Johann Gottfried Herder: Auszüge seiner Geschichtsphilosophie

Johann Gottfried Herders (1744-1803) zentrale Aussage in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-91) ist folgender „Grundsatz“: „Die ganze Menschengeschichte ist eine reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Zeit“ (S. 359f).

Johann Gottfried Herder PhilosophieKonkret heißt das: Herder meinte, daß Völker aufeinander folgen wie geologische Schichten. Er dachte, daß alles, was auf der Erde geschehen könne, auch geschehe.

Selbstverständlich hänge es ab von Ort, Zeit und Volkscharakter. Es gebe weder Willkür noch Zufall. Der Gott in der Geschichte und in der Natur sei derselbe, er stehe nicht über den Gesetzen, die in beiden walten.

Indem Herder die Natur betrachtete, meinte er aufgrund von Analogien das menschliche Schicksal erkennen zu können. Dabei ging er von der Annahme aus, daß alles mit allem zusammenhänge, daß sich im Kleinsten das Größte spiegele. Man muß also annehmen, daß er Naturkatastrophen und Kriege unter ähnlichen Gesichtspunkten betrachtete. Er beschränkte sich bei seinen Ausführungen übrigens auf die Menschen auf der Erde, denn er dachte, daß wir von den Bewohnern fremder Planeten nichts erfahren können und sollen.

Als Schöpfungsziele nannte er Menschlichkeit, Religion, „Wahrheit, Schönheit und Liebe“ (S. 144). Auch alles Zerstörerische diene dem großen Ganzen. Den Menschen gehe es gut, wenn sie vernünftig dächten und anständig handelten.

Herder wollte in seinem Buch nicht nur Informationen weitergeben, sondern die Leser zum selbständigen Weiterdenken ermuntern. Sie sollten ihn nicht nur kritisieren, sondern auch verbessern.

Eine detaillierte Inhaltsangabe des Werks erübrigt sich: Herder zeichnete die Entwicklung der Erde bis zur Gegenwart nach. So bleibt mir nur noch übrig, einiges Bemerkenswerte herauszugreifen.

Einen relativ breiten Raum nimmt die Abgrenzung der Menschen von den Tieren ein. Die Abstammung des Menschen vom Affen und eine Gemeinschaft der beiden lehnte Herder ab. Es seien verschiedene Gattungen. Der Mensch solle sich selber ehren und nicht die Affen, wohl aber die Indianer und Schwarzen als seine Brüder betrachten. Deshalb dürfe man letztere nicht ermorden und bestehlen.

Auch unter den Tieren lehnte Herder Übergänge ab, da sich kein wildes Tier mit einem Angehörigen einer anderen Gattung paare. Käme es doch vor, daß von Menschen domestizierte Tiere die natürlichen Grenzen überschritten, gebe es entweder gar keine Nachkommen oder Bastarde, die „sich nur unter den nächsten Gattungen“ fortpflanzen (S. 192).

Besonders wichtig war Herder die Bedeutung der Heimat: Wem man sie wegnehme, der habe alles verloren. Die Europäer würden sich wie Räuber aufführen, während etwa die Chinesen die Völker, mit denen sie handelten, nicht unterdrückten. Den Charakter von Männern bzw. ganzen Völkern las Herder insbesondere aus der Behandlung der Frauen ab.

Mit am ungerechtesten beurteilte Herder die Tibeter, als ob deren Sagen ungeheuerlicher als etwa die der alten Griechen wären und es in der christlichen Hölle weniger grausam zuginge. Doch sein Vergleich zwischen Dalai Lama und Papst, Katholizismus und Buddhismus ist immer noch aktuell.

Daß die beiden sich weder gegenseitig anerkennen noch einander besuchen würden, hat sich inzwischen allerdings geändert: Der 14. Dalai Lama hat die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. besucht. Zu einem Gegenbesuch ist es nicht gekommen, vielleicht weil der Dalai Lama im Exil lebt und 2011 die politische Verantwortung für Tibet an den Premierminister im Exil abgegeben hat – die Chinesen halten Tibet immer noch besetzt.

Die Türken passen Herder zufolge nicht zu Europa. Sie hätten dessen Länder verwüstet, die Griechen versklavt und zahlreiche Kunstwerke unwiederbringlich zerstört. Ihr Reich sei „ein großes Gefängnis für alle Europäer, die darin leben; es wird untergehen, wenn seine Zeit kommt. Denn was sollen Fremdlinge, die noch nach Jahrtausenden asiatische Barbaren sein wollen, was sollen sie in Europa?“ (S. 437)

Die Juden stellte Herder insofern ungerecht dar, als er verschwieg, daß die Römer und Christen sie weitgehend zu dem gemacht haben, was sie dann wurden: Die Römer vertrieben sie aus Palästina, die Christen drängten sie durch verschiedene Berufsverbote ins Geldgeschäft.

Die Griechen, einst „das scharfsinnigste Volk der Erde“, seien inzwischen „das verächtlichste Volk worden“, meinte Herder, „betrügerisch, unwissend, abergläubig, elende Pfaffen- und Mönchsknechte, kaum je mehr des alten Griechengeistes fähig“ (S. 461).

Die Kultur der Araber schätzte Herder hoch ein. Doch sein Urteil über den Koran war ungerecht – Mohammed war kein Betrüger, sondern seine Offenbarungen waren echt, zugeschnitten auf ein bestimmtes Volk zu einer bestimmten Zeit auf einem bestimmten Entwicklungsniveau. Ibn Ishâq (8. Jh.) bringt in seiner Mohammed-Biographie immer wieder Beispiele von situationsbezogenen Offenbarungen, d.h. konkreten Erläuterungen zu konkreten Begebenheiten.

Die Franzosen hielt Herder für die eitelsten Europäer (S. 536).

Die Reinkarnationstheorie lehnte Herder ab. Sie habe nicht nur Gutes, sondern auch Schlechtes bewirkt, „wie überhaupt jeder Wahn, der über die Menschheit hinausreichet“ (S. 294). Das Mitgefühl gegenüber allen Lebewesen, das sie wecke, sei falsch und würde echtes Mitgefühl gegenüber elenden, unglücklichen Menschen verhindern, deren Leid als Folge früherer Verbrechen interpretiert würde.

Herders Kirchenkritik ist hart. Insbesondere die Kreuzzüge, von denen die Handelsstädte Italiens am meisten profitierten, griff er an. Irgendwelche positiven Effekte sprach er ihnen ab: Schon vor den Kreuzzügen sei gehandelt worden, auch das Rittertum habe es schon vorher gegeben. Die in Palästina begründeten geistlichen Ritterorden hätten Europa keinen Vorteil gebracht. Die Freiheit der Städte habe andere Ursachen als die Kreuzzüge. Auch Kunst und Wissenschaft seien durch sie nicht gefördert worden.

Der Verkauf und die Zusammenlegung des Eigentums der gefallenen Kreuzfahrer hätten die Befestigung der Monarchie nicht veranlaßt, sondern nur gefördert und beschleunigt. Die Nachrichten über den Orient hätten besser sein können. Die Kreuzfahrer verschiedener Länder hätten einander unterwegs hassen gelernt. Der Handel habe „Europa mehr zu einem Gemeinwesen gemacht, als alle Kreuzfahrten und römische Gebräuche“ (S. 548).

© Gunthard Rudolf Heller, 2016

Literaturverzeichnis

HERDER, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, mit einem Vorwort von Gerhardt Schmidt, Textausgabe, Wiesbaden o.J.

IBN ISHÂQ, Mohammed: Das Leben des Propheten, aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Gernot Rotter, München 1988

Gunthard Heller