Jeremy Bentham: Einführung in den Utilitarismus 1

Jeremy Bentham kritisierte die englische Verfassung und beeinflusste die sozialpolitische Diskussion des 19. Jahrhunderts. In seinem Werk „Introduction to the Principles of Morals and Legislation“ differenzierte er zwischen verschiedenen Gesetzestypen und fokussierte sich auf das Prinzip der Nützlichkeit, welches das Streben nach dem größten Glück für die meisten Menschen betont. Hier finden Sie eine kleine Einführung in seine Gedanken.

Jeremy Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation

Jeremy Bentham (1748-1832) studierte Jura. 1776 veröffentlichte er anonym seine Kritik an der englischen Verfassung unter dem Titel Fragment on Government, die ihn „schnell bekannt machte. Obwohl er weder einen Beruf noch eine öffentliche Funktion ausübte, hat Bentham einen nachhaltigen Einfluß auf die sozialpolitische Diskussion des 19. Jahrhunderts ausgeübt“ (Herbert R. Ganslandt, in: EPhW 1/280f).

Jeremy Bentham

Anmerkung

Seine Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1780) ergänzte er 1789 um eine Anmerkung, die man seinem Rat zufolge zuerst lesen soll. Darin unterscheidet er zwischen

  • dem ideellen Gesetz und dessen ausformulierter Fassung;
  • zwischen Gesetzen, die zwingen oder befehlen, und Gesetzen, die etwas widerrufen oder aufheben;
  • zwischen Straf-, Zivil- und Verfassungsrecht.

Bentham schließt mit Artikel 1 der Declaration of Rights von North Carolina (1788): „Es gibt bestimmte natürliche Rechte, die die Menschen ihren Nachkommen nicht wegnehmen oder rauben dürfen, wenn sie einen Gesellschaftsvertrag abschließen. Unter diesen Rechten ist der Genuß des Lebens und der Freiheit. Dazu gehören die Mittel, Eigentum zu erlangen, zu besitzen und zu beschützen, und nach Glück und Sicherheit zu streben und sie zu erreichen“ (S. 335f).

Jedes Gesetz, das von diesen Rechten abweiche, sei nichtig.

Kapitel I. Über das Prinzip der Nützlichkeit

Bentham stellt fest, daß die Menschheit von Schmerz und Freude regiert werde. Das Nützlichkeitsprinzip anerkenne das und wolle mit den Mitteln der Vernunft und des Gesetzes ein Gebäude des Glücks errichten.

In einer Anmerkung vom Juli 1822 fügt Bentham hinzu, daß es ihm um „das größte Glück für all diejenigen“ gehe, „deren Interesse zur Diskussion stehe.“ Dieses Interesse müsse allerdings „recht und angemessen“ und überdies „universell erstrebenswert“ sein (S. 1).

In einer zweiten Anmerkung mit derselben Datierung bringt Bentham seine Theorie in der Paraphrase eines Gegners: Alexander Wedderburn hielt es für „gefährlich“, daß die Regierung nach „dem größten Glück der größten Zahl“ von Menschen strebt (S. 5).

Kapitel II. Über die Prinzipien, die dem der Nützlichkeit nachteilig sind

Damit meint Bentham das „Prinzip der Askese“ (S. 8) und das „Prinzip von Sympathie und Antipathie“ (S. 9), „auch ‚Prinzip der Launen‘ genannt“ (Höffe 1975, S. 14).

Kapitel III. Über die vier Bindungen oder Quellen von Schmerz und Freude

Bentham unterscheidet die physische, politische, moralische und religiöse Bindung der Menschen. Sie können alle vier Schmerz und Freude verursachen.

Seine Einteilung macht er an einem Beispiel klar: Angenommen, die Güter eines Menschen oder er selbst verbrennen. Das kann man unter vier verschiedenen Aspekten betrachten.

  • Physische Bindung: War dieser Mensch unachtsam, kann er den Brand als Bestrafung durch das Leben ansehen.
  • Politische Bindung: Vielleicht steckt aber auch eine politische Entscheidung dahinter (z.B. Krieg, Hexenverfolgung).
  • Moralische Bindung: Womöglich ist der Brand dadurch entstanden, daß ihm sein Nachbar die Unterstützung verweigert hat, weil er seinen Charakter nicht mag.
  • Religiöse Bindung: Vielleicht ist der Geschädigte ein Sünder, und Gott hat ihn bestraft.

Kapitel IV. Wie man die Stärke des Anteils von Freude oder Schmerz messen kann

Anhand von sieben Kriterien meint Bentham feststellen zu können, wie stark nun Freude oder Schmerz sind: Intensität, Dauer, Gewißheit/Ungewißheit, Nähe/Ferne, Fruchtbarkeit, Reinheit und Ausdehnung (Zahl der betroffenen Personen).

Kapitel V. Über die Arten von Freuden und Schmerzen

Was uns erfreut und was uns weh tut, wissen wir alle. Deshalb erspare ich den Lesern Benthams Klassifikation.

Kapitel VI. Über die Umstände, die unser Empfindungsvermögen beeinflussen

Dasselbe gilt für die Ursachen von Schmerz und Freude, die sich nicht proportional zueinander verhalten, sondern von unserem Empfindungsvermögen abhängen. Dieses Empfindungsvermögen wiederum wird durch bestimmte Umstände beeinflußt, von denen Bentham 32 aufzählt, vom Gesundheitszustand bis zum religiösen Bekenntnis.

Wer z.B. krank ist, ist schmerzempfindlicher als ein Gesunder. Die Religionszugehörigkeit kann dafür verantwortlich sein, wie einer sein Geld ausgibt, ob er Andersgläubige ablehnt usw. Dadurch kann kann er sensibler oder auch abgestumpfter werden.

Bentham meint, daß es „in der menschlichen Natur keine ursprüngliche und konstante Quelle der Antipathie“ gibt (im Gegensatz zur Sympathie). Antipathie entsteht etwa dadurch, daß jemand bestraft, dadurch von seinen Freunden abgeschnitten und in die Gesellschaft von Menschen gezwungen wird, die er nicht mag.

Sympathie „vervielfacht die Quellen der Antipathie“, Antipathie „vervielfacht die Quellen der Sympathie“ (S. 55). Letzteres wird immer wieder politisch instrumentalisiert: Ein gemeinsamer Feind schweißt eine Gruppe zusammen.

Ebenso kann auch die Bindung an die Familie instrumentalisiert werden: Je mehr ein Mensch in eine Gruppe eingebunden ist, „desto stärker ist die Gewalt, die das Gesetz über ihn hat“ (S. 54).

Kapitel VII. Über die menschlichen Handlungen im Allgemeinen

Bentham unterscheidet positive und negative, körperliche und geistige Handlungen. Die körperlichen Handlungen unterteilt er in transitive Handlungen, die auf andere Personen gerichtet sind, und intransitive Handlungen, die auf einen selbst bezogen sind. Zu laufen oder sich zu waschen, sind intransitive Handlungen.

Es gibt vorübergehende und fortgesetzte Handlungen, außerdem fortgesetzte Handlungen und Handlungen, die sich wiederholen. Außerdem macht Bentham einen Unterschied „zwischen einer Wiederholung von Handlungen und einer Gewohnheit oder Praxis“ (S. 75). Handlungen können weiter teilbar und unteilbar, einfach und zusammengesetzt sein.

Erst wenn man die Umstände einer Handlung in Betracht zieht, kann man ihre Folgen abschätzen und beurteilen, ob die Handlung gut, neutral oder böse ist.

Kapitel VIII. Über die Absicht

Die Absicht richtet sich entweder auf eine Handlung oder auf deren Folge. Ihre Ursachen „werden als Motive bezeichnet.“ Absichten können im Hinblick auf die Konsequenzen der Handlung oder mit Bezug auf die Motive eines Menschen „gut oder böse“ genannt werden. Ob die Folgen einer Handlung gut oder schlecht sind, hängt von den Umständen ab, die allerdings „keine Objekte der Absicht sind“. Man beabsichtigtund erzeugt die Umstände nicht, es sei denn indirekt durch das, was man schon früher getan hat. „Während Handlungen mit ihren Folgen von Willen und Verständnis abhängen, sind die Umstände lediglich Objekte des Verstehens“. Man kann sie kennen oder nicht, man kann sich ihrer bewußt sein oder nicht (S. 88).

Kapitel IX. Vom Bewußtsein

Das Bewußtsein richtet sich auf die Umstände.

Um die Beziehung zwischen Absicht und Motiv klarzumachen, bringt Bentham folgendes Beispiel:

  • Ein Mann verfolgt aus Bosheit einen Unschuldigen, den er für schuldig hält. Dadurch richtet er Schaden an. Es gibt niemand, der etwas davon hat. Das Motiv des Verfolgers ist schlecht.
  • Wäre der Verfolgte tatsächlich ein Bösewicht, hätte die Verfolgung positive Folgen, nämlich die Bestrafung eines Verbrechers. In diesem Fall könnte man von einer guten Absicht reden.

Kapitel X. Über Motive

Bentham wirft „einen Blick auf die verschiedenen Motive, die dazu neigen, menschliches Verhalten zu beeinflussen.“ Unter „Motiv“ versteht er „alles, was dazu beitragen kann, irgendeine Art von Handlung hervorzurufen oder zu verhindern“ (S. 97).

Letzten Endes reduziert Bentham alle Motive auf „Freude oder Schmerz, die auf eine bestimmte Art und Weise wirken“ (S. 102). Aus denselben Motiven können gute, schlechte und neutrale Handlungen entspringen, was Bentham anhand einer Fülle von Beispielen aufzeigt. Deshalb meint er, daß man kaum von guten, schlechten und neutralen Motiven an sich reden kann.

Trotzdem versucht er eine Klassifikation:

  • gute Motive: guter Wille, Sorge um den guten Ruf, der Wunsch nach Freundschaft, Religion;
  • schlechtes Motiv: Mißfallen;
  • neutrale oder gleichgültige Motive: körperliches Verlangen, finanzielles Interesse, Liebe zur Macht, Selbsterhaltung; darin eingeschlossen sind die Furcht vor körperlichem Schmerz, die Liebe zur Bequemlichkeit und die Liebe zum Leben.

Bentham hält diese Klassifikation für unvollkommen; die dazu gehörige Begrifflichkeit neige dazu, falsch zu sein. Er fragt: Was würde denn aus der Menschheit ohne Hunger und Durst, ohne sexuelles Verlangen, ohne die Furcht vor dem Schmerz und ohne die Liebe zum Leben werden?

Die Antwort liegt auf der Hand: Sie würde aussterben. Also darf man diese Motive nicht nur für neutral halten. Auch daß wir bestimmte Dinge ablehnen, ist für unseren Selbsterhalt notwendig. Also darf man das Mißfallen nicht pauschal für ein schlechtes Motiv halten.

In einem zweiten Klassifikationsversuch ersetzt Bentham die Wörter „gut“ durch „sozial“, „schlecht“ durch „dissozial“ und „neutral“ durch „selbstbezogen“ (S. 120). In der ersten Gruppe unterscheidet er noch zwischen „rein-sozial“ (guter Wille) und „halb-sozial“ (Sorge um den guten Ruf, der Wunsch nach Freundschaft, Religion; S. 121).

Doch auch diese Klassifikation funktioniert nicht: Bentham meint, ein dissoziales Motiv könne einen sozialen Ursprung haben oder eine soziale Tendenz aufweisen. Mißfallen könne unter Umständen sozialer als guter Wille sein, auch wenn letzterer am meisten mit dem Nützlichkeitsprinzip übereinstimme. Die Sorge um den guten Ruf bekommt inbezug auf das Nützlichkeitsprinzip den zweiten Platz, der Wunsch nach Freundschaft den dritten.

Am zwiespältigsten ist die Religion als Motiv. Wenn Gott wohlwollend, weise und mächtig und die damit verbundenen Vorstellungen korrekt wären, würden die Vorschriften der Religion mit dem Nützlichkeitsprinzip übereinstimmen. Doch das sei unglücklicherweise nicht der Fall. Sogar unter den Anhängern der Religion würden nur wenige an das Wohlwollen Gottes glauben. Denn sonst würden sie sich entsprechend dem Nützlichkeitsprinzip verhalten, was sie offensichtlich nicht tun.

Kapitel XI. Über die menschlichen Anlagen im Allgemeinen

Während man anhand der Motive eines Menschen nicht bestimmen kann, was nun Gut und Böse ist, geht das anhand seiner Veranlagung schon. Sie ist zwar eine fiktive Angelegenheit, die um der Bequemlichkeit der Verständigung willen vorgetäuscht wird, doch anhand ihrer Wirkungen kann man sie beurteilen: Macht sie den betreffenden Menschen glücklich? Macht sie andere Menschen glücklich? Falls ja, ist sie gut bzw. tugendhaft, falls nein, ist sie schlecht bzw. lasterhaft „oder, in offensichtlichen Fällen, verdorben“ (S. 131).

Gegen die Verwendung der Begriffe „Tugend“ und „Laster“ führt Bentham allerdings deren Vorbelastung an, wörtlich: „die große Menge an gutem und schlechtem Ruf, der ihnen jeweils anhängt“ (S. 131). Außerdem sind sie davon abhängig, wer sie verwendet: Was für die eine Partei oder Gruppe ein Laster ist, ist für die andere eine Tugend. Beispiel: Was für die Kirche ein Ketzer ist, ist für Bentham jemand, der selbständig denken kann.

Unter dem Wort disposition, das ich mit „Anlage“ übersetzt habe, versteht Bentham auch die Summe der Absichten eines Menschen. Als Ursachen dieser Absichten betrachtet er die Motive (S. 142). So verstanden, wäre disposition besser mit „Neigung“ oder „Hang“ zu etwas zu übersetzen. Auch an „Stimmung“ oder „Laune“ kann man denken. Doch diese Bedeutungen widersprechen Benthams Bestimmung am Anfang des Kapitels, daß die disposition eine fiktive Größe sei.

Kapitel XII. Über die Folgen einer schädlichen Handlung

„Die Tendenz einer Handlung ist schädlich, wenn deren Folgen schädlich sind“ (S. 152). Bentham unterscheidet primären und sekundären Schaden. Der primäre Schaden betrifft konkrete Individuen, die man benennen kann. Der sekundäre Schaden entspringt aus dem primären Schaden und betrifft die ganze Gemeinschaft oder eine Vielzahl von Individuen, die man nicht konkret benennen kann.

Aus Bösem kann Böses entstehen, etwa wenn durch fortgesetzte Räubereien oder Erpressungen der Anreiz der Industrie, sich anzustrengen, erlischt. Aus Bösem kann Gutes entstehen, etwa wenn gewohnheitsmäßige Plünderung durch konsequente Bestrafung aufhört. Aus Gutem kann Böses entstehen, etwa wenn durch exzessive, grundlose Freigiebigkeit die Gewohnheiten des Erwerbs zum Erliegen kommen. Aus Gutem kann Gutes entstehen, etwa wenn die Industrie dadurch wächst, daß sie gut verkauft.

Bei der Untersuchung der Motive für böse Taten bricht Bentham eine Lanze gegen den Fanatismus, der „niemals schläft“ und durch Menschenliebe oder Gewissen nicht eingedämmt werden kann. „Denn er hat das Gewissen in seinen Dienst genommen. Geiz, Gier und Rachsucht haben Frömmigkeit, Wohlwollen und Achtung als Gegengewicht. Doch es gibt nichts, was sich dem Fanatismus entgegenstellen kann“ (S. 168).

Kapitel XIII. Fälle, die sich für eine Bestrafung nicht eignen

Die Gesetze sollen das Glück der Gemeinschaft vergrößern und Schaden verhüten. Bentham betrachtet alle Strafen als Schaden, die nur zur Verhütung größerer Übel gerechtfertigt seien, als sie selbst es sind. Die durch die Strafe des Täters beim Geschädigten erzeugte Genugtuung könne seinen Schmerz nicht aufwiegen. Grundlose, unwirksame, zu teure und unnötige Strafen sollen nicht verhängt werden.

Unwirksam sind Strafen in folgenden Fällen:

  • wenn das Gesetz erst nach der Straftat erlassen wird;
  • wenn der Richter sich nicht an die Gesetze hält;
  • wenn der Täter nicht weiß, daß etwas verboten ist;
  • wenn der Täter wegen zu geringem Alter, Geisteskrankheit oder Rausch durch Alkohol und Drogen unzurechnungsfähig ist;
  • wenn eine Straftat unabsichtlich, unbewußt oder auf der Basis einer falschen Annahme begangen wurde;
  • in Fällen der körperlichen Gefahr oder drohendem Schaden;
  • wenn der Täter mit seinem Willen keine Kontrolle über seine physischen Handlungen hat.

Kapitel XIV. Über das Verhältnis zwischen Strafen und Vergehen

Bentham zufolge soll der Gesetzgeber mit den Strafen vier Ziele verfolgen: Prävention, Schadensverringerung, Vermeidung weiterer Schäden und Kostenverringerung.

Für das Verhältnis zwischen Strafen und Vergehen stellt er vier Regeln auf:

  • Das Strafmaß muß den Gewinn durch das Vergehen aufwiegen.
  • Je größer der Schaden durch das Vergehen ist, desto mehr darf die Strafverfolgung kosten (eine Strafe ist nutzlos, wenn der Schaden durch die Strafe den Schaden durch das Vergehen übertrifft).
  • Die Bestrafung für größere Vergehen soll die Täter veranlassen, geringere Straftaten zu begehen, wenn sie die Wahl haben.
  • Die Bestrafung sollte jedem besonderen Vergehen so angepaßt sein, „daß es für jeden Teil des Schadens für den Täter ein Motiv gibt, ihn nicht zu verursachen“ (S. 181).

Was die letzte Regel bedeutet, wird erst durch Benthams Beispiele in der Anmerkung verständlich: Wenn jemand für zehn Schläge nicht härter bestraft wird als für fünf, darf er praktisch fünf Schläge straflos verpassen. Oder umgekehrt: Wenn er fünf Schläge austeilt, ist es für ihn so, als habe er zehn ausgeteilt. Dasselbe gilt beim Diebstahl.

Zwei weitere Regeln sind allgemeinerer Art:

  • Die Strafe sollte nur so hart sein, wie es nötig ist, um mit den ersten vier Regeln übereinzustimmen.
  • Die sechste Regel gilt nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für den Richter. Sie fordert die Gleichheit vor dem Gesetz und die Berücksichtigung der Umstände.

Die Regeln Nr. 7 – 9 dienen der Ergänzung und Erklärung der ersten Regel:

  • Da das Strafmaß den Gewinn des Vergehens aufwiegen soll, muß es um so höher sein, je unsicherer und je weniger zeitnah die Bestrafung ist.
  • Um bei Gewohnheitstätern den Gewinn ihrer Vergehen aufzuwiegen, muß das Strafmaß nicht nur inbezug auf die einzelne Tat, sondern auch inbezug auf ähnliche Vergehen erhöht werden.

Regel Nr. 10: Wenn eine qualitativ angemessene Strafe nur ab einem bestimmten Strafmaß wirksam ist, kann es manchmal nützlich sein, dieses Strafmaß im Hinblick auf andere Fälle etwas zu erhöhen.

Regel Nr. 11: Das mag insbesondere dann sinnvoll sein, wenn eine moralische Lektion erteilt werden soll.

Regel Nr. 12: Während die Tendenz der bisherigen Überlegungen danach zielte, das Strafmaß zu verschärfen, zielt diese Regel darauf, es zu verringern, weil sich unter bestimmten Umständen eine Bestrafung nicht lohnt. Die Regel besagt, daß das bei der Bemessung des Strafmaßes zu berücksichtigen ist.

Regel Nr. 13: Gesetze, die so kompliziert sind, daß diejenigen, für die sie bestimmt sind, sie nicht verstehen können, haben keine Wirkung. Deshalb sollte man keine Gesetze erlassen, deren Nutzen nicht größer ist als der Schaden, den sie durch ihre Kompliziertheit anrichten.

Kapitel XV. Über die Eigenschaften, die viele Strafen aufweisen müssen

Es sind elf: Strafen müssen veränderlich und ausgeglichen sein, damit das Verhältnis zwischen einem einzelnen Vergehen und seiner Bestrafung angemessen ist. Bei mehreren Vergehen müssen die Strafen vergleichbar sein. Sie müssen typischexemplarisch und einfach sein. Sie müssen verbesserlich und aufhebbar sein. Sie müssen eine Entschädigung ermöglichen, etwa, wenn ein Unschuldiger bestraft wurde. Sie müssen populär sein und abgemildert werden können.

Kapitel XVI. Einteilung der Vergehen

Bentham teilt die Straftaten in fünf Klassen ein: 1. private Vergehen, 2. halböffentliche Vergehen, 3. Vergehen gegen sich selbst, 4. öffentliche Vergehen bzw. Vergehen gegenüber dem Staat und 5. Vergehen auf der Basis von Lügen und Vertrauensbruch.

Kapitel XVII. Über die Grenzen des Strafrechts

Gesetzgebung und Ethik dienen bei Bentham demselben Ziel: dem Glück. Das Problem ist: Wenn das Gesetz nicht greift, ist der Einfluß der Ethik nur gering. Gegen Trunkenheit und Unzucht ist das Gesetz machtlos, meint Bentham, auch bei Einsatz der Folter.

Um das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Privatperson zu illustrieren, erzählt Bentham die (damals) bekannte Geschichte vom Augenarzt und vom Trunkenbold: Ein Mann vom Land, der seine Augen durch Alkohol geschädigt hat, sucht den Rat eines berühmten Augenarztes, der gerade ein Glas Wein vor sich stehen hat. Als der Augenarzt dem Trunkenbold rät, das Trinken zu lassen, meint der Trunkenbold, der Augenarzt befolge die eigene Regel nicht und auch seine Augen seien nicht die besten. Da sagt der Augenarzt, der Unterschied zwischen ihnen sei, daß er selbst (der Arzt!) die Flasche mehr als seine Augen liebe.

Würdigung und Kritik

Hans Joachim Störig (1950) fühlt sich bei der Lektüre von Bentham „an die Ideen des alten chinesischen Meisters Mo-Tse erinnert […]. ‚Das Übel bekämpfen und die allgemeine Wohlfahrt fördern‘, war Mos Devise gewesen. Es ist auch die Benthams“ (S. 334).

Hubert Schleichert zufolge vertritt Mo-Tse (Mo Di) „eine ‚utilitaristische‘ Haltung, die sich allein am Nutzen orientiert, den Theorien und Handlungen für das Volk haben. Er lehrt eine ‚allgemeine Menschenliebe‘ bei gleichzeitiger Ablehnung des kompliziert abgestuften konfuzianischen Systems von Pflichten und Gefühlen, und er verurteilt den Krieg“ (S. 94).

Bertrand Russell beschreibt Bentham als „Leiter der sogenannten ‚Philosophischen Radikalen'“ (1959, S. 357), zu denen er allerdings erst 1808 stieß. „Diese beschäftigten sich mit Sozialreformen und Erziehungsproblemen und standen allgemein der Autorität der Kirche und den Privilegien der herrschenden Schicht der Gesellschaft feindlich gegenüber. In seinen späteren Jahren wurde Bentham bei aller Zurückhaltung ein aggressiver Atheist“ (1959, S. 357).

Da an den beiden Universitäten Englands nur Anglikaner studieren durften, wurde Bentham zum Mitbegründer des University College in London (1825), in dem Studenten nicht nach ihrer Religion gefragt wurden und in dem es keine Kapelle gab.

Benthams leitende Ideen sind die Ideenassoziation und die „Maxime des größten Glücks“ (1959, S. 358).

Mit Hilfe des Assoziationsprinzips „strebt er eine deterministische Darstellung geistiger Vorgänge an. Im Grunde ist diese Lehre nichts anderes als die moderne Theorie vom ‚bedingten Reflex‘, die auf den Pawlowschen Experimenten beruht. Der einzige wesentliche Unterschied besteht darin, daß Pawlows bedingter Reflex physiologischer, die Ideenassoziation dagegen rein geistiger Natur ist. Pawlows Ergebnis läßt daher eine materialistische Auslegung zu, wie sie die Behavioristen gaben, während die Ideenassoziation zu einer von der Physiologie mehr oder minder unabhängigen Psychologie führte“ (1945, S. 780f).

Benthams Glücksmaxime „enthält nichts Neues. Sie wurde schon 1725 von Hutcheson vertreten. Bentham schreibt sie Priestley zu, der jedoch keinen besonderen Anspruch darauf erheben kann. Im Grunde finden wir sie schon bei Locke“ (1945, S. 781).

Russell kritisiert, daß Bentham der Freiheit nur „wenig Bedeutung“ beimaß, da sie „ihm – wie die Menschenrechte – recht metaphysisch und romantisch“ vorkam. „Politisch gab er daher auch mehr dem wohlwollenden Despotismus als der Demokratie den Vorzug“ (1959, S. 358f).

So bewunderte er Katharina die Große, die „das ‚Licht der Vernunft'“ als „Mittel nicht zur Liberalisierung, wohl aber zur Modernisierung und v. a. zur Leistungs-, Macht- und Prestigesteigerung des Staates“ betrachtete (MEL 13/537), und Kaiser Franz I., der „sich durch administrative und finanzielle Reformen verdient“ machte (MEL 9/289).

Da es keine Garantie dafür gibt, „daß der Gesetzgeber in der Tat wohlwollend ist“, schlägt Russell vor, dafür zu sorgen, „daß die Gesetzgeber nie über zu viel Macht auf einmal verfügen“ (1959, S. 359).

Bentham verachtete die „Lehre von den Menschenrechten […] gründlich. Er nennt die Menschenrechte reinen Unsinn, die unverletzlichen Menschenrechte einen Unsinn auf Stelzen.“ Die „‚Erklärung der Menschenrechte'“ durch „die französischen Revolutionäre […] bezeichnete Bentham […] als ‚Erzeugnis der Metaphysik […]‘. Ihre Artikel ließen sich nach seiner Ansicht in drei Klassen einteilen: 1. die unverständlichen, 2. die falschen, 3. die zugleich unverständlichen und falschen“ (1945, S. 782).

„Daß er sich allmählich zum Radikalismus hin entwickelte, hatte zwei Ursachen: einmal den Glauben an die Gleichheit, den er aus der Berechnung der Freuden und Leiden ableitet; zum anderen den unbeugsamen Entschluß, alles der Entscheidung der Vernunft, wie er sie verstand, zu unterwerfen“ (1945, S. 782).

„In späteren Jahren machte […] ihn“ seine „Liebe zur Gleichheit […] zum Feind der Monarchie und Aristokratie und zum Vorkämpfer der reinen Demokratie, wozu für ihn auch das Frauenstimmrecht gehörte“ (1945, S. 782). „Schon in jungen Jahren erwies er sich als Gegner des Imperialismus […]. Kolonien hielt er für Wahnsinn“ (1945, S. 783).

Otfried Höffe (1975) stellt fest: „Nach unserem sittlichen Bewußtsein fordert aber die Idee der Gerechtigkeit für jede einzelne Person eine Unverletzlichkeit, die selbst durch das maximale Wohlergehen aller anderen nicht beiseite gesetzt werden darf“ (S. 29).

„Der Utilitarimus ist, selbst im Rahmen einer normativen Ethik, keine zureichende moralphilosophische Position. […] Handlungen wie Selbstmord, Lügen oder auch das Brechen von Versprechen können nicht allein unter dem Aspekt des kollektiven Wohlergehens, sondern auch unter dem der persönlichen Vollkommenheit auf ihre sittliche Richtigkeit hin untersucht werden, ohne daß man sich mit solchen Untersuchungen von vornherein in einen Widerspruch mit den durchschnittlichen sittlichen Überzeugungen stellt“ (S. 30f).

Dazu kommt, daß der Utilitarismus „nicht alle Probleme“ aufgreift, „die in den Umkreis einer philosophisch zureichenden Ethik gehören. Vor allem metaethische Untersuchungen und transzendentale Begründungsversuche sprengen den utilitaristischen Grundansatz. So erweist er sich schon thematisch und methodisch gesehen als unvollständig“ (S. 31).

Als Verbesserungsvorschlag entwirft Höffe einen „kritischen Utilitarismus„, der „sich durch mindestens drei Veränderungen auszeichnen“ müßte:

  • Er müßte „Prozesse der Selbstbesinnung und der Selbstklärung, […] eine Kritik aus Eigeninteresse wie aus sozialem Engagement“ umfassen, da man sonst „nur auf die vermeintlichen statt auf die wohlverstandenen, auf die naturwüchsig vorhandenen statt auf die sozial akzeptablen Interessen“ stößt.
  • „Das allgemeine Wohlergehen ist in indirekter, nicht in direkter Intention das sinnvolle Ziel moralischen Handelns.“
  • „Die allgemeine Vollkommenheit kann ebenfalls ein Kriterium tatsächlicher moralischer Verbindlichkeiten sein, und unter rein sozialen Gesichtspunkten ist es vor allem das Prinzip Fairneß“ (S. 32).

Otfried Höffe (1978) kritisiert Bentham vor dem Hintergrund von Erkenntnistheorie, Ethik, Demokratie und Menschenrechten. Er beanstandet, daß Bentham

  • Glück nur unzureichend definiert;
  • ein nicht verallgemeinerbares hedonistisches Menschenbild voraussetzt;
  • Glück auf der Basis kruder Empirie berechnen und intersubjektiv vergleichen will;
  • „neurotische, psychotische und ideologische Entstellungen“ des Glücksbegriffs „überhaupt nicht sieht“ (S. 157);
  • keine „wirkliche Moralphilosophie“ hat (S. 159);
  • den Widerspruch zwischen individuellem Glücksstreben und dem universalistischen Moral- bzw. Rechtsprinzip nicht auflöst;
  • „die Perspektive eines idealen Gesetzgebers“ einnimmt (S. 162);
  • eine „Art von Kollektivegoismus“ entwirft, „dem eine Unterdrückung von Minderheiten erlaubt ist“, d.h. daß er „eine Sklaven- oder eine Feudalgesellschaft“, einen „Polizei- und Militärstaat“ für „nicht bloß sittlich erlaubt, sondern sogar sittlich geboten“ hält, „insofern sie das Kollektivwohl maximieren, auch wenn sie fundamentale Rechte von Individuen beeinträchtigen, die wir als unveräußerliche Menschenrechte betrachten. Das aber widerspricht der Grundidee politischer Gerechtigkeit, nach der jeder einzelnen Person eine unverletzliche Würde eignet, die sich in Menschenrechten auffächert, die als Grundrechte Bestandteil der Verfassungen werden sollen und die auch nicht durch das maximale Wohlergehen aller anderen beeinträchtigt werden dürfen“ (S. 163f);
  • das Strafmaß „von der Maximierung der kollektiven Gratifikationsbilanz“ statt „von der Höhe des Vergehens“ abhängig macht. „Ein konsequenter Utilitarismus gebietet sogar die Bestrafung, selbst die Tötung Unschuldiger, sofern dieses nur – unter den besonderen Umständen – das kollektive Glück befördert“ (S. 164);
  • die Regierung weder gegenüber anderen Staaten noch „gegenüber den noch ungeborenen Generationen“ verpflichtet (S. 165).

Fazit: „Benthams […] Glückskonzept“ ist „weder theoretisch noch sittlich-politisch tragfähig“ (S. 165).

Jan Rohls (1991) beurteilt Benthams Utilitarismus folgendermaßen: „Die Menschen haben keine natürlichen unveräußerlichen Rechte, da sie ja in diesem Fall nicht gegen eine Regierung aufbegehren müßten, die ihnen diese Rechte vorenthält. […] Letztlich erkennt Bentham nur das mit Sanktionen verbundene positive Recht als Recht an.“ Beim „größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl“ ist „Kegeln ebenso gut […] wie Poesie.“ Wer für andere handelt, tut das für sich: „Das Motiv des Altruismus ist mithin der Egoismus“ (S. 486).

Christoph Helferich (1992) weist darauf hin, daß „das Nützlichkeitsprinzip als krasser Egoismus ausgelegt werden“ könne „und von daher […] der Begriff ‚utilitaristisch‘ von Gegnern meist mit einem abwertenden Unterton gebraucht“ werde – „ist doch das Wort ‚Lust‘ in unserer Kultur äußerst verdächtig“. „Haupteinwand: ‚das Nützliche‘ und ‚das Gute‘ sind noch lange nicht dasselbe“ (S. 300).

© Gunthard Rudolf Heller, 2023

Literaturverzeichnis

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HÖFFE, Otfried (Hg.): Einführung in die utilitaristische Ethik – Klassische und zeitgenössische Texte, München 1975

HÖFFE, Otfried: Zur Theorie des Glücks im klassischen Utilitarismus, in: Günther Bien (Hg.): Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, S. 147-169

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MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81 (MEL)

ROHLS, Jan: Geschichte der Ethik (1991), München 21999

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SCHLEICHERT, Hubert: Klassische chinesische Philosophie – Eine Einführung, Frankfurt am Main 21990

STÖRIG, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie (1950), Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 11197

Gunthard Heller