine ideale Sprechsituation? Es ist diejenige, die
zu einem wahren Konsens führt.

Habermas hat also
nun eine dritte Lösung angeboten. Zur Erinnerung: Ursprünglich
prüften wir unsere Aussagen dadurch, daß wir sie mit der
Wirklichkeit verglichen. Dann prüften wir unsere Aussagen daran,
ob wir gewisse Regeln (der Wahrheitsermittlung) befolgt haben. Und
nun prüfen wir unsere Aussagen daran, ob der Diskurs über
unsere Aussagen in einer idealen Sprechsituation stattgefunden hat.

Doch wieder beißt
sich die Katze in den Schwanz: Wie sollen wir feststellen, ob unser
Konsens wahr ist, wenn wir ihn nicht an der Wirklichkeit, auf die er
sich bezieht, sondern an der idealen Sprechsituation prüfen, in
der wir zu ihm gekommen sind? Dazu müßten wir diese ideale
Sprechsituation näher bestimmen, also Regeln aufstellen. Mit
anderen Worten: Diese dritte Lösung ist lediglich eine
Spezifizierung der zweiten.

Zur Bestimmung der
idealen Sprechsituation bringt Habermas die Werte der Freiheit von
Zwängen sowie der Gleichberechtigung und Wahrhaftigkeit der
Gesprächsteilnehmer aufs Tapet: Alle müssen dieselbe Chance
haben, "Sprechakte zu wählen und auszuüben". Das
garantiert zwar, "daß keine Vormeinung auf Dauer der
Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt" (S. 137),
entbindet uns aber nicht der Prüfung dieser Vormeinungen
(Aussagen) anhand ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.

Wieder
einmal sind wir also bei der Anwendung der Korrespondenztheorie der
Wahrheit herausgekommen, egal, ob sie nun Diskussionen standhält
oder nicht. Die oben erwähnte Evidenztheorie
der Wahrheit hat übrigens Franz Brentano (1838-1917) als
Alternative zur Korrespondenztheorie entwickelt. Ihr zufolge ist
"eine Aussage wahr […], wenn sie einer evidenten, d.h.
einem einleuchtenden und nicht blinden Urteil entstammenden, Aussage
gleich ist" (Kuno Lorenz, in: EphW 1/610).

Daß damit
nichts gewonnen ist, liegt auf der Hand: Die erforderliche Evidenz im
Urteil kann ich nur durch Erfahrung oder Logik gewinnen. Nur, was mit
der Wirklichkeit oder den Denkgesetzen übereinstimmt, ist
einleuchtend. Die Prüfung von Erfahrungen unterliegt der
Korrespondenztheorie. Denkgesetze sind Regeln, fallen also unter den
zweiten Vorschlag von Habermas, den er ja ebenfalls verworfen und
durch den dritten der Unterstellung der idealen Sprechsituation
ersetzt hat.

6.
"Theorie des kommunikativen Handelns"

Dieses
umfangreiche zweibändige Werk veröffentlichte Habermas
1981. Zunächst erntete er damit "Unmut und Unverständnis",
"Polemik und eher defensive Reflexe" (Vorwort zur dritten
Auflage, I 3). Thema ist "die Analyse der allgemeinen Strukturen
verständigungsorientierten Handelns" (Vorwort zur ersten
Auflage, I 7).

Ein
dritter genauso umfangreicher Band enthält "Vorstudien und
Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns". Für
Interessenten der Konsenstheorie der Wahrheit bietet der Aufsatz "Wahrheitstheorien"
(S. 127-183) aus dem Jahr 1972 eine Vertiefung.

Habermas
setzt sich hier im Kapitel über "Irreführende
Modelle der Wahrheit
"
(S. 149-159) u.a. auch mit empiristischen Wahrheitstheorien auseinander, die
Erfahrungen bzw. Wahrnehmungen zum Kriterium von Wahr und Falsch
machen. Habermas wendet dagegen ein, "daß Wahrheit
kategorial der Welt der Gedanken (im Sinne Freges) und nicht der
Wahrnehmungen angehört. Weil Wahrnehmungen in gewisser Weise
nicht falsch sein können, kann sich auf dieser Ebene die Frage
nach der Wahrheit gar nicht stellen. […] Täuschungen
lassen sich umstandslos aufklären – nämlich durch
wiederholte Wahrnehmung" (S. 151f).

Das
bedeutet, daß für Habermas Alltagserfahrungen, etwa daß
ich auf der Straße ein rotes Auto sehe, und die einzelne
Aussage, die ich darüber mache ("Ich sehe ein rotes Auto"),
gar nicht in die Wahrheitsdiskussion gehören. Es geht ihm
lediglich um allgemeine Aussagen; "diese bringen das Spezifische
von Erkenntnis zum Ausdruck: nämlich die begriffliche
Organisation des Erfahrungsmaterials" (S. 152).

Es
geht also eigentlich nicht um die Wahrheit von Einzelaussagen,
sondern um die Wahrheit von Wissenschaft, die Einzelaussagen
organisiert oder in ein System bringt, interpretiert und allgemeine
Aussagen macht. Korrekterweise müßte Habermas bei der
Konsenstheorie nicht von einer Wahrheitstheorie, sondern von einer
Wissenschaftstheorie sprechen.

Das
wird noch deutlicher, wenn Habermas am Schluß des Unterkapitels
über empiristische Wahrheitstheorien auf deren Konsequenzen zu
sprechen kommt: "Wenn nämlich Wahrheitsansprüche nicht
durch Argumentation, sondern durch Erfahrungen eingelöst würden,
wären theoretische Fortschritte von der Produktion neuer
Erfahrungen und nicht von neuen Interpretationen derselben Erfahrungen
abhängig" (S. 154).

Tatsächlich ist
es aber so, daß wirkliche Fortschritte in der Wissenschaft nur
durch neue Erfahrungen gemacht werden. Das gilt besonders für
die Naturwissenschaft: Ein Biologe bereichert sein Fach durch die
Entdeckung eines bisher unbekannten Tieres, ein Astronom sieht durch
ein besseres Teleskop eine bisher unbekannte Galaxie.

Doch auch in den
Geisteswissenschaften wird nicht nur interpretiert, sondern werden
auch neue, vor allem innere Erfahrungen gemacht. So äußerte
sich der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker
(1912-2007) über Meditationserfahrungen (Der Garten des
Menschlichen 398-411; vgl. a. Drieschner 29-32).

7.
"Der philosophische Diskurs der Moderne"

Habermas
hat diese zwölf Vorlesungen 1983/84 gehalten. Er verfolgte in
ihnen die "Absicht", "den Weg des philosophischen
Diskurses der Moderne bis zum Ausgangspunkt zurückzugehen –
um an den Wegkreuzungen die damals eingeschlagene Richung noch einmal
zu überprüfen" (S. 345).

Diesen
Ausgangspunkt bestimmt Habermas als Ende des 18. Jahrhunderts.
Seither hatte dieser Diskurs seiner Meinung nach "unter immer
wieder neuen Titeln ein einziges Thema: das Erlahmen der sozialen
Bindungskräfte, Privatisierung und Entzweiung, kurz: jene
Deformationen einer einseitig rationalisierten Alltagspraxis, die das
Bedürfnis nach einem Äquivalent für die vereinigende
Macht der Religion hervorrufen. Die einen setzten ihre Hoffnung auf
die reflexive Kraft der Vernunft – oder wenigstens auf eine
Mythologie der Vernunft; die anderen beschworen die mythopoetische
Kraft einer Kunst, die den Mittelpunkt des regenerierten öffentlichen
Lebens bilden sollte" (S. 166).

Habermas
behandelt Hegel und seine Jünger, Nietzsche, Horkheimer und
Adorno, Heidegger, Derrida, Bataille und Foucault.

8.
"Erläuterungen zur Diskursethik"

Dieser
Sammelband aus dem Jahr 1991 enthält verschiedene Arbeiten,
darunter auch als umfangreichste diejenige, die dem Band den Titel
gegeben hat.

In "Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die
Diskursethik zu?"
entwickelt Habermas zwei Grundsätze,
die an die Stelle von Kants Kategorischem Imperativ treten:

1. Das "Verfahren
der moralischen Argumentation" beinhaltet den Grundsatz, "daß
nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die
Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen
Diskurses finden könnten" (S. 12).

2. Der
"Universalisierungsgrundsatz" dient bei Diskursen als
"Argumentationsregel": "bei gültigen Normen
müssen Ergebnisse und Nebenfolgen […] von allen zwanglos
akzeptiert werden können" (S. 12).

In "Gerechtigkeit
und Solidarität. Zur Diskussion über ‚Stufe 6‘
" muß es statt "superergoratorische Handlungen"
"supererogatorische Handlungen" heißen. Das sind
Handlungen, die "als moralische – und das heißt:
allgemein zumutbare – Verpflichtungen nicht zu begründen" sind (S. 74).

Das
Substantiv "Supererogation" (= Übergebühr,
Mehrleistung) ist abgeleitet von dem spätlateinischen Verbum supererogare = darüber
hinausgehen (Wahrig 1253). Supererogatorische Pflichten sind
"Pflichten, die das Maß des gemeinhin Geschuldeten
übersteigen". Auch "jene ethischen
Prinzipien, deren Erfüllung das Maß der Zumutbarkeit für
den Einzelnen übersteigt", werden "supererogatorisch"
genannt. "Supererogatorische Leistungen gelten per definitinem
als gut und sogar als hoch lobenswert, aber nicht als unbedingt
forderbar" (Peter Prechtl, in: MPhL 576).

Habermas bringt
folgendes Beispiel für eine supererogatorische Handlung:
"Niemand würde leugnen, daß sich der Anführer
eines Stoßtrupps, der einen seiner Leute auf ein
Himmelfahrtskommando schicken müßte um allen übrigen
eine Chance des Überlebens offen zu halten, in einem moralischen
Dilemma befindet. Aber ‚gelöst‘ werden könnte das Dilemma
nur durch ein Opfer, das niemandem moralisch zugemutet werden darf –
und daher nur freiwillig geleistet werden könnte" (S. 74).

Ein historisches
Beispiel sind die Kamikaze ("göttlicher Wind"), die
"japanischen Freiwilligen-Fliegerverbände (1944/45)",
die während des Zweiten Weltkriegs "unter Selbstaufopferung
versuchten […], durch Vernichtung v. a. von Flugzeugträgern
die drohende amerikanische Invasion zu verhindern" (MEL 13/365).

Gegen die
Bezeichnung islamistischer Selbstmordattentate als supererogatorische
Handlungen spricht,

  • daß sie in Friedenszeiten ohne unmittelbare Bedrohung für Leib und Leben ausgeführt werden,
  • daß sie lediglich Demonstrationszwecken dienen,
  • daß sie sich gegen unschuldige Menschen richten
  • und daß sie in der Regel nicht freiwillig, sondern unter hohem sozialem Druck durchgeführt werden.

Barbara
Victor berichtet sogar über unwissende Märtyrer, die ihr
Leben unter Vorspiegelung falscher Tatsachen verlieren: Entgegen den
Versprechungen ihrer "’Betreuer’"
können sie das Auto, in das eine Bombe eingebaut ist, nicht vor
der Explosion verlassen (S. 93). Ansonsten nennt die
Autorin folgende Beweggründe für Selbstmordattentate:


  • unerschütterlicher Glaube an die Auserwählung durch Gott und an Belohnungen im Paradies,
  • Erfassen der Tragweite israelischer Verordnungen,
  • Verzweiflung über eine Zwangsheirat,
  • Angst, ihrer Familie, die Vergeltungsschläge israelischer Soldaten mitangesehen oder darunter gelitten hat, durch die Verweigerung des Attentats Schande zu machen,
  • Depression.

In "Erläuterungen
zur Diskursethik
" behandelt Habermas 13 Thesen verschiedener Autoren. Im zehnten
Kapitel über den "Sinn
von ‚Letztbegründungen‘ in der Moraltheorie" schreibt er über die "Spannung
zwischen moralischer Einsicht und ethischem Selbstverständnis",
die in "extremen Fällen"
auftreten kann:

"So
mag in einem existentiellen Konflikt die einzig angemessene Norm eine
Handlung fordern, die die derart verpflichtete Person durchaus als
moralisch gebotene Handlung anerkennt, aber nicht ausführen
könnte, ohne sich als die Person, die sie ist und sein möchte,
aufzugeben – sie bräche unter der Last dieser
Verpflichtung zusammen."

Habermas
löst den Konflikt dadurch, daß er "die Möglichkeit
eines Reflexivwerdens von Anwendungsdiskursen" einräumt:
"nachdem wir die dem Fall einzig angemessene Norm festgestellt
haben, kann es erforderlich werden zu prüfen, ob das daraus folgende
singuläre Urteil eine Handlung
fordert, die existentiell unzumutbar ist.

Im allgemeinen
stellt sich freilich das Problem der Zumutbarkeit moralisch gebotener
Handlung erst beim Übergang von der Moral- zur Rechtstheorie"
(S. 198).

Diese
Überlegungen sind vor allem für Menschen wichtig, die in
helfenden Berufen (Sozialarbeit, Kranken-
und Altenpflege) arbeiten. Wer dadurch, daß er sich für
andere aufopfert, seine Identität und seine Gesundheit verliert,
schadet nicht nur sich selbst, sondern auch den Hilfsbedürftigen.

9.
"Wahrheit und Rechtfertigung"

"Der
vorliegende Band vereinigt philosophische Arbeiten, die zwischen 1996
und 1998 entstanden sind und einen seit ‚Erkenntnis und Interesse‘
liegen gebliebenen Faden wieder aufnehmen" (Einleitung, S. 7).
Die vorangestellten Zusammenfassungen erleichtern die Lektüre
ein wenig.

In
der umfangreichen Einleitung (S. 7-64) behandelt Habermas im
titelgebenden siebten Kapitel "Wahrheit
und Rechtfertigung" (er
nimmt dieses Thema in der fünften Arbeit des Sammelbands
nochmals auf) den "Diskursbegriff der Wahrheit", von dem es
verschiedene Versionen gibt. Ihm zufolge "ist eine Aussage genau
dann wahr, wenn sie unter den anspruchsvollen pragmatischen
Voraussetzungen rationaler Diskurse allen Entkräftungsversuchen
standhalten würde" (S. 48f).

Seine eigene Version
dieses Wahrheitsbegriffs präzisiert Habermas "als Bewährung
unter den normativ anspruchsvollen Bedingungen der
Argumentationspraxis" (S. 49). Er nennt vier solcher
Bedingungen: Eine ideale Argumentation muß

1. öffentlich
sein, d.h., alle Betroffenen müssen mitwirken dürfen
2. allen Beteiligten
dieselben Rechte der Kommunikation zugestehen;
3. gewaltlos sein;
4. auf
aufrichtigen Aussagen aller Beteiligten beruhen.

Hinsichtlich
der Diskursethik erinnert Habermas zusätzlich an "einen
epistemischen Begriff von ‚moralischer
Wahrheit‘ oder Richtigkeit". Dieser Wahrheitsbegriff besagt:
"Die Geltung einer Norm besteht in
ihrer diskursiv nachweisbaren Anerkennungswürdigkeit; eine
gültige Norm verdient Anerkennung, weil und soweit sie auch
unter (annähernd) idealen Rechtfertigungsbedingungen akzeptiert,
d. h. als gültig anerkannt würde" (S. 56).

Den Zusammenhang von
Wahrheit und Rechtfertigung erklärt Habermas in folgendem Satz:
"Es ist das Ziel von Rechtfertigungen, eine Wahrheit
herauszufinden, die über alle Rechtfertigungen hinausragt"
(S. 53).

Im ersten Aufsatz
über "Hermeneutische und analytische Philosophie. Zwei
komplementäre Spielarten der linguistischen Wende"
verdient die Unterscheidung von Wahrheit und Richtigkeit unsere
Aufmerksamkeit: "Wahrheit beanspruchen wir für
Aussagen über Dinge und Ereignisse in der objektiven Welt, und Richtigkeit für Aussagen über normative Erwartungen
und interpersonale Beziehungen" (S. 98f).

Der zweite Aufsatz "Rationalität der Verständigung.
Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der
kommunikativen Rationalität"
erinnert mich an ein
Seminar über Kommunikation an der Universität, in dem der
Hochschullehrer sagte, in bisher keinem Seminar sei die Verständigung
so schlecht gewesen wie in diesem.

Angesichts des
Vorwurfs von Habermas an die Protestler der Studentenbewegung, ihr
Verhalten sei auf weite Strecken irrational, ist seine Definition von
Rationalität interessant: "Die
Rationalität einer Person bemißt sich daran, daß
diese sich rational äußert und für ihre Äußerungen
in reflexiver Einstellung Rechenschaft ablegen kann. Eine Person
äußert sich rational, soweit sie sich performativ an
Geltungsansprüchen orientiert; wir sagen, daß sie sich
nicht nur rational verhält, sondern selber rational ist,
wenn sie für ihre Orientierung an Geltungsansprüchen Rede
und Antwort stehen kann. Diese Art von Rationalität nennen wir
auch Zurechnungsfähigkeit"
(S. 105).

Habermas fand also,
daß sich die protestierenden Studenten zum Teil
unzurechnungsfähig wie Alkoholiker oder Geisteskranke
verhielten. Da diese Studenten natürlich weder alkholisiert noch
geisteskrank waren, wird nachvollziehbar, warum sich Habermas so
gründlich mit Kommunikation und Sprache befaßte: Er wollte
verstehen, was er als angegriffener Hochschullehrer erlebte.

"Die
Studentenbewegung machte auch vor der Universität in Tübingen
[…] nicht halt" (Herrmann 13). Dort lehrten Hans Küng (geb. 1928) und Joseph
Ratzinger (geb. 1927) katholische Theologie.

Im zweiten Band
seiner "Erinnerungen" gibt Küng eine ausführliche
Darstellung der Studentenunruhen (Umstrittene Wahrheit, Kap. II und
III). Er stand damals vor der Frage: "Mitmachen, flüchten
oder standhalten?" [Im Original als Überschrift fett
gedruckt.] Küng erzählt:

"Als
auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die
Notstandsgesetze im Sommersemester 1968 eine bedrohliche Gruppe von
vielleicht 50 rebellischen Studenten und Studentinnen (meist
Nicht-Theologen) mit Geschrei und Trillerpfeifen in meine Vorlesung
eindringt und eine Diskussion um die Notstandsgesetze fordert, da
schiebe ich die junge Aktivistin, die das Mikrophon erobern will,
sachte zur Seite, halte das Mikrophon fest und frage: ‚Haben Sie den
Wortlaut der Gesetzesvorlage gelesen?‘ Ihre Antwort: ‚Nein‘. Frage an
die Eindringlinge: ‚Wer hat sie gelesen?‘ Niemand meldet sich. ‚Dann
bleibt uns nichts anderes übrig, als die vorgeschlagenen
Paragraphen zu lesen, bevor wir diskutieren, bitte‘: ich ziehe den
Text aus der Tasche und gebe der Studentin das Mikrophon frei. So
fängt sie an, lustlos den Gesetzestext zu lesen, eine eher
langweilige und mühselige Lektüre, die sie nach ein paar
Minuten abbricht: ‚Das hat doch keinen Sinn‘, meint sie. ‚Dann hat es
auch keinen Sinn, hier darüber zu diskutieren!‘, sage ich und
breche, da die Revoluzzer den Hörsaal nicht verlassen wollen,
die Vorlesung ab"
(Umstrittene Wahrheit, S. 165).

Deutlich ist zu
sehen, was Irrationalität ist: Eine antiautoritäre Bewegung
benimmt sich autoritär, die Kämpfer gegen Unterdrückung
werden unterdrückerisch, sie weigern sich, das, wogegen sie
kämpfen, auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn,
darüber nachzudenken, so daß eine Diskussion sinnlos ist.
Man kann sich fragen: Um was geht es denn überhaupt? Und man
kann nach Erklärungen suchen: Geht es lediglich um das Ausleben
niederer Instinkte und deren Kaschieren durch Politik als
Deckmäntelchen? Oder ganz simpel um die Herrschaft?

Ratzinger schreibt
in seinen "Erinnerungen",
er habe "nie
Schwierigkeiten mit den Studenten gehabt"
(S. 150), doch der Theologe und Soziologieprofessor Horst Herrmann
meint: "Der
schüchterne Theologe wird niedergebrüllt. Da wandelt sich
der Reformtheologe mitten in der Studentenrevolte in einen Bewahrer,
wird vom Optimisten zum Pessimisten"
(S. 13).

Herrmann belegt
seine Auffassung von der Sinneswandlung Ratzingers mit der Biographie
von John L. Allen (S. 28ff und 57ff). Dieser berichtet: "Die
Protestantische Studentenvereinigung verteilte ein Flugblatt auf dem
Campus, das die provokative Frage stellte: Was also ist das Kreuz
Jesu anderes als der Ausdruck einer sadomasochistischen
Verherrlichung von Schmerz? Das Flugblatt erklärte auch, daß
das Neue Testament ein Dokument der Unmenschlichkeit sei, eine
großangelegte Täuschung der Massen. Ratzinger sagte, daß
er und ein weiterer Professor sich bei den Studenten dafür
verwendet hätten, das Flugblatt zurückzuziehen, aber
vergeblich. Sein evangelischer Kollege hatte die Studenten gedrängt,
der Ruf ‚Verflucht sei Jesus‘ dürfe nie wieder aus ihrer Mitte
gehört werden, doch sie blieben ungerührt" (S. 58).

Auch hier kann man
deutlich sehen, was Irrationalität bedeutet: Wer versucht, die
Flugblattinhalte rational nachvollziehbar zu machen, wird scheitern.
Wenn im Neuen Testament über einen Schauprozeß auf
Intrigenbasis berichtet wird, wird es dadurch sowenig zu einer
Massentäuschung wie eine Zeitung, die einen zutreffenden
Kriegsbericht liefert.

Die fehlende Logik
der Studenten beruht auf verschiedenen Denkfehlern: 1. Die Erinnerung
an Jesu Kreuzigung wird mit einer Verherrlichung dieser Kreuzigung
verwechselt. 2. Die Verfluchung von Jesus müßte eigentlich
den späteren Inquisitoren, Kreuzzüglern und anderen gelten,
die in seinem Namen Verbrechen begingen bzw. Menschen seelisch
verkrüppelten (vgl. etwa Nietzsches "Antichrist"
und Drewermanns "Kleriker").

Wieder
Allen: "Tübingen wurde […] hauptsächlich
deswegen zum geistigen Mekka der Aktivisten, weil dort Ernst Bloch
lehrte. Weithin als Vater der Studentenbewegung von 1968 anerkannt,
lieferte seine marxistische Analyse des Christentums und der
gesellschaftlichen Veränderung einen guten Teil des geistigen
Rüstzeugs für die Aktivisten, und er bot persönlich
Unterstützung für ihren Protest an"
(S. 95).

Was Ratzinger im
einzelnen widerfuhr, ist nach Allen unklar: "Während des
Aufruhrs in Tübingen hatte Ratzinger einen häßlichen
persönlichen Zusammenstoß entweder mit Studenten oder mit
graduierten Mitarbeitern, je nachdem, wie man die Ereignisse
rekonstruiert" (S. 58).

Aber
eines steht fest: "Für Ratzinger war das alles
einfach zuviel." Zwar
hat er "ein Gerücht
abgestritten, dem zufolge ihm einmal das Mikrophon von einer Gruppe
feindseliger Studenten entrissen wurde, obwohl in der Presse über
diesen Vorfall berichtet worden ist."
Doch er "sah sich im
Konflikt mit vielen seiner Kollegen. Er habe nicht ständig in
die Gegenposition gedrängt werden wollen, sagte er, und daher
verließ er Tübingen […] nach nur drei Jahren"
(S. 96).

Sein weiterer Weg
ist bekannt: Ratzinger machte Karriere. Er wurde Erzbischof,
Kardinal, Chef der Kongregation für die Glaubenslehre und
schließlich Papst Benedikt XVI. Während sich also Küng
ohne Wenn und Aber (bis zum Verlust seines katholischen Lehrstuhls)
auf die Sache konzentrierte, entschied sich Ratzinger für den
Weg zur Macht.

Habermas zog sich
(zumindest zum Teil) auf die Metaebene (Nachdenken über
Gesellschaft, Kommunikation und Sprache) zurück und errichtete
dort eine Festung aus mit Fremdwörtern gespickten Sätzen.
Seine Schriften sind allesamt sehr schwierig zu lesen, da sie nicht
nur eine umfangreiche Kenntnis der Philosophie- und Zeitgeschichte
voraussetzen, sondern auch auf Thesen von Autoren eingehen, die nur
Spezialisten bekannt sind. Andererseits kann das Studium seiner
Schriften dazu dienen, sich in die Gegenwartsphilosophie
einzuarbeiten.

Noch eine
Erläuterung zu dem obenstehenden Zitat von Habermas über
Rationalität: "Performativ" bedeutet "vollziehend".
John Langshaw Austin (1911-1960) unterschied in seiner
Sprechakttheorie ursprünglich zwischen performativen (z.B. "Ich
gratuliere Dir zum Geburtstag") und konstativen (behauptenden)
Äußerungen (z.B. "Du bist 50 Jahre alt geworden").
Später differenzierte er noch weiter: Äußerungen
hätten einen lokutionären (aussagenden), illokutionären
(kommunikativen) und perlokutionären (auf die Wirkung bezogenen)
Aspekt (vgl. Bußmann 567f, EPhW 1/229).

Beispiel: "Ein
Gewitter zieht auf." Der lokutionäre Aspekt (v. lat. loqui
=
sprechen) beinhaltet lediglich eine Feststellung: Es ziehen
sich dunkle Wolken zusammen. Der illokutionäre Aspekt (lat. il- = in-, also in das Gesagte etwas hineinlegen) schließt
zusätzlich ein, daß das gefährlich sein könnte.
So gesehen gehört zu der Aussage auch eine Warnung als
unausgesprochene Mitteilung. Der perlokutionäre Aspekt (lat. per = "durch" in doppelter Bedeutung: als Richtung und Mittel; also mit dem
Gesagten zum Gegenüber durchdringen, durch das Gesagte etwas bei
ihm bewirken) der Äußerung meint ihre Wirkung auf den
Hörer: Er läßt sich von der Richtigkeit der Aussage
überzeugen, er bekommt Angst, vom Blitz erschlagen zu werden, er
sucht einen Unterschlupf usw.

Durch
diese weitere Differenzierung Austins wurde die Unterscheidung
zwischen performativen (illokutionären) und konstativen
(lokutionären) Aussagen insofern aufgehoben, als nun der performative Aspekt allen Aussagen zugeschrieben wurde. Doch nun differenzierte Austin auch
noch zwischen implizit (z. B. "‘Du
irrst
‚") und
explizit performativen Äußerungen (z.B. "‘Ich
behaupte, daß du irrst
‚"
(zit. n. Bußmann 568).

Erwähnenswert
ist noch der siebte Aufsatz "Noch einmal: Zum Verhältnis
von Theorie und Praxis"
(S. 319-333). Habermas geht hier der Frage nach, "ob Philosophie
praktisch werden kann": "Welche
Rolle kann sie im Kontext von Öffentlichkeit und Politik, von
Erziehung und Kultur spielen?" (S. 319)

Habermas
weist der Philosophie folgende Rolle zu: Sie "bemüht […]
sich auch noch heute mit Mitteln einer Rekonstruktion des
vortheoretischen Gebrauchswissens um die Klärung der rationalen
Grundlagen von Erkennen, Sprechen und Handeln" (S. 327f). Die
Rollen des "wissenschaftlichen Experten" und
"therapeutischen Sinnvermittlers" teilt die Philosophie
"mit Wissenssorten anderer Herkunft" (S. 328f).

Doch
sie "kann erstens zum zeitdiagnostischen Selbstverständnis
moderner Gesellschaften etwas Spezifisches beitragen" und
"zweitens ihren Bezug zur Totalität und ihre
Vielsprachigkeit für bestimmte Interpretationen fruchtbar
machen. […] Drittens besitzt die Philosophie von Haus aus eine
Kompetenz für Grundfragen des normativen, insbesondere des
gerechten politischen Zusammenlebens" (S. 331).

© Gunthard Rudolf Heller, 2012

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