John Stuart Mill: Essay „Natur“

Den Essay „Natur“ von John Stuart Mill (1806-1873) kann man nur verstehen, wenn man sich klar macht, daß ihm als Kind von seinem Vater ein Bildungsprogramm aufgezwungen wurde. Mill berichtet darüber ausführlich im ersten Kapitel seiner „Autobiographie“. Sein Ziel war zu beweisen, „wie viel mehr, als man gewöhnlich glaubt, gelehrt, und zwar besser gelehrt werden könnte in jenen frühen Jahren, in welchen durch die hergebrachte Unterrichtsmethode eine wertvolle Zeit fast nutzlos verschwendet wird“ (S. 3).

Im Alter von drei Jahren lernte Mill Griechisch, parallel dazu Arithmetik, im Alter von acht Jahren Lateinisch. Von da ab mußte er nach und nach seine Geschwister unterrichten. "Die Aufgabe war wenig nach meinem Geschmack, um so weniger, da ich für die Fortschritte meiner Schüler fast im selben Ausmaß wie für meine eigenen verantwortlich gemacht wurde" (S. 9).

John Stuart Mill

Er wurde überfordert: Sein Vater "verlangte […] bei seinem Unterricht nicht nur das Äußerste, was ich zu leisten vermochte, sondern auch viel, das weit über meinen Horizont ging" (S. 6). Täglich mußte Mill vor dem Frühstück seinem Vater bei einem Spaziergang über seine Lektüre Bericht erstatten. Er mußte vieles lesen, was ihn nicht interessierte. Homers Ilias hat er in Alexander Popes englischer Übersetzung 20 – 30 mal gelesen. Natürlich las er sie auch auf Griechisch und schrieb (auf Englisch) eine Fortsetzung dazu. Außerdem schrieb er Gedichte, Tragödien und historische Abhandlungen. Als er 13 Jahre alt war, machte sein Vater "einen vollständigen Kurs der politischen Ökonomie mit mir durch" (S. 23). Das Resultat: Hinsichtlich seiner Bildung war er seinen Zeitgenossen "um ein Vierteljahrhundert" voraus (S. 26).

Mill beklagte sich im Rückblick nicht über seine versäumte Kindheit, sondern akzeptierte alles, auch die Überforderung, die er so rationalisierte: "Ein Schüler, von dem man nie Dinge fordert, die er nicht tun kann, wird auch nie all das leisten, was er wirklich zu leisten vermag" (S. 27). Er hielt alles für selbstverständlich: "Ich wusste gar nicht, dass ich mehr gelernt hatte, als in meinem Alter gewöhnlich ist" (S. 28).

Auch daß sein Vater ihn "von jedem näheren Verkehr mit anderen Knaben" abschnitt, hieß Mill gut: "Er nahm dabei nicht nur Bedacht, den verderblichen Einfluss, den Knaben auf Knaben üben, abzuwehren, sondern auch der Ansteckung durch eine vulgäre Denkweise vorzubeugen" (S. 29f).

Das Spazierengehen war Mills einzige körperliche Betätigung, mit der Folge, daß er "sehr ungeschickt in allem" blieb, "wozu eine gewisse Handfertigkeit gehört." Daß sein Vater ihn "ohne Unterlass" wegen seiner "Achtlosigkeit, Unaufmerksamkeit und Trägheit in Dingen des täglichen Lebens" tadelte, nützte offensichtlich nichts (S. 30). Mill erklärt das so: "Freilich werden die Kinder energischer Eltern häufig energielos, weil sie sich auf ihre Eltern stützen und diese für sie einstehen" (S. 31) – sein Vater war ganz und gar nicht unpraktisch in den alltäglichen Dingen.

Wie denkt nun ein Mann, der sich als Kind nicht natürlich entwickeln durfte und das im Nachhinein gut findet, über die Natur? Was sagte Mill das Postulat, man solle naturgemäß leben?

Ein Beispiel für die übliche Auffassung: "Man soll sich also nicht an erster Stelle auf den Erwerb legen: zur Philosophie kann man auch ohne Reisegeld gelangen. […] ‚Aber es wird am Notwendigsten fehlen.‘ Das wird kaum möglich sein, denn die Natur verlangt nur sehr wenig; der Weise aber richtet sich nach der Natur" (Seneca: 17. Brief an Lucilius, 3/59). Das schließt etwa ein, daß man sich nicht betrinken soll: "Wie die Trunkenheit jedem Laster Vorschub leistet, so enthüllt sie es auch und verscheucht jede Scheu vor etwaigen verwerflichen Absichten, denn häufiger ist es die Scham vor der Sünde als der gute Wille, der von dem Verbotenen abhält" (Seneca: 83. Brief an Lucilius, 4/17).

Was gemeint ist, ist also klar: Nach der Natur leben heißt, einfach und bescheiden leben, sich gesund erhalten usw.

Doch genau darauf kommt Mill in seinem Essay über die Natur ganz und gar nicht. Stattdessen treibt er einen ziemlichen Aufwand, um zu zeigen, daß man als Mensch die Natur besser machen soll. Ihr zu folgen sei "ebenso unvernünftig wie unmoralisch […]. Denn der natürliche Lauf der Dinge vollzieht sich vielfach so, daß ein menschliches Wesen, das in gleicher Weise handeln würde, im höchsten Grade verabscheuungswürdig wäre" (S. 62).

Die Natur raubt und mordet: durch Katastrophen, dadurch, daß Tiere einander fressen. "Fast alles, wofür die Menschen, wenn sie es sich gegenseitig antun, gehängt oder ins Gefängnis geworfen werden, tut die Natur so gut wie alle Tage" (S. 30).

Andererseits: "Graben, Pflügen, Bauen, Kleidertragen – alles sind direkte Übertretungen des Gebots, der Natur zu folgen" (S. 23). Menschen bauen Brücken, legen Sümpfe trocken, graben Brunnen, bauen Bodenschätze ab, schützen sich durch Blitzableiter vor Gewittern, durch Deiche vor Überschwemmungen, durch Wellenbrecher vor dem Meer.

"Aber solche und ähnliche Errungenschaften zu rühmen heißt anerkennen, daß die Natur überwunden, nicht befolgt werden muß; daß ihre Gewalten dem Menschen oft als Feinde gegenüber stehen, deren er sich, soweit er es vermag, zu seinen Zwecken mittels Kraft und Geschicklichkeit erwehren muß" (S. 23). Kurz: Wer Zivilisation, Kunst oder Geschicklichkeit lobt, tadelt die Natur.

Entsprechend kommt Mill zu folgendem Ergebnis im Hinblick auf das rechte Handeln:

"Die Pflicht des Menschen kann deshalb nur darin bestehen, mit den wohlwollenden Naturmächten zusammenzuarbeiten – nicht dadurch, daß er den Lauf der Natur nachahmt, sondern dadurch, daß er ihn fortwährend zu verbessern strebt und diejenigen Teile der Natur, auf die Einfluß zu nehmen ihm möglich ist, in nähere Übereinstimmung mit einem hohen Maßstab von Gerechtigkeit und Güte bringt" (S. 62).

© Gunthard Rudolf Heller, 2019

Literaturverzeichnis

BIRNBACHER, Dieter: John Stuart Mill (1806-1873), in: Klassiker der Philosophie, hg. v. Otfried Höffe, zweiter Band, München 1981, S. 132-152

MILL, John Stuart: Autobiographie (Autobiography), übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Jean-Claude Wolf, Hamburg 2011

– Drei Essays über Religion. Natur – Die Nützlichkeit der Religion – Theismus (Three Essays on Religion), auf der Grundlage der Übersetzung von Emil Lehmann neu bearbeitet und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Dieter Birnbacher, Stuttgart 1984

RINDERLE, Peter: John Stuart Mill, München 2000

SENECA, Lucius Annaeus: Philosophische Schriften, übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt, 4 Bände in einem Band, Wiesbaden 2004

Gunthard Heller