Humberto Maturana: Biologie und Erkenntnis

Dieser Artikel erklärt in einfachen Worten die Erkenntnistheorie des berühmten Biologen H. Maturana. Die Frage nach den biologischen Grundlagen unserer Wahrnehmung und Erkenntnis ist nicht nur für Philosophen interessant, sondern auch für Kommunikationstrainer, Erzieher, Lehrer oder Seminarleiter – sprich für alle Menschen, die Wissen in irgendeiner Art vermitteln wollen.

Maturanas Forschungsergebnisse zeigen auf, daß die bisher bekannten Theorien
über Kommunikation- oder Wissensvermittlung falsch sind. Seine Erkenntnisse
belegen, daß unsere Wahrnehmung völlig anders funktioniert als wir
es bislang angenommen haben. Mit diesem Wissen können Sie Ihren Unterricht
völlig neu gestalten. Entdecken Sie die Grenzen und Möglichkeiten
unserer Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit – übertragen Sie dieses
Wissen erfolgreich in Ihre tägliche Praxis!

Vorwort

Die
Wissenschaftler sind bemüht, objektive Aussagen über die Welt zu machen. Sie
suchen nach „Wahrheiten“, die eine Übereinstimmung von rationaler (Ratio = Vernunft)
Erkenntnis und Realität widerspiegeln. Sie sind der Meinung, daß z.B. bei einem
Versuch im Labor nicht subjektive Wünsche, Meinungen oder Vorurteile maßgebend
sind, sondern allein die Sachverhalte auf die sich ihre Theorien beziehen.

Ihre Annahme, daß es eine meßbare Wirklichkeit gibt, spiegelt sich in der Abbildtheorie
von RJ. Hirst wieder. In dieser Theorie definiert Hirst Wahrnehmung als „die
Entdeckung der Existenz und der Eigenschaften der äußeren Welt mit Hilfe der
Sinne“.

Durch eine derartige Herangehensweise bleiben dann aber grundlegende Fragen
unbeantwortet, nämlich: Wie erkennen wir? Wie wissen wir?

Maturanas Theorie beantwortet diese Fragen. Er geht sie von den biologischen
Wurzeln des Verstehens aus an. In dieser Abhandlung wird seine Sicht vorgetragen,
welche Erkennen als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt (durch den Prozeß
des Lebens) betrachtet.

Er definiert Erkennen (bzw. die Wahrnehmung) nicht als eine (originalgetreue)
Abbildung der „Welt da draußen“. Der Biologe H.R. Maturana bezeichnet
Erkenntnis (Kognition) als einen biologischen Prozeß. Und in seinem Buch
erklärt er, wie genau der Prozeß der Erkenntnis funktioniert. Dazu
geht er näher auf den Menschen als lebendes System, als Einheit ein. Denn
wir müssen den Menschen als ein Ganzes sehen. Wir können ihn nicht
durch die Aufzählung seiner Einzelteile verstehen.
Und weiterhin geht er näher darauf ein, wie die Sinnesorgane bzw. wie Wahrnehmung
funktioniert. Dazu müssen Fragen geklärt werden, wie z.B.: „Was
bedeutet ‚Information einholen‘?“ oder „Wie werden ‚Informationen‘
im Nervensystem verarbeitet?“

Durch eine Beantwortung dieser Fragen wird ein revolutionäres Modell aufgestellt,
welches völlig neue (und gewöhnungsbedürftige) Dimensionen der
Erfahrung eröffnet.

Vielleicht hat Sie diese Einleitung angeregt, sich die Erkenntnisse von Maturana
einmal genauer in diesem Kurs anzusehen. Eines verspreche ich Ihnen, nach dem
Studium seiner Erkenntnisse werden Sie nicht mehr derselbe sein!

Ein Wahrnehmungs-Experiment

Um gleich als erstes eine praktische Erfahrung dieser Theorie zu vermitteln,
beginnen wir mit einem kleinen Experiment:

Anmerkung des Autors: Dies ist Auszug eines Fun-Teiles, „Optische Täuschung
selbst gemacht“ von Andreas Trepzik. Es gibt viele optische Täuschungen als
Zeichnungen oder Grafiken in Zeitschriften oder dem Internet. Nur lassen sie
sich schwer herausschneiden, bzw. der PC wird ungern herumgetragen um diese
„Irreführungen des menschlichen Auges“ anderen zu zeigen.

Warum machen wir uns nicht selbst eine? Das ist ganz einfach:
Man zeichnet auf weißem Papier ein Quadrat von 14 cm Seitenlänge und teilt zwei gegenüber liegende Seiten in je sechsundfünfzig gleiche Abschnitte, also von je 2,5 mm für jeden. Dann zieht man die fünfundfünfzig parallelen Verbindungslinien. Endlich schlägt man um den Mittelpunkt des Quadrates einen Kreis von 69 mm Radius.

Diese Zeichnung wird auf Pappe aufgeklebt und danach ausgeschnitten.

Es soll nun alles in eine schnelle Rotation versetzt werden. Zu diesem Zwecke
sticht man eine nicht zu kurze Stecknadel durch den Mittelpunkt, hält sie an
der Spitze und schlägt an den Rand der Scheibe, so daß sie sich schnell dreht.

Alsbald sieht man statt der geraden Querlinie eine Anzahl konzentrischer Kreise. Eigentümliche Farbeffekte kann man überdies hervorrufen, wenn man die bis dahin weißen Zwischenräume in der Mitte der Scheibe abwechselnd rot oder grün färbt. Auch kann man, statt die Streifen zu zeichnen, farbige schmale Papierstreifen auf den Pappkreis kleben.

In dem Versuch hat sich herausgestellt, daß unser Auge nicht die Zeichnung
der Scheibe wahrnimmt, sondern uns Muster vorgaukelt, die gar nicht vorhanden
sind. Unsere Sinne sind also doch nicht so verläßlich, wie man gewöhnlich annimmt.
Wir nehmen tatsächlich einen kontinuierlichen Raum wahr. Im Bereich der Wahrnehmung
gilt anscheinend das Gesetz, daß man nicht merkt, wenn man etwas nicht wahrnimmt.
Die Welt erscheint uns vollständig und geschlossen, obwohl viele Aspekte, allein
schon aus physiologischen Gründen, nicht erkannt werden, wie wir im Experiment
gesehen haben.

Die Situation ist vergleichbar mit einem vorgestellten 2-dimensionalen Wesen,
das auf einer Kugel lebt: Es kann auf der Kugel in alle Richtungen gehen und
stößt dabei nie an ein Ende. Diese geschlossene Fläche entspricht seiner geschlossenen
aber beschränkten Sicht der Welt.

Zweites Experiment mit dem Blinden Fleck:

Das Experiment funktioniert so: Fixieren Sie den Stern, während Sie Ihr
linkes Auge zuhalten. Bewegen Sie sich vor der Abbildung vor und zurück
bis Sie bei einem Abstand von ca. 40 cm den Kreis nicht mehr sehen. Wenn der
Kreis verschwindet sehen Sie nicht etwa, daß Sie an dieser Stelle nichts
sehen, sondern der Kreis scheint einfach nicht da zu sein. Sie kommen gar nicht
auf die Idee, daß Sie irgendetwas übersehen. Die Erklärung für
dieses Phänomen ist, daß in dieser Position die Abbildung des Kreises
auf den Bereich der Netzhaut trifft, der für das Licht unempfindlich ist.
Dieser Bereich wird „blinder Fleck“ genannt. Dort laufen alle Nerven
zusammen und verlassen das Auge in einem Nervenstrang.

Sichtweise des „Beobachters“

Im Text ist sehr häufig vom „Beobachter“ die Rede. Er soll darum zuerst, am
besten anhand eines praktischen Beispiels, erklärt werden. Probieren Sie bitte
folgendes einmal aus:

LichtexperimentNehmen
Sie eine rote und eine weiße Lichtquelle (Lampen) und postieren Sie diese so,
daß sich die beiden Lichtkegel auf einer weißen Fläche überschneiden (z.B. einem
Blatt Papier). Bringen Sie dann Ihre Hand in den Lichtkegel.

Sie werden bemerken wie Ihre Hand in einer bestimmten Position (siehe Abbildung)
einen grünlichen Schatten auf den weißen Hintergrund wirft. Aber
wie ist das möglich? Jeder „gesunde Menschenverstand“ hätte
eine rötliche Schattierung erwartet.

Und selbst der auf Objektivierung ausgerichtete, Forschergeist hätte
keine Freude an diesem Experiment. Denn die Wellenlänge des Lichtes (in
dem grünlich wahrgenommenen Schatten) entspricht keineswegs der von grünem
oder blauem Licht, sondern der von weißem Licht! Schlußfolgernd
können wir sagen, daß unsere Erfahrung einer farbigen Welt unabhängig
von der Zusammensetzung der Wellenlänge des Lichtes ist. Vielmehr müssen
wir davon ausgehen, daß unsere Wahrnehmung durch die Struktur des Nervensystems
bestimmt wird. Man kann eine Korrespondenz zwischen der Benennung von Farben
und Zuständen neuronaler Aktivität feststellen. Wir sehen nicht den
„Raum“ der Welt, sondern wir erleben unser visuelles Feld.

1. Leitsatz: „Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“

Oder: Alles was wir sagen können, sagen wir aus einer persönlichen,
subjektiven Perspektive. Wenn wir diese Schlußfolgerung auch auf alle
weiteren Bereiche der Wahrnehmung und der Erfahrung ausdehnen, müssen wir
erkennen, daß alle Wahrnehmungen auf unserer eigenen Nerven-Struktur (bzw.
auf unserem Modell der Welt) beruhen. Wie wir unser Modell der Welt bilden wird
kurz und prägnant ausgedrückt:

2. Leitsatz „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.“

In anderen Worten – aus jeder Handlung ziehen wir bestimmte Erfahrungen, Erkenntnisse,
welche die Grundlage für unser weiteres Tun bilden. Und jede Erkenntnis ist
ein Prozeß.

Diese zirkuläre (kreisförmige) Verkettung von Handlung und Erfahrung
zeigt uns, daß jeder Akt des Erkennens eine Welt hervorbringt. Denn jede
Erfahrung von einem Objekt der Umwelt wird auf besondere Weise durch die menschliche
(Nerven-)Struktur konfiguriert (angeordnet), welche das Objekt, das in der Beschreibung
entsteht, erst möglich macht. Es geht in diesem Kurs also darum, wie der
Beobachter funktioniert und wie er erkennt. Außerdem wird uns interessieren,
welche praktischen Schlußfolgerungen wir daraus ableiten können.

Organisation und Struktur

Was heißt Organisation?

Bevor wir näher auf Systeme eingehen, ist es notwendig die Begriffe „Organisation“
und „Struktur“ zu erläutern:
Beispiel:
Damit ich ein Objekt als einen Stuhl bezeichnen kann, muß ich zuvor anerkennen,
daß gewisse Beziehungen (Relationen) zwischen den Teilen, die ich Beine, Lehne,
Sitzfläche nenne, auf eine Weise gegeben sind, die das Sitzen möglich machen.

StuhlUnter Organisation sind die Beziehungen zu verstehen, die zwischen den einzelnen
Bestandteilen eines Objektes (Stuhl) gegeben sein müssen, damit es als
Mitglied einer bestimmten Klasse (mit einer bestimmten Funktion) erkannt wird.

Beispiel: Bei einem Fahrrad stehen die einzelnen Teile in einer bestimmten
Wechselwirkung, so daß die Funktion des Fahrens erfüllt wird: Durch das Treten
der Pedale wird das Zahnrad angetrieben, welches die Kette bewegt. Diese wiederum
bringt ein weiteres Zahnrad und das Hinterrad zum Drehen. Nur Gegenstände, die
auf diese Weise funktionieren (mit noch ein paar bestimmten Funktionen mehr),
werden Fahrräder genannt.

Beim Aufzeigen oder Unterscheiden eines Objektes erkennen wir automatisch dessen
Organisation. Es ist ein grundlegender kognitiver Akt. Bei der Klassifizierung
von lebenden Systemen gab es allerdings Schwierigkeiten: Die Wissenschaftler
haben, durch Aufzählung von Eigenschaften, verschiedene Kriterien vorgeschlagen,
um lebende von nicht-lebenden Wesen zu unterscheiden.

Es ist wie in der Architektur: Wenn wir Häuser oder Gebäude untersuchen, werden
wird die Form des Gebäudes nicht dadurch verstehen, daß wir die Ziegel, den
Mörtel oder das Holz analysieren, die in dem Gebäude verarbeitet wurden. Woher
soll man wissen wann diese Aufzählung der Eigenschaften vollständig ist?
Maturana schlägt vor, daß sich Lebewesen dadurch charakterisieren, daß sie sich
andauernd selbst erzeugen. Darauf bezieht er sich, wenn er die sie definierende
Organisation, autopoietische Organisation nennt (griech. autos = selbst; poiein
= machen).

Diese Organisation ist durch bestimmte Beziehungen gegeben: Die Moleküle einer
zellulären autopoietischen Einheit müssen in einem stetigen Netzwerk von Wechselwirkungen
miteinander verbunden sein. Das Eigentümliche dieser zellulären Dynamik ist,
daß der Zellstoffwechsel Bestandteile erzeugt, welche allesamt in das Netz der
Transformationen, das sie erzeugte, integriert werden. (Siehe Lektion: Lebendes
System)

Es ist Lebewesen eigentümlich, daß das einzige Produkt ihrer Organisation
sie selbst sind, d.h. es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis.
Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies
bildet ihre spezifische Art von Organisation. Ein Lebewesen ist durch seine
autopoietische Organisation charakterisiert.

Was heißt Struktur?

Bleiben wir bei dem Beispiel mit dem Stuhl: Ob dieser nämlich aus Holz
mit Nägeln oder aus Kunststoff mit Schrauben o.a. besteht, ist dafür,
daß er ein Stuhl ist völlig unbedeutend. Hier ist das Material und
die Form Bestandteil der Struktur.

Unter einer Struktur von etwas werden die Bestandteile und Beziehungen verstanden,
die eine Einheit auf eine spezifische Weise konstituieren und ihre Organisation
verwirklichen.

Verschiedene Lebewesen unterscheiden sich durch verschiedene Strukturen, sind
aber in bezug auf ihre Organisation gleich.

Was ist ein System?

Bei der Erforschung der Materie offenbart uns die Natur nicht isolierte Grundbausteine,
sondern erscheint vielmehr als ein kompliziertes Geflecht von Beziehungen zwischen
Teilen einer integrierten Ganzheit. Die Eigenschaft, die ein System ausmacht
ist, daß seine Teile nicht wahllos nebeneinander liegen, sondern zu einem bestimmten
Aufbau vernetzt sind. Dadurch verhält sich ein System völlig anders als seine
Teile.

Es
wird zu einem neuen Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Das
kann man z.B. daran erkennen, daß das Ganze erhalten bleibt auch wenn man ein
Teil vom System entfernt. Aus Teilen (Zellen) wiederum kann selbst ein Ganzes
entstehen. Jedes Glied eines Systems steht mit jedem anderen in Wechselwirkung.

Systeme versteht man allgemein als Netzwerke von Komponenten, zwischen denen
Interaktionen stattfinden. Systeme verändern sich dadurch, daß sich ihre Komponenten
und damit die zwischen ihnen stattfindenden Interaktionen verändern. Die Struktur
verändert sich nur solange, wie sie die autopoietische Organisation verwirklicht.

Systeme befinden sich in ständiger struktureller Veränderung, da sich die Einzelteile
ebenfalls ständig verändern oder einige absterben und neue integriert werden
(wie z.B. die Zellen des Körpers). Dadurch, daß die Einzelteile nicht mehr die
selben sind, ist auch das System (die Gesamtheit der Einzelteile) nicht mehr
das selbe. Es verändert sich in dem Maße, in dem sich seine Teile verändern.

Aber jedes System zerfällt, wenn seine Organisation im Verlaufe seiner strukturellen
Veränderungen nicht erhalten bleibt. So ist eine Uhr mit mechanischem Federwerk
keine Uhr mehr (hat ihre Organisation als Uhr verloren), wenn eine ihrer strukturellen
Veränderungen ein Bruch der Aufzugsmechanik aufweisen. Wenn mehrere voneinander
getrennte Systeme in enge Beziehung treten, kann daraus ein neues, übergeordnetes
System entstehen. Ein Ameisenhaufen oder eine Familie ist ein gutes Beispiel
für ein übergeordnetes System.

Selbstreferenzielle und fremdreferenzielle Systeme

TracktorNachdem
der Begriff „System“ im Allgemeinen behandelt wurde, können wir Systeme nun
in 2 Klassen teilen: Selbstreferentielle und fremdreferentielle Systeme.
Erstere zeichnen sich dadurch aus, daß sie nur auf sich selbst bezogen sind
(Referenz = Beziehung). D.h. sie können nicht von ihrer Umwelt bestimmt oder
kontrolliert werden.

Wir Menschen sind selbstreferentielle Systeme. Jemand anderes kann vielleicht
Prozesse in Ihnen auslösen, aber welche das sind, bestimmen nur Sie (wenn auch
meistens unbewußt).

Beispiel: Wenn jemand mit Türen knallt, dann bleibt Ihre Reaktion darauf Ihnen selbst überlassen. Es ist nicht notwendig, daß Sie darauf sauer reagieren. (Anmerkung
für NLP-Kenner: Denken Sie z.B. an die NLP-Frage nach Ursache-Wirkung: Wie genau
kann ein anderer bestimmen wie Sie sich fühlen?)

Fremdreferentielle Systeme zeichnen sich dadurch aus, daß sie nur durch
die Umwelt bestimmt werden. Beispiel hierfür sind Computer oder Maschinen,
die auf Knopfdruck so reagieren wie sie vorher von Menschenhand programmiert
oder konstruiert wurden.

Lebendige Systeme

Lebende Systeme sind selbstreferentielle Systeme. Wenn Sie einsehen, daß Sie
ein selbstreferentielles System sind, dann hat das ganz schön schwerwiegende
Implikationen (wie im letzten Kapitel angedeutet). Das bedeutet, anders ausgedrückt,
daß Sie für sich selbst verantwortlich sind. Denn niemand anderer kann irgendein
Verhalten von Ihnen bestimmen, sondern Sie tun es immer selbst.

Lebende
Systeme haben eine autopoietische (selbsterhaltende, selbsterzeugende) Organisation.
Jedes Teil (jede Zelle) und jede Handlung des Systems wird dem Ziel der Selbsterhaltung
untergeordnet. Auf der Ebene der Zellen wirken die einzelnen Moleküle ununterbrochen
gegenseitig aufeinander, so daß ein riesiges Netzwerk entsteht. In diesem dynamischen
Netzwerk werden Bestandteile erzeugt, die allesamt in dieses Netzwerk miteinbezogen
werden, um der Erhaltung des Systems zu dienen. Das System erzeugt sich ständig
selbst neu. (Siehe Lektion: Organisation und Struktur)

orangutanBiologen nennen die Abläufe dieses Netzwerks „Zellstoffwechser“. Durch den Stoffwechsel
verändern lebende Systeme ihre Struktur ständig. Natürlich gibt es noch andere
strukturelle Veränderungen (z.B. durch Verletzung), aber der Stoffwechsel ist
kontinuierlich vorhanden. Doch bei allen Veränderungen muß die Organisation
erhalten bleiben, ansonsten zerfällt das System.

Beispiel: Ständig sterben in Ihren Körper Zellen ab und andere werden erzeugt.
Nach ca. 7 Jahren bestehen Sie fast gänzlich aus neuen Zellen. Die Struktur
hat sich ständig verändert. Doch die Organisationsform ist die gleiche geblieben:
Sie sind immer noch ein lebendes System, ein Mensch. Die Organisation ist zirkulär
(kreisförmig). Als Erhalt der Zirkularität wird ein Prozeß bezeichnet, durch den
ein System nur auf die Art interagiert, die eine erneute Interaktion zuläßt.

Beispiel: Der Stoffwechsel. Lebende Systeme brauchen für den Stoffwechsel
bestimmte Stoffe z.B. für das Wachstum. Diese bekommen sie, wenn sie bestimmte
Interaktionen ausführen. Dadurch haben sie die Stoffe, die dann wieder
die Interaktionen auslösen, die sie benötigen um sich selbst zu erzeugen.
Das Produkt der Bestandteile (z.B. der Zellen) ist genau die Organisation, die
diese Teile produziert. Dies ist die Begründung, warum die Organisation
zirkulär ist.

Die Organisation lebender Systeme bestimmt die Möglichkeiten der Handlungen,
die das System ausführen kann, ohne daß es sein Leben verliert. Oder: Das Ziel
jedes lebenden Systems ist es am Leben zu bleiben. Folglich müssen alle Handlungen
den Prozeß der Selbsterhaltung unterstützen. Der Bereich der Handlungen, die
ein Lebewesen ausführen kann, wird im folgenden Interaktionsbereich genannt
(von Interaktion = Handlung). In diesem Interaktionsbereich sind alle Handlungen
enthalten, die ein System auszuführen in der Lage ist.

FischBeispiel:
Ein Fisch kann an Land nicht überleben, da die Art seiner Organisation Wasser
in seiner Umwelt bedingt. In seinem Interaktionsbereich liegt die Fähigkeit
im Wasser zu atmen und er würde nie auf die Idee kommen einfach mal an Land
zu „gehen“. Diese Handlungsmöglichkeit unter Wasser zu atmen hat der Mensch
nicht, und er probiert sie auch gar nicht erst aus.

Auf Grund der zirkulären Organisation agiert ein lebendes System auf vorhersagende
Weise. Es sagt sich: „Eine Interaktion (Handlung, Wechselbeziehung), die einmal
stattgefunden hat, wird wieder stattfinden.“ Geschieht das jedoch nicht, so
zerfällt das System.

Beispiel: Ein Frosch ist so organisiert, daß er Fliegen fangen und fressen
kann. In seiner Organisation ist also die Vorhersage enthalten, daß es Fliegen
gibt. Wenn es keine Fliegen mehr geben würde (und der Frosch nicht vielfältiger
wird, also auf andere Insekten umsteigen kann), dann würde der Frosch sterben.
Dies macht lebende Systeme zu folgernden Systemen und ihren Interaktionsbereich
zum kognitiven Bereich (Erkenntnisbereich). Erkenntnis und Handeln sind untrennbar
miteinander verbunden. Denn der Organismus kann nur durch Handeln (Interaktion)
erkennen was zu tun ist. Lebende Systeme können nur Erfahrungen machen, indem
sie handeln. Und diese Erfahrungen bilden die Grundlage für erneutes Handeln.

Beispiel: Eine Katze hat man von klein auf nur herumgetragen, so daß sie nie
selbst laufen brauchte. Als man sie nach einiger Zeit nun auf den Boden setzte,
blieb sie dort sitzen: Sie hatte nie die Erfahrung zu laufen gemacht, daher
lag es auch nicht in ihrem Bereich der möglichen Handlungen.

Lebende
Systeme haben eine konservative Organisation. Sie wiederholen nur das, was funktioniert.
Jedes lebende System lebt in seiner eigenen Nische. Jedes lebende System lebt
in einer Umgebung, in der es handelt und mit der es in Wechselbeziehung steht
(interagiert). Diese Umgebung wird als Nische bezeichnet. System und Nische
können nicht unabhängig voneinander verstanden werden. Die Nische ist der Bereich
des Organismus, der von ihm wahrgenommen wird und über den er nicht hinaustreten
kann. Denn die Nische eines Organismus hat sich durch seine fortlaufenden Erfahrungen
gebildet. Diese Erfahrungen bilden das Modell der Welt, also die Nische. Mit
anderen Worten, man kann die Nische auch als „Spiegel“ des Organismus betrachten:
Die innere Einstellung (das Modell der Welt) spiegelt sich in der Nische wider.

Dazu ein Experiment: Stellen Sie sich Ihre Umgebung als eine Art Erweiterung
Ihrer Person vor, so als ob Sie Ihre Umgebung „tragen“. Bei genügend Übung werden
Sie immer leichter den Eindruck gewinnen, wie Ihre Konturen weicher werden,
und Sie erlangen ein deutlicheres Gefühl der Verbundenheit mit Ihrer Nische.
Ein Beobachter kann die Nische eines anderen Organismus nicht wahrnehmen. Er
erkennt Organismus und Umwelt gleichzeitig, wobei er den Interaktionsbereich
des Organismus, den er auf seinem Hintergrund abgrenzt, als Nische des Organismus
beobachtet. Die Nischen zweier Organismen (bzw. die Nische eines Systems und
die Umwelt eines Beobachters) überschneiden sich nur in dem Maße, wie sich die
Organisation beider Lebewesen ähnelt. Dennoch sind sie auch dann nicht gleich,
sondern sie ähneln sich insoweit sich ihr Interaktionsbereich ähnelt.

Der Beobachter kann dem Handeln eines Organismus einen total anderen Sinn zusprechen,
als der Organismus selbst. Denn der Beobachter betrachtet die Handlung des Organismus
in seiner Umwelt aus dem Blickwinkel seiner Nische und nicht aus dem Blickwinkel
der Nische des Organismus. Interaktionen, welche für einen Organismus nicht
unterscheidbar sind, können für einen Beobachter anhand des Verhaltens des Organismus
sehr wohl unterscheidbar sein. Ebenso können Interaktionen, die für den Organismus
ununterscheidbar sind, verschieden für seine einzelnen Teile sein.

Beispiel: Wir Menschen können nicht die komplizierten, chemischen Veränderungen
jeder einzelnen Körperzelle wahrnehmen. Uns Menschen erscheint es, als ob
unser Magen einfach verdaut. Die Magenzellen haben mit dem Verdauen nichts
zu tun. Sie verändern nur ihre chemischen Aktivitäten, um ihr Gleichgewicht
wieder herzustellen.

Evolution lebendiger Systeme

Evolution wird hier verstanden als Entwicklung, Entfaltung von etwas bereits
Existierendem. Bei jeder Fortpflanzung eines Organismus treten Veränderungen
auf. Organismen, die aufgrund der Veränderungen ihre zirkuläre Organisation
nicht mehr aufrechterhalten können, sterben. Wenn sich die Umwelt nicht ändert,
sind Veränderungen für eine überlebensfähige Art nicht notwendig. So gesehen braucht
der Organismus keine Evolution.

Doch was passiert, wenn sich die Umwelt ändert? Dann kann es geschehen, daß
eine Art, wenn sie sich den neuen Lebensumständen nicht anpaßt, auf Grund ihrer
Organisation nicht mehr überlebensfähig ist. Aber ein entsprechend veränderter
Nachkomme stellt sich in der veränderten Umwelt eventuell als überlebensfähig
heraus. Hierbei hat der Nachkomme durch die evolutive Veränderung überlebt.
So sterben einige Zweige einer Art, die sich der Umwelt nicht anpaßt, aus. Andere
Zweige, die sich entsprechend den Umweltbedingungen verhalten, überleben.

Beispiel:
Krokodile haben sich im Laufe tausender Jahre kaum verändert, da sie sich durch
ihre Art der Organisation überlebensfähig zeigten. Natürlich ist jedes Krokodil
ein klein wenig anders als jedes andere, doch erhalten sie alle die gleiche
Art der Organisation. Von den Affenarten haben nur sehr wenige überlebt, die
meisten Zweige sind ausgestorben. Die großen Dinosaurier sind ganz ausgestorben.
Haben vielleicht daher noch einige Affenarten, wie wir Menschen überlebt?

SaurierWas sich bei Lebewesen im Verlauf der Evolution verändern kann, ist die Art
der Selbsterhaltung. Die ersten Urtiere haben irgendwann gelernt an Land zu
leben. Sie haben ihre Art der Erhaltung in der Weise geändert, daß sie z.B.
nicht mehr mit Kiemen, sondern mit Lungen atmen. Auf keinen Fall aber kann sich
die zirkuläre Organisation, die Autopoiese, selbst verändern. Denn das bedeutet
den Verfall des Systems.

Evolution eines einzelnen lebenden Systems

Das System muß eine interne Veränderung erfahren, damit eine Veränderung im
Interaktionsbereich stattfindet. Jedes einzelne Individuum durchläuft im
Laufe seines Lebens eine Evolution seines Interaktionsbereiches. Denn mit jeder
Interaktion macht das System eine neue Erfahrung, die eine Voraussage für die
nächste Interaktion bildet. Wir befinden uns ununterbrochen im Evolutionsprozeß.

Die eingetroffenen Vorhersagen (siehe Lektion: Lebendige Systeme) verändern
den internen Zustand entsprechend, wodurch sich das System evolutiv verändert.
Die Evolution der lebenden Systeme ist die Evolution der Nischen und somit die
Evolution der kognitiven Bereiche. Individuelle Veränderungen bezeichnen
wir als Lernen. Doch dazu später mehr.

Funktion des Nervensystems

Keine
zwei Nervensysteme von Lebewesen der gleichen Art können identisch sein. Die
Nervenzellen sind so angeordnet, daß sich ihre Kollektor- und Effektorbereich
stark überlagern. Jede Zelle ist gleichzeitig mit vielen anderen verbunden.
Welche Zellen miteinander verbunden sind, ist bei verschiedenen Lebewesen unterschiedlich
– dadurch ergeben sich die verschiedenen Interaktionsfähigkeiten. Aktion führt
immer zu einer Veränderung im Aktivitätszustand der Rezeptoroberflächen. Das
Nervensystem kann keinerlei Verhalten hervorrufen, welches begleitende Aktivitätszustände
zur Folge hat, für die keine anatomische Basis vorhanden ist.

Folglich wird auch jede lokale Verletzung des Nervensystems in lokal gebundener
Weise auf das Verhalten einwirken. Das Nervensystem funktioniert nur so, wie
es seine anatomische Organisation erlaubt.

Nervenzelle

Merksatz: Das Nervensystem interagiert nur mit „reinen Relationen“ (Beziehungen
zwischen den eigenen Nervenzellen).

Beobachtete Objekte werden durch die Beziehungen, der durch die Sinneszellen
hervorgerufenen Aktivitätszustände (der Retina) bestimmt. Da die Funktion des
Nervensystems anatomisch bedingt ist, werden diese Interaktionen durch physikalische
Abläufe vermittelt.

Einfach gesagt: Nicht die einfallende Lichtmenge, sondern die Relationen
der Sinneseindrücke jeder Retina-Zelle zueinander, führen zum Erkennen
eines Objektes.

NervensystemEs
ist unmöglich die Aktivität einer Zelle einer bestimmten Interaktion des Systems
zuzuorden. Eine Nervenzelle kann bei vielen verschiedenen Interaktionsbedingungen
den gleichen Zustand annehmen. Eine Interaktion ergibt sich aus dem Zusammenspiel
aller Neuronen.

Allerdings läßt sich das Nervensystem in grobe Zuständigkeitsbereiche
einteilen. Bei bestimmten Interaktionen sind bestimmte Zellgruppen im Gehirn
mehr beteiligt als andere (visueller Bereich etc.).

Beispiel: Der Neokortex ist das Zentrum interner anatomischer Projektion. Er
bildet die Möglichkeit zu abstraktem Denken. Experimente von Wissenschaftlern
haben ergeben: Wenn Teile des Nervensystems zerstört werden, kann das Nervensystem
zwar nicht das gleiche leisten wie das Ganze, doch die Operationsweise ist mit
dem Ganzen identisch.

Diese Experimente bestätigen die Theorie, daß sich die Funktion
des Gehirns über alle Nervenzellen verteilt. „Die anatomische und
funktionale Organisation des Nervensystems sichert die Synthese von Verhalten,
nicht eine Repräsentation der Welt.“

Daraus folgt: Die Funktion des Nervensystems besteht also in der Erweiterung
des Interaktionsbereiches eines Systems.

Nervenzellen

Das Nervensystem ist aus Nervenzellen (Neuronen) aufgebaut. Neuronen sind autopoietische
Systeme, die mit anderen Zellen zusammen das übergeordnete System Mensch bilden.
Ein Neuron besteht aus:

  • Zellkörper
  • Kollektorbereich (Dendriten)
  • Verteilerelement (Axon)

SynopseNeuronen sind untereinander durch die Endverzweigungen der Axone anderer Neuronen
verbunden, sogenannte Effektorbereiche (siehe rechts das Bild einer Synapse).

Die
Nervenimpulse zwischen den Zellen werden in Form von „Klick-Klicks“ weitergeleitet.
Klick-Klicks stehen symbolisch für aufeinanderfolgende Impulse, die nur durch
ihre Frequenz unterschieden werden können. Eine Frequenzänderung bedeutet, daß
sich der Zeitabstand zwischen den einzelnen Impulsen verändert.

Das wichtige daran ist, daß Nervenzellen nur Quantitäten unterscheiden
und verarbeiten können – keine Qualitäten. Eine Nervenzelle reagiert
nur auf das „Wieviel“ und nicht auf das „Woher“. Eine Nervenzelle
weiß also nicht, ob ein Signal nun von einer anderen Nervenzelle kommt
oder von einer Sensorzelle. Eine Nervenzelle weiß nicht, ob ein Impuls
eine Entsprechung zu einem Signal aus der Außenwelt hat (wie z.B. beim
Sehen) oder im Nervensystem erzeugt wurde (wie beim Denken).

Der funktionale Zustand im Kollektorbereich (Dendriten, Eingangsleitungen für
Nervenimpulse) hängt ab:

  • vom internen Zustand des Kollektors
  • vom Aktivitätszustand des Effektorbereichs.

Der Aktivitätszustand einer Nervenzelle hängt immer von der raum-zeitlichen
Verteilung der Inputsignale ab. Tritt ein bestimmter Input (gleiche raum-zeitliche
Impulsfolge) wieder auf, so folgt der gleiche Aktivitätszustand des Neurons.
Zwei Aktivitätszustände einer Zelle sind dann gleich, wenn sie der
gleichen Art (Klasse) sind.

Eine
besondere Art von Reaktionen wird durch eine besondere Art von Inputs ausgelöst.
Das Ganze muß man sich als ein Netzwerk vorstellen: Jede Nervenzelle wirkt
auf andere, und somit ist jeder Aktivitätszustand bedeutsam für die folgenden.

Was ein Neuron beeinflußt, muß nicht notwendigerweise ein anderes beeinflussen.
Die Form des Kollektorbereiches (seine Geometrie) legt fest, auf welche Arten
von Inputs ein Neuron reagiert. Die Inputsignale kann man in erregende und hemmende
Signale teilen. „Hemmend“ heißt, daß Erregungssignale am Kolletor zu anderen
Nervenzellen abgeleitet werden. Benachbarte Synapsen können sich auch auf Grund
ihrer räumlichen Nähe nicht-synaptisch beeinflussen. Wie eine Nervenzelle reagiert,
ist also von vielen Begleitumständen abhängig.

Die Beobachtung der Prozesse im Nervensystem

Das Nervensystem funktioniert nur in der Gegenwart. Zeit existiert nur für den Beobachter. Er kann anhand der Geschichte des System
erklären, wie die jetzige Operationsweise zustande gekommen ist, aber nicht
wie sie jetzt tatsächlich verläuft. Interaktionen im Nervensystem sind von außen
anhand des Verhaltens beobachtbar.

Zwei Verhaltensweisen sind gleich, wenn sie den gleichen Arten von Anforderungen
(aus der Sicht eines Beobachters) für die Erhaltung des Organismus genügen.
Jedes Verhalten (Folge von Zuständen an der Rezeptoroberfläche)
ist der Erhaltung der Zirkularität des lebenden Systems untergeordnet.

Ein Neuron verändert ständig seine Mitwirkung, deshalb kann es keine
festgelegte Rolle spielen. Nur das Verhalten selbst kann als funktionale
Einheit des Nervensystems aufgefaßt werden.

Verhalten kann man (als Organismus) nur im Hier und Jetzt – in der Gegenwart
– wahrnehmen. Das Nervensystem funktioniert stets in der Gegenwart. Es kann
nur verstanden werden als ein System, das in der Gegenwart funktioniert.

Wie sich das Nervensystem als nächstes verändert, hängt ganz von seiner momentanen
Struktur ab. Die momentane Struktur des Nervensystems hängt von all dem ab,
was ein Organismus erlebt und welche Entwicklung er durchgemacht hat. Der
gegenwärtige Zustand ist durch den vorherigen bestimmt.

Anmerkung: Im Anhang ist eine detaillierte Beschreibung der biologischen Prozesse
des Nervensystems zu finden. Wenn Fragen zu dieser Lektion auftauchen sollten
oder wenn Sie tiefer in die Materie einsteigen wollen, dann empfehle ich Ihnen
den Anhang zu lesen.

Wahrnehmung des Nervensystems

„Was ist der Input des Nervensystems?

Den einzigen Input, den das Nervensystem verarbeiten kann, sind Zustände relativer
Aktivität zwischen seinen eigenen Nervenzellen. Zustände relativer Aktivität
nennt man auch Relationen. Neuronen können zwei Aktivitätszustände einnehmen:
Sie leiten einen Nervenimpuls weiter oder nicht. Welchen Aktivitätszustand eine
Nervenzelle aber einnimmt, hängt von allen anderen Nervenzellen ab.

Das Nervensystem reagiert nur auf Unterschiede seiner eigenen Aktivität.
Darum sagt Maturana, daß Nervensysteme operational geschlossen sind (von
außen nicht beeinflußbar). Um sich diese Geschlossenheit des Systems
besser vorstellen zu können, gehen wir nun kurz auf Powers Modell des einfachsten
geschlossenen Rückkopplungssystems ein.

System-Umwelt Diagramm

Das Diagramm illustriert einen Homöostaten (ein System, das dazu geschaffen
ist, eine bestimmte Bedingung aufrechtzuerhalten, die durch den Sensor dargestellt
wird). Was bedeutet dies?

Beispiel: Der Mensch hat viele Milliarden Nervenzellen. Er erhält seine Homöostase
auf eine unvorstellbar komplexe Weise aufrecht. Der obere Teil der gestrichelten
Linie stellt einen Organismus dar. Der untere Teil stellt den Teil der Nische
dar, den der Organismus beobachtet. Das Referenzsignal kommt von irgendwo im
Nervensystem. Der Komperator vergleicht das Sensor-Signal mit dem Referenz-Signal.
Wenn diese beiden Signale nicht übereinstimmen, dann gibt er ein Fehler-Signal
zu dem Effektor. Das Fehler-Signal wird solange aufrechterhalten, bis das Sensor-Signal
wieder gleich dem Referenz-Signal ist.

Beispiel:

  • Referenz-Signal = Körpertemperatur muß ca. 37 Grad sein.
  • Sensor = Wärmeempfindliche Zellen im Körper
  • Effektor = Hormondrüsen, die Hormone produzieren, welche die Wärmeerzeugung
    der Zellen anregen.

Wenn das Sensor-Signal eine höhere Temperatur als das Referenz-Signal
beinhaltet, dann sendet der Komperator ein Fehlersignal zu dem Effektor, so daß
die Temperatur konstant gehalten wird. Wie aus der Abbildung hervorgeht, kann
das Nervensystem nicht die Signale des Sensors einzeln bewerten. Es findet ein
Vergleich zwischen relativen Aktivitäten statt.

Der Komparator wäre eine Nervenzelle, die Klick-Klicks aus der einen Richtung
(vom Sensor) mit Klick-Klicks aus der anderen Richtung (Referenzsignal von anderen
Nervenzellen) vergleicht. Aus der Sicht der Nervenzelle findet aber kein Vergleich
statt, denn sie weiß nicht von woher welche Klick-Klicks kommen. Sie reagiert
nur auf ein bestimmtes Muster von Signalen in ihrem Effektorbereich mit einem
bestimmten Aktivitätszustand. Das ist alles. Zur Veranschaulichung ein weiteres
Beispiel.

Beispiel:
Die Situation läßt sich mit einer Instrumentenfahrt in einem U-Boot vergleichen.
Ein Flugkapitän der das U-Boot von oben im Wasser sieht sagt per Funk: „Mann,
hast du das U-Boot toll an den ganzen Klippen und durch die ganzen Untiefen
hindurchmanövriert.“ Der U-Boot-Kapitän sagt: „Klippen? Untiefen? Davon weiß
ich nichts. Ich habe bloß durch drehen an verschiedenen Hebeln die angezeigten
Werte meiner Instrumente konstant gehalten.“

Mit diesem Beispiel verdeutlichen wir hoffentlich eine der wichtigsten der
Konsequenzen von Maturanas Theorie: Die Signale, die im Nervensystem verarbeitet
werden, haben nichts mit der Außenwelt zu tun.

Die Signale, welche im Nervensystem verarbeitet werden, haben genausowenig
mit der Außenwelt zu tun, wie die Anzeige der Instrumente im U-Boot mit den
Klippen und Untiefen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Erlebnisse mit
den Experimenten, welche wir ganz zum Anfang nannten.

Der nächste Zustand des Nervensystems hängt immer von dem momentanen
Zustand ab. Der momentane Zustand des Nervensystems legt eine ganz bestimmte
Menge möglicher folgender Zustände fest. Darum sagt Maturana, daß
Nervensysteme zustandsdeterminierte Systeme (durch seine eigenen Zustände
(der Nervenzellen) bestimmte) sind .

Beispiel: Wenn ein Tier Hunger hat, reagiert es anders auf vorgesetztes Fressen,
als wenn es vollgefressen ist. Der momentane Zustand des Tieres entscheidet
über den nächsten.

Die Relationen werden durch Aktivitätszustände der Neuronen gebildet. Jeder
dieser Zustände verändert wieder Aktivitätszustände anderer Neuronen. Bei der
Wahrnehmung handelt es sich um Relationen (wie immer zwischen Nervenzellen),
die in der Interaktion erzeugt werden. Was wahrgenommen werden kann, hängt
von der strukturellen Organisation des Organismus ab. Dieser ist durch den Interaktionsbereich
festgelegt.

Beispiel: Die Fledermaus hat eine strukturelle Organisation, welche es erlaubt,
Ultraschall-Wellen wahrzunehmen. Wir Menschen können diese Wellen aufgrund
unserer struktuellen Organisation nicht wahrnehmen. Das Wahrnehmen der Ultraschall-Wellen
gehört somit zum Interaktionsbereich der Wahrnehmungsorgane der Fledermaus.

FensterAngenommen
zwei Handwerker tun so als ob sie eine durchsichtige große Scheibe quer über
die Straße tragen. Jeder Mensch würde nicht zwischen den beiden hindurch gehen,
denn er „weiß“, daß da eine Glasscheibe ist. Wenn nun zufällig eine Fledermaus
dort entlang fliegt „durchschaut“ sie den Scherz sofort. Denn mit ihrem speziellen
„Ultraschall-Wellen-Radar“ entdeckt sie, daß kein Hindernis (Scheibe) da ist.
Maturana unterscheidet zwischen extern und intern erzeugten Relationen, wobei
Relationen durch Aktivitätszustände der Nervenzellen verkörpert werden.

Bei externen Interaktionen sind die Sensor-Zellen mit beteiligt. Bei internen
Interaktionen sind sie nicht beteiligt. Alle Sensor-Zellen zusammengenommen
nennt Maturana die „sensorische Oberfläche“. Alle Effektor-Zellen
zusammengenommen nennt er die „motorische Oberfläche“. Effektor-Zellen
steuern die
Muskel-Bewegungen. Die Handhabung der Umwelt besteht aus der Herstellung einer
Anzahl von Wechselbeziehungen zwischen den Effektor-und Rezeptoroberflächen.
Ein bestimmter Zustand der Effektoroberfläche ruft einen besonderen Zustand
der Rezeptoroberfläche hervor usw., so daß ein kreisförmiger Prozeß entsteht.

Tritt ein Zustand der gleichen Klasse einer Nervenzelle wieder auf, so zieht
er Verhalten der gleichen Klasse nach sich, wie beim ersten Mal, als der Zustand
eintrat.
Die Wichtigkeit eines Verhaltens wird an der Bedeutung desselben für die
Erhaltung der Organisation gemessen.
Nur weil bestimmte Relationen zwischen
Effektor- und Rezeptoroberflächen konstant gehalten werden, kann der Organismus
seine Identität erhalten.

Beispiel der Körpertemperatur: Wenn es draußen kalt ist, ziehen sich die Zellen
der Haut zusammen um die Wärme im Körper zu behalten. Ist es draußen sehr warm,
dann schwitzt der Körper, um durch die Verdunstung des Wassers etwas Kühlung
für die Haut herzustellen.

Der Mensch hat die Fähigkeit entwickelt mit seinen eigenen internen Zuständen
in rekursiver Weise zu interagieren. Er kann beispielsweise über Gegenstände
nachdenken. Gegenstände, über die er nachdenkt, sind keine Gegenstände in seiner
Außenwelt, sondern lediglich interne Zustände seines Nervensystems. Er behandelt
diese inneren Zustände dann als etwas, was außerhalb von ihm ist.

Wenn ein Nervensystem fähig ist, innere (interne) Zustände als unabhängige
Gegenstände zu behandeln, ergeben sich zwei Konsequenzen:

  • Das Nervensystem, das Ursprünge von Interaktionen (intern/extern)
    unterscheiden kann, ist zu abstraktem Denken fähig.
  • Das Nervensystem kann mit Repräsentationen seiner Interaktionen in rekursiver
    (rückbezüglicher) Weise interagieren. Es ist zur Selbstreflektion und Ichbewußtsein
    fähig.

Wenn Du also glaubst einen Gegenstand zu betrachten, so „betrachtet“ ein Teil
deines Nervensystems jene Relationen in deinem Nervensystem, welche den Gegenstand
repräsentieren. Das Nervensystem kann keine Gegenstände der Außenwelt abbilden.
Der einzige Input des Nervensystems sind seine eigenen internen Zustände. Das,
wovon Sie glauben, es seien unabhängige Gegenstände, sind innere Zustände neuraler
Aktivität. Darum ist eine Beobachtung der Außenwelt immer von dem, der sie beobachtet
geprägt. Das geschieht in einer Weise, in der Beobachtung kaum mehr etwas mit
der Außenwelt zu tun hat. Aus der Sicht des Nervensystems ist Verhalten vergleichbar
mit einer „blinden“ Instumentenfahrt im U-Boot. Das für die Erhaltung des lebenden
Systems notwendige Verhalten ist abhängig von der Geschichte des Systems.

Das Verhalten kann bedingt sein durch:

  • Stammesgeschichte = Instinkt oder
  • Erfahrungen des Organismus = erlerntes Verhalten

Interaktionen unseres Nervensystems

Es gibt zwei Arten, wie ein Organismus einen anderen orientieren kann:

l. Interaktion

Interaktion bezeichnet dabei jedes Verhalten eines (Nerven-)Systems zur Umwelt
(wobei „Umwelt“ auch ein anderer Mensch sein kann), das durch das Verhalten
des jeweils anderen bedingt ist, so daß ineinander verzahnte Verhaltensformen
erzeugt werden. Das nachfolgende Verhalten hängt von den Ergebnissen selbständiger,
aber paralleler Interaktionen ab. Beispiele wären das Paarungs- und Kampfverhalten
bei Tieren.

2. Kommunikation

Wenn zwei Organismen (Menschen) in ihren Interaktionsbereichen weitgehend übereinstimmen
(Bsp. Sprache), kann einer das Verhalten des anderen orientieren. Orientieren
bedeutet hierbei nicht den anderen 1:1 zu beeinflussen, sondern eher
den jeweils anderen durch Stimulationen seines Nervensystems zu „irritieren“
– beispielsweise in dem man Schallwellen erzeugt (Sprache), die das andere Nervensystem
zu internen Zustandsänderungen bewegt.

KommunikationWichtig
ist hierbei zu verstehen, daß der Zuhörer des Gesagten eigentlich keine Schallwellen,
Sprache etc. wahrnehmen kann. Was er wahrnimmt sind seine nerven-systeminternen
Klick-Klicks
, die sein Gehirn zu „etwas da draußen Gesagten“ deutet – quasi
von Innen nach Außen projiziert. Dieses Prinzip gilt für alle sinnlichen Wahrnehmungen
– wir nehmen also nicht unsere Umwelt wahr, sondern nur die Auswirkungen der
Umwelt, die sich in systeminternen Veränderungen unseres Nervensystems zeigen.

Maturana sagt hierzu, daß das Nervensystem operational geschlossen ist
– also nichts von außerhalb in das Nervensystem eindringen kann. Da somit
ein direkte Beeinflussung unseres Nervensystems biologisch unmöglich
ist, sind auch unsere klassischen Vorstellungen von „Wahrnehmung“ völlig
falsch. Wir nehmen nichts wahr, sondern interpretieren nur unsere internen
Zustände und projizieren sie in ein virtuelles Außen.

Wenn wir denken von „Außen“ etwas wahrzunehmen, sind wir der Täuschung unseres
eigenen Nervensystems aufgesessen. Es kann nämlich gar nichts Äußeres wahrnehmen,
sondern nur seine internen Systemzustände interpretieren. Wenn man dies verstanden
hat, kann man auch nachvollziehen, warum unsere bisherigen „Kommunikationstheorien“
durch die Erkenntnisse von Maturana widerlegt werden.

Dies zeigt sich besonders deutlich im Begriff des Verstehens. Wir können
keine Information eines anderen Menschen im traditionellen Sinne verstehen,
weil Informationen biologisch nicht übertragen werden können. Wenn
Sprache – z.B. über das Medium von Schallwellen – benutzt wird, wird keinerlei
Information übertragen. Man könnte höchstens sagen, daß
Schallwellen einen Organismus insofern irritieren können, als daß
sie durch das Gehör eines Zuhörers Zustandsänderungen im Nervensystem
des Zuhörers erzeugen können, die dieser als „Sprache“,
„Geräusche“ etc. interpretiert. Er hört damit nicht die
Sprache (oder Information) selbst, sondern die Klick-Klicks seiner Nervenzellen,
die sein Hirn als „Sprache“ oder „Kommunikation“ errechnet.

Sprache und soziales Verhalten

Was heißt „Sprache“?

Bisher wurde Sprache als ein denotatives Symbolsystem für Informationsübertragung
aufgefaßt. Denotativ bedeutet hier, daß der Sprecher auf selbständige Merkmale
der Umwelt hinweist, auf eine „wirkliche Wirklichkeit“. Jetzt aber soll klar
gemacht werden, daß Sprache die Dinge immer nur aus der Sicht eines Beobachters
beschreibt (konnotativ). Denn sprachliche Äußerungen können ein anderes Nervensystem
nur irritieren, aber niemals direkt beeinflussen.

telefonierenWenn
Sie mit jemandem sprechen, dann können Sie ihn nur auf Interaktionen innerhalb
seines kognitiven Bereiches hinweisen. Es ist dem Orientierten überlassen, wohin
er (durch selbständige interne Einwirkung auf seinen eigenen Zustand) seinen
kognitiven Bereich verändert. Seine Wahl wird zwar durch die „Botschaft“
verursacht, aber die erzeugte Orientierung ist unabhängig von dem, was diese
„Botschaft“‚ für den Orientierenden bedeutet.

Einfacher ausgedrückt: Ein Zuhörer kann das Gesagte nur auf dem Hintergrund
von dem verstehen, was er gelernt und erlebt hat. Und das ist bei jedem Menschen
unterschiedlich. Jedes Wort im Modell der Welt eines Menschen ist auf einzigartige
Weise mit anderen Worten, Bildern, etc. vernetzt. Das ist aber nicht alles.

Jedes Wort oder Bild entspricht einem Zustand eines Teils des Nervensystems,
an dem unzählige Nervenzellen auf einzigartige Weise beteiligt sind. In der
alltäglichen Sprechweise wird oft von „Übertragung von Informationen“ geredet.
Der Grund dafür ist, daß der Sprecher stillschweigend voraussetzt, der Hörer
sei mit ihm selbst identisch und besitze folglich den gleichen kognitiven Bereich
(was nie der Fall ist!). Das Ergebnis ist sich zu wundern, wenn „Mißverständnisse“
entstehen.
Sprache kann sich im Laufe der Ontogenese nur entwickeln, wenn Lebewesen mit
ähnlicher Nische zusammen interagieren. Sprache ist ein soziales Phänomen.
Das widerspricht dem vorhergehenden Absatz aber keineswegs.

Was heißt „soziales Verhalten“?

Soziales Verhalten basiert auf Kooperation, nicht auf Kampf. Soziales Verhalten
ist die Basis, auf der Sprache überhaupt erst möglich wird. Maturana
meint: „Und es gibt keinen gesunden Wettbewerb, weil die Negation (ignorieren)
des anderen schließlich auch die eigene Negation einschließt, und
weil die Forderung das durchzusetzen, was man negiert, zu Widersprüchen
führt.“

Sprache und Kultur können nur zusammen mit anderen erschaffen werden. Die gemeinsame
Realität, welche man sich aufbaut, hilft über die Einsamkeit des Organismus
hinweg. Biologisch gesehen lebt der Organismus in seiner einzigartigen, selbstreferenziellen
Welt.

Gedächtnis und Lernen

Der Organismus lebt in einem fortwährenden Entwicklungsprozeß. Diesen
Prozeß der Veränderung des Verhaltens durch Erfahrung nennen wir
„lernen“. Lernen erscheint als eine endlose Abfolge von Interaktionen
mit unabhängigen Gegenständen. Für das System selbst ist es aber
nur ein Interagieren mit internen Zuständen, denn das Nervensystem
ist operational geschlossen.

GedächtnisDas
gelernte Verhalten eines Organismus scheint für einen Beobachter durch die Vergangenheit
gerechtfertigt. Aber das System selbst arbeitet nur in der Gegenwart.

Warum scheint es ein Gedächtnis zu geben, was läuft da ab?

Sie werden gefragt: „Was geschah gestern um 10.00h?“ Ihnen scheint es, als
ob Sie eine Erinnerung abrufen und sie beschreiben. Vom biologischem Standpunkt
aus gesehen passiert aber etwas völlig anderes: Ihr Gehirn hat momentan eine
bestimmte Struktur. Die Frage strebt, wenn Ihre Gehirnstruktur es erlaubt, einen
Veränderungsprozeß an. Der Startpunkt für diese Veränderung ist Ihre momentane
Gehirnstruktur. Diese Struktur legt fest in welche Richtungen sich die Struktur
überhaupt verändern kann.

Beispiel: Eine Tür ist so strukturiert, daß sie an einer Seite ein
Scharnier hat. Durch diese Struktur ist festgelegt, in welche Richtung sich
die Tür überhaupt öffnen kann. Ein Anstoß an der verkehrten
Seite der Tür bewirkt gar nichts. Der Veränderungsprozeß kann
so kompliziert und verzwickt sein, daß er die Illusion erzeugt „ich
erinnere mich“. Um beim Beispiel mit der Tür zu bleiben: Ob die Tür
beim aufmachen nun quietscht oder nicht, sie verändert beim Aufmachen nur
ihre Struktur. Das Quietschen entspricht dem Erinnern.

Maturana sagt: „Was der Beobachter „Erinnerung“ und „Gedächtnis“
nennt ist kein Prozeß, durch welchen der Organismus jede neue Erfahrung
mit einer gespeicherten Repräsentation der Nische konfrontiert bevor er
eine Entscheidung trifft.“ Diese Wörter müssen Ausdruck für
ein sich veränderndes System sein, das bereit ist, ein für seinen
gegenwärtigen Aktivitätszustand relevantes neues Verhalten zu erzeugen.
Dabei ergibt sich das jeweils gegenwärtige Verhalten aus der Transformation
eines vergangenen Verhaltens.“

Wenn also ein Organismus anders handelt als zu einem vorherigem Zeitpunkt,
dann nur aus dem Grund, weil seine Struktur sich aufgrund der Interaktion geändert
hat. Seine
gegenwärtige Struktur ist jetzt anders und läßt den Organismus anders
handeln. Das System funktioniert in der Gegenwart. Sobald dieses System sich
aber sprachlich äußert, erzeugen seine Beschreibungen (Sprache) die Zeit.

Jede Interaktion, welche von dem Gefühl der Angst begleitet ist, erscheint
neu. Jede Interaktion, welche nicht von Angst begleitet ist, erscheint bekannt,
alt oder erinnert. Damit ist der Anfang einer zeitlichen Anordnung gemacht.
Es entsteht eine lineare (aufeinanderfolgende) Ordnung von Erfahrungen.

Der Beobachter

„Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“
Maturana

Ein
Beobachter ist ein menschliches Wesen mit einem einzigartigen Beobachtungsstandpunkt.
Auch Sie betrachten die Welt aus einer Perspektive, die kein anderer wahrnehmen
kann.

Sie haben bestimmte Erfahrungen in Ihrem Leben gemacht und Sie sind durch
eine bestimmte Erziehung und Kultur geprägt worden. Damit haben Sie sich ein
Bild von der Welt geschaffen, welches nur Sie in dieser Form besitzen.

BeobachterFür einen Beobachter ist ein Gegenstand nur dann ein Gegenstand, wenn er ihn
beschreiben kann. Beschreiben können Sie einen Gegenstand nur, wenn es
noch einen zweiten Gegenstand gibt, von dem Sie diesen unterscheiden können.
Dieser zweite Gegenstand können auch Sie selbst sein. (Letztendlich vergleichen
Sie einen Gegenstand immer mit sich selbst.) Ein Beobachter kann einen Gegenstand
beschreiben, indem er angibt, was man (er selbst oder andere) mit diesem tun
kann.

Beispiel: „Spinat kann man essen.“ – „Ein Buch kann man lesen
oder es auch nur zur Zier in das Regal stellen“.

Also kann auch der Beobachter sich selbst als einen Gegenstand beschreiben,
indem er angibt was er selbst zu tun fähig ist.

Beispiel: „Ich bin Sabrina, die gerade einen Kurs schreibt.“

Was kann der Beobachter noch?

  • Er kann stets ein Beobachter seiner Handlungen sein. Diese Handlungen kann
    er als selbständige Gegenstände behandeln. Beispiel: „Mein
    Putzfimmel“
  • Ein Beobachter kann sich fragen wie genau er beobachtet und Beobachtungen
    darüber anstellen. Beispiel: Diese Ausarbeitung
  • Der Beobachter kann sagen: „Ich habe ein selbstreferenzielles Nervensystem.“
    – habe es scließlich so beobachtet.

Wichtig ist hier festzuhalten, daß ein Beobachter nie die „Wahrheit“
beobachten kann – er beobachtet sich im Grunde ja nur ständig selbst. Aber
er kann Erfahrungen sammeln, welches Verhalten er als „erfolgreich“
beurteilt und damit seinen Interaktionsbereich erweitern.

Folgerungen

Wir sind in diesem Kurs kreisförmig vorgegangen. Wir haben angefangen
über den Beobachter zu reden und sind am Ende wieder beim Beobachter angekommen.
Im Verlauf dieses Weges stellten wir in einer zusammengefaßten Form das
Erklärungssystem Maturanas dar. Sein Erklärungssystem bezieht sich
nicht nur auf biologische Prozesse, sondern ist gleichzeitig eine Erkenntnistheorie.
Sie zeigt, wie das Erkennen die Erklärung des Erkennens erzeugt.

Üblicherweise geht man davon aus, daß das Phänomen des Erklärens und das erklärte
Phänomen verschiedenen Bereichen angehören. Zu erkennen wie wir erkennen, beginnt
nicht an einem festen Ausgangspunkt und schreitet von dort mit einer linearen
Erklärung fort, bis schließlich alles erklärt ist. Maturanas Betrachtungsweise
versetzt uns in eine ungewohnte kreisförmige Situation, bei der einem ganz schwindelig
werden kann. Wir haben keinen festen Bezugspunkt mehr, an dem wir unsere Beschreibungen
der Welt verankern und in Bezug auf ihre Gültigkeit behaupten oder verteidigen
könnten.

Es wurde (hoffentlich) offensichtlich, daß kein Mensch aus seinem Kreis, seinem
kognitiven Bereich, heraustreten kann. Durch diese ständige Rekursivität verbirgt
jene hervorgebrachte Welt ihre Ursprünge. Wir setzen keine objektive, von dem
Beobachter unabhängige Welt mehr voraus, sondern behaupten, daß alles relativ
und alles möglich ist, da es keine Gesetzmäßigkeiten gibt. Alles Gesagte ist
von einem Beobachter gesagt. Warum erscheint uns die Welt mit all ihren Farben,
Formen, Gerüchen etc. trotzdem so regelmäßig und geordnet? All das sind offenbar
bewundernswerte Selbstschöpfungen unseres Nervensystem. Man hat Versuche gemacht,
die Beispiele dafür liefern, wann und wie solche Selbstschöpfungen zustande
kommen.

Ein Wort wird auf eine Endloskassette aufgenommen und immer wieder abgespielt.
Nach ca. 100 Umdrehungen des Endlosbandes fangen die Versuchspersonen an, andere
Wörter – als das auf der Kassette gesprochene – zu hören. Dabei kommen
sehr viele Wörter zustande. Manche haben kaum noch Ähnlichkeit mit
dem Wort auf der Kassette. Das erinnert an Leute, die im Rauschen eines Fernsehers
Stimmen hören.

Wenn der Leser diese Erkenntnisse ernst nimmt, dann wird er sich gezwungen
sehen, in allem was er tut, ob beim Sehen, Sprechen, Riechen, eine Welt zu sehen,
die er in Koexistenz mit anderen Menschen hervorbringt.

Mit Anderen…

Da wir diese Welt nur mit Anderen in einer Komplexität, die wir gewohnt sind
hervorbringen zu können, ist eine wichtige Folgerung. Gäbe es keine Kommunikation
zwischen Menschen, dann ließen sich derartig komplexe, auf Sprache gegründete
Modelle der Welt gar nicht erzeugen. Daraus schließt Maturana, daß Liebe und
Kooperation Verhaltensweisen sind, welche eine Grundlage für das „Mensch-sein“,
wie wir es kennen, sind. Das ist eine Erkenntnis, welche in unserer, auf Konkurrenzkampf
gegründete Gesellschaft in Vergessenheit geraten ist. Soziales Verhalten
ist auf Kooperation begründet.

Zu leugnen, daß die Liebe die Grundlage des Sozialen ist, und die ethischen
Folgerungen dieser Tatsache zu ignorieren, hieße, all das zu verkennen, was
unsere Geschichte als Lebewesen in mehr als 3,5 Milliarden Jahren aufgedeckt
hat. Somit lassen sich aus Maturanas Theorie auch grundlegende Überlegungen
für eine Theorie der Soziologie ableiten.

…eine Welt hervorbringen

Die Erkenntnis der Erkenntnis verpflichtet. Sie verpflichtet uns zu einer Haltung
ständiger Wachsamkeit gegenüber der Versuchung der Gewißheit. Sie verpflichtet
uns einzugestehen, daß unsere Gewißheiten keine Beweise der Wahrheit sind, daß
die Welt, die jederman sieht, nicht die Welt ist, sondern eine Welt, die wir
mit anderen hervorbringen. Sie verpflichtet uns zu sehen, daß die Welt sich
nur ändern wird, wenn wir anders leben. Sie verpflichtet uns, da wir wissen,
daß wir wissen, uns selbst und anderen gegenüber nicht mehr so tun zu können,
als wüßten wir nicht.

Wenn wir wissen, daß unsere Welt notwendig eine Welt ist, die wir mit anderen
hervorbringen, dann können wir im Falle eines Konfliktes mit einem anderen Wesen,
mit dem wir weiter koexistieren wollen, nicht auf dem beharren, was für uns
gewiß ist (auf einer absoluten Wahrheit), da dies die andere Person negieren
würde.
Wollen wir mit einer anderen Person koexistieren, müssen wir sehen, daß ihre
Gewißheit – so wenig wünschenswert sie auch erscheinen mag – genau so legitim
und gültig ist wie unsere. Die einzige Chance für eine Koexistenz ist also die
Suche nach einer umfassenderen Perspektive, einem Existenzbereich, in dem beide
Parteien in der Hervorbringung einer gemeinsamen Welt zusammenfinden. Diese
Erkenntnisse lassen sich auf Politik, Familienangelegenheiten, Bekehrungsversuche
der Christen mit ihrer Wahrheit bei Eingeborenen im Urwald, in der Schule und
vielem mehr anwenden.

Über die eigene Verantwortung …

Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal das Experiment mit dem Blinden Fleck:
Wir sehen nicht was wir nicht sehen, und was wir nicht sehen, existiert für
uns nicht. Indem wir existieren, erzeugen wir „blinde Flecken“, die nur beseitigt
werden können, indem wir neue blinde Flecken in anderen Bereichen erzeugen.
Wenn wir uns dessen bewußt sind und zusätzlich, daß es keine objektiven Wahrheiten
geben kann, dann sind wir anderen Menschen, Meinungen, Sichtweisen, Glaubenssystemen
gegenüber viel offener und aufnahmebereiter. Außerdem minimieren wir das Risiko,
uns von einem Glaubenssystem gefangen nehmen zu lassen, sei es das wissenschaftliche
oder das christliche oder irgend ein anderes. Denn wir erkennen, daß ihre Wahrheit
nur relative Gültigkeit hat. Daraus folgt messerscharf: Jeder Einzelne ist für
das verantwortlich, was er glaubt und tut und – den Konsequenzen, die sich daraus
ergeben.

Ein ganz wichtiges Beispiel aus der Kommunikation: Für Mißverständnisse
ist man immer selber verantwortlich. Kommunikation ist Orientierungsverhalten
und keine
Informationsübertragung. Der Orientierte versteht das Gesagte immer in Bezug
auf seinen Interaktionsbereich. Darum ist es oft angebracht, sich beim anderen
Feedback zu holen, ob man den anderen „richtig“ (wie man vorhatte) orientiert
hat.

Wenn jemand Sie nicht liebt oder nicht mag, dann können Sie sich fragen, wie
Sie ihm das mitgeteilt haben. Sie können sich dann fragen, wie Sie dem anderen
mitteilen können, daß er Sie liebt oder mag – und zwar auf eine Weise, die er
verstehen kann. Im Zweifelsfalle kann man die betreffende Person einfach fragen.
Wenn Sie die Verantwortung bei sich selbst suchen, dann haben Sie kaum mehr
Probleme mit anderen Menschen. Sie brauchen sich nicht mehr über die Untaten
der Anderen aufzuregen. Sie selbst haben zu der Erzeugung der Situation beigetragen
und können das auch in Zukunft ändern, wenn Sie es wünschen. Möglicherweise
können andere Menschen die blinden Flecke im eigenen kognitiven Bereich am Verhalten
erkennen und darauf hinweisen. Das setzt voraus, daß man akzeptiert, daß man
selber nicht sieht, was man nicht sieht.

Nun, wie man sich einen fröhlichen und praktischen, erfolgreichen kognitiven
Bereich erzeugen kann, ist nicht Thema dieser Abhandlung. Hier geht es nur um
die grundsätzlichen Überlegungen. Wir möchten hier mit einem
Zitat von Seth enden, um gleich einen Hinweis auf, weiterführende Überlegungen
zu geben:

„Die regenerierendste aller Ideen – und der größte Schritt
auf jede echte Erleuchtung zu, ist die Erkenntnis, daß euer äußeres
Leben der unsichtbaren Welt eurer bewußt gehegten Glaubenssätzte
entspringt. Ihr habt dann die Wahl. Aber ihr könnt Euch dann nicht mehr als ein Opfer äußerer Umstände vorkommen.“

Anhang – Theorie Nervenzellen

Anmerkung des Autors: Dies ist ein Kapitel, was nicht notwendigerweise zum
Verständnis von Maturana gelesen werden muß. Es kann allerdings nützlich
sein, um sich ein besseres Bild des menschlichen Nervensystems zu machen.

Wie ist das Nervensystem aufgebaut?

Die Grundlage aller psychischen Prozesse liegt in der Nervenzelle. Für das
gesamte psychische Geschehen ist ein Netz von mehreren Milliarden solcher Zellen
notwendig. Es sind etwa 12 Milliarden, im Kortex (Hirnrinde) allein etwa 9 Milliarden.
Der übrige Teil der Zellen zieht entweder von den Sinneszellen aufwärts bis
zum Kortex, wo die Botschaft von außen verarbeitet wird, oder vom Verarbeitungszentrum
abwärts zu den Muskeln und Drüsen. Das Ganze ist ein ungemein wohlgeordnetes
System von Leitungen und Speicherplätzen, das den Gesamtorganismus koordiniert.

Eine Nervenzelle (Ganglienzelle, Neuron) besteht aus drei Teilen:

  • Zellkörper
  • Neurit und
  • Dendriten.

Der Neurit und die Dendriten sind die Ausläufer der Zelle. Jedes Neuron hat
einen Neuriten und mehrere Dendriten, die sich wie Äste eines Baumes verzweigen.
Bei dieser Verästelung können sich die Fortsätze einer Zelle mit denen anderer
Neuronen stark verflechten, es kommt dabei aber zu keiner direkten Verschmelzung.
Der Neurit (Axon) ist die motorische Nervenfaser. Sie kann bis über einen
Meter lang sein. Der Neurit ist beim Austritt noch sehr dünn. Im weiteren
Verlauf ist er von einer relativ starken fettigen Schicht umgeben, die Markscheide.
Die Stärke dieser Markscheide hängt mit der Geschwindigkeit der Erregungsleitung
zusammen: je dicker die Markscheide, desto schneller die Erregungsleitung.

Die Markscheide ist in regelmäßigen Abständen unterbrochen.
Diese Unterbrechungen nennt man Ranviersche Schnürringe. Die Erregung in
den Fasern geschieht nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft von Schnürring
zu Schnürring. Diesen Vorgang nennt man saltatorische Erregungsleitung.
Das Zwischenstück (Internodium) wird durch die Markscheide isoliert. An
der Peripherie verästelt sich der Neurit. Kurz davor geht auch die Markscheide
verloren.

Am Ende dieser verästelten Fasern kommt es zu Verdickungen, den Endknöpfen.
Die Endknöpfe, die man als Sender einer Nervenzelle bezeichnen kann, stehen
wiederum mit dem Empfangsorgan anderer Nervenzellen in Verbindung. Die Dendriten
sind die zahlreichen kürzeren (fast immer weniger als einen Millimeter)
Fortsätze der Nervenzelle und bilden gemeinsam mit dem Zellkörper
den Empfänger. Sie stehen mit den Endknöpfen der Neuriten anderer
Neuronen in Verbindung. Die Verbindungsstelle von zwei Nervenzellen, in denen
der Erregungsfluß von der einen Nervenzelle auf die andere übertragen
wird, nennt man Synapsen.

Was sind Rezeptoren?

Die Ganglienzelle dient der Weiterleitung des elektrochemischen Erregungsprozesses,
wobei es gleichgültig ist, ob es sich um eine sensorische oder motorische
Leitung handelt. Bei sensorischen Einheiten wird der Erregungsstrom zum Zentrum
– z.B. den diversen Projektionszentren – geleitet, bei motorischen Einheiten
fließt die Erregung zum ausführenden Körperorgan.

Rein sensorische Zellen sind die Sinneszellen (Rezeptoren) in den verschiedenen
Sinnesorganen. Sie sind praktisch die Empfangs- und erste Filterstation für
von außen auf den Organismus eintreffende Reize. In ihnen wird der Reiz,
welcher Modalität er auch immer ist, in einen elektromechanischen Erregungsstrom
umgewandelt und zum Zentrum weitergeleitet.

Bei der Umwandlung der verschiedenen Reize dient die Rezeptorzelle als Transformator.
Die Reize werden im Rezeptor in elektrische Signale verschlüsselt (codiert),
die abhängig von der Stärke des Reizes in verschieden hoher Frequenz
auftreten. Die Anzahl der Signale pro Zeiteinheit läßt sich noch
durch Einbeziehung von benachbarten Rezeptorzellen verstärken.

Bei der Umwandlung wird zuerst innerhalb des Rezeptors an der Membran ein lokales
Potential – das Generatorpotential – ausgelöst, das in seiner Amplitude
von der Reizstärke abhängig ist. Übersteigt die Amplitude des
Generatorpotentials einen bestimmten Schwellwert, dann kommt es zu der Signalfolge;
erreicht sie den Signalwert nicht, so bleibt die Signalfolge aus. Je größer
die Reizstärke bzw. die Amplitude des Generatorpotentials ist, desto höher
ist die Frequenz der nun folgenden Aktionspotentiale. Die Energie, die zu diesem
Umwandlungsprozeß notwendig ist, stammt nicht vom Reiz, sondern kommt
direkt aus dem Rezeptor, der dabei ununterbrochen aufgeladen werden muß.

Was sind Effektoren?

Die absteigenden motorischen Zellen führen letztendlich zu den Ausführungsorganen.
Prinzipiell gibt es zwei Grundtypen von Effektoren: Drüsen und Muskeln.
Drüsen sind dabei für interne, Muskeln für die externe Organisation
verantwortlich. Die Funktion von Drüsen liegt dabei in der Sekretion lebensnotwendiger
chemischer Substanzen.

Bei der Erregungsübertragung schließt das motorische Neuron nicht direkt an
den Muskel an. Die Nervenfaser spaltet sich in mehrere Äste auf und enerviert
(entnerven, med.: operativ von einem Nerv befreien) mit jedem Ast eine Muskelfaser.
All die von einer einzigen Nervenfaser erregten Muskelfasern bilden eine motorische
Einheit. Der Ast der Nervenfaser endet an einer Endplatte, die sich zwischen
Nervenfaser und Muskelfaser befindet. Die Endplatte bildet somit eine Synapse
zwischen Neuron und Effektor. Beide sind durch einen synaptischen Spalt voneinander
getrennt.

Nervenzellen

Die Neuronen haben sich auf die „Informationsübertragung“ untereinander
mittels langer Fasern spezialisiert, die aus dem Zellkörper herauswachsen.
Es gibt nur eine Faser – das Axon (griech.: Achse) -, die Informationen an andere
Zellen übermitteln kann. Alle anderen Fasern, die vom Körper der Nervenzelle
ausgehen, sind Dendriten (griech.: Baum), die Informationen von den Axonen anderer
Nervenzellen entgegennehmen.

Nervenzellen verwenden zwei verschiedene „Sprachen“:

1. Nervenimpuls (Aktionspotential)

Dieses Signal entwickelt sich an der Stelle des Axons, an dem es aus dem
Zellkörper austritt und pflanzt sich entlang des Axons bis zur Nervenendigung
fort. Wenn es die Endungen des Axons erreicht, welche die Synapsen mit anderen
Neuronen bilden, erlischt das Aktionspotential. Es hat seine Schuldigkeit
getan, denn wenn es an einer Endung eintrifft, löst es einen ganz anderen
Prozeß aus: die Informationsübertragung über die Synapse hinweg
auf das Zielneuron, das die Information entgegennimmt.

Der Nervenimpuls funktioniert nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip. Er entwickelt
seine volle Kraft vom Anfang bis zum Ende. Mit Ausnahme der Geschwindigkeit
ist er in allen Axonen gleich. Wie schnell er sich im Axon fortpflanzt, hängt
von der Größe und anderen Eigenschaften des Axons ab – die Geschwindigkeit
kann zwischen 1 und 250 km/h liegen.

2. Synaptische Übertragung

Dieser Prozeß beruht auf der Freisetzung von chemischen .Transmittermolekülen aus Vesikeln in der vorsynaptischen Endung und auf dem Festsetzen dieser Moleküle an den chemischen Rezeptormolekülen in der Membran der Zielzelle. Das Ausmaß der synaptischen Wirkung hängt von vielen Faktoren ab, u.a. von der Zahl der freigesetzten chemischen Moleküle und der Zahl der Synapsen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt von einem Neuron aktiviert werden.
Jede Nervenzelle ist wie ein Computer, der zugleich digital (Nervenimpuls)
und analog (Synaptische Übertragung) arbeitet. Was für ein Geschöpf wir sind,
hängt von der Zahl der Neuronen und ihrer Verknüpfungen ab.

Anhang – Theorie Nervenimpuls

Wie funktioniert ein Nervenimpuls?

Die besonderen Eigenschaften, die es dem Neuron gestatten, Informationen an
andere Zellen zu übermitteln, sind in der Zellmembran enthalten. Der Nervenimpuls
ist die Bewegung chemischer Teilchen durch die Axonmembran, und das nur in dem
kleinen Abschnitt des Axons, wo sich der Nervenimpuls zu einem gegebenen Zeitpunkt
befindet. Das wichtigste chemische Teilchen, das beim Nervenimpuls die Axonmembran
durchquert, ist das Natriumatom, allerdings als geladenes Atom, als Ion.

Das Axon kann man sich als lange dünne Röhre vorstellen, die von
der Nervenzellmembran umschlossen ist. Innerhalb der Membran ist die innere
Substanz des
Axons, außerhalb der Membran die extrazelluläre Flüssigkeit, die Gewebsflüssigkeit.
Innere Substanz (enthält z.B. viele Proteinmoleküle & wenig Natrium) und äußere
Flüssigkeit (wenig Protein, viel Natrium) haben sehr unterschiedliche chemische
Zusammensetzungen. Wichtigstes Ereignis beim Nervenimpuls ist die Bewegung von
Natriummolekülen durch die Zellmembran von außen nach innen. Sie dringen durch
die kleinen Kanäle in die Membran ein. Diese Natriumkanäle sind normalerweise
geschlossen, doch wenn der Nervenimpuls entsteht, springen sie kurzfristig auf
und lassen das Natrium herein.

Nervenzellen erzeugen elektrische Ströme (Gehirnaktivität läßt
sich durch Kontakte an der Kopfhaut aufzeichnen). Bei den Natriumteilchen, die
während des Aktionspotentials die Axonmembran von außen nach ihnen
durchqueren, handelt es sich um Ionen (Teilchen mit elektrischer Ladung). Kochsalz
besteht aus Natrium- und Chloridionen. Wenn man Salz in Wasser auflöst,
befinden sich dort die Natrium- und Chloridionen mit einer bestimmten elektrischen
Ladung. Natriumionen haben eine Ladung von +1 und die Chloridionen eine Ladung
von -1. Atome bestehen aus einem Kern mit positiv geladenen Protonen (sowie
Neutronen ohne Ladung) und einer „Schale“ aus negativ geladenen Elektronen.
Innerste Schale = 2 Elektronen, alle äußeren = 8 Elektronen.

Beim Natrium sind im Kern genauso viele Protonen wie in der Schale Elektronen
sind, es ist elektrisch neutral. Natrium ist ein hochgiftiges, explosives silberfarbenes
Metall. Besonders heftig reagiert es mit Wasser: Taucht man ein Stück Natrium
in Wasser, so entflammt es sich und explodiert.

Das Element Chlor ist ein giftiges grünes Gas. Es ist genauso wie Natrium elektrisch
neutral, aber sehr reaktionsfähig. Am stabilsten sind Atome, wenn die äußerste
Schale vollständig ist. Am reaktionsfähigsten sind Atome, wenn sie nur ein Elektron
in der äußeren Schale haben (weil sie bestrebt sind, es abzugeben) oder wenn
ihnen nur eines in der äußeren Schale fehlt (weil sie bestrebt sind es sich
von anderen Atomen zu holen).

Natrium hat nur ein Elektron in der äußeren Schale, Chlor dagegen
sieben. Wenn man Natrium und Chlor zusammenbringt, reagieren sie sofort und
heftig miteinander. Sie vervollständigen sich gegenseitig, das Ergebnis
ist Kochsalz! Sie sind Ionen geworden (Natrium +1, Chlor -1). Natriumchlorid.

In Wasser gelöste Stoffe haben in der Regel Ionenform, also elektrische
Ladungen. Nur einige wenige kleine Ionen – Natrium, Chlorid, Kalium und Kalzium
– sind an der Aktivität der Neuronen beteiligt. Proteinmoleküle, die
großen aus Aminosäuren bestehenden Moleküle, die der Stoff des
Lebens sind, kommen hauptsächlich innerhalb der Körperzellen, auch
der Nervenzellen, vor, seltener außerhalb der Zellen im Blut oder in anderen
Körperflüssigkeiten.

In Wasser gelöst besitzen Proteine gewöhnlich ionische Form und sind
negativ geladen, wie Chloridionen. Folglich gibt es sehr viel mehr negative
Ladungen innerhalb der Nervenzellen als außerhalb. Deshalb liegt ein Spannungsunterschied
zwischen den beiden Seiten der Nervenzellmembran vor – das innere Milieu ist
im Verhältnis zum äußeren negativ. Dieses Spannungsgefälle
ist erstaunlich hoch, nahezu ein Zehntel Volt. Wenn wir einige Nervenzellen
entsprechend hintereinanderschalten könnten, würden wir mit ihnen
– obwohl sie doch so winzig sind – soviel Spannung erzeugen wie eine Taschenlampenbatterie.

Das ist nicht nur eine theoretische Spekulation: Der Zitteraal kann einige
Hundert Volt erzeugen, die ausreichen um einen Beutefisch zu töten, weil er
spezialisierte Nervenzellen besitzt, die in genau dieser Weise hintereinandergeschaltet
sind. Es ist durchaus möglich, daß der Mechanismus, dessen sich in diesem
Beispiel Zellen zur Erzeugung von Elektrizität bedienen, eines Tages wirtschaftlich
genutzt wird.

Der Nervenimpuls ist also ein Prozeß, der in erster Linie auf Natriumionen
beruht, die eine positive elektrische Ladung haben. Wenn sich eine Nervenzelle
im Ruhestand befindet, sind fast alle Natriumionen außerhalb der Zelle.
Wegen der Proteinmoleküle ist das Zellinnere im Verhältnis zum äußeren
Milieu negativ, so daß es eine sehr starke elektrische Kraft gibt, die
bestrebt ist, die Natriumionen in die Zelle zu ziehen. Die Nervenzellmembran
durchziehen Natriumkanäle, Löcher, durch die die Natriumionen hindurchschlüpfen
können.

Im Ruhezustand sind diese Kanäle durch Tore verschlossen, so daß
die Natriumionen nicht ins Zellinnere gelangen können. Doch wenn sich der
Nervenimpuls an einer bestimmten Stelle des Axons entwickelt, springen die Tore
der Natriumkanäle in diesem Bereich für einen sehr kurzen Zeitraum
auf, und die Natriumionen strömen herein. An dieser Stelle wechselt die
Spannung an der Innenseite der Membran von negativ zu positiv, weil die Natriumionen
positive Ladungen haben, die sie nach innen bringen. Dies ist der Nervenimpuls
– ein kurzer örtlicher Einbruch positiv geladener Natriumionen.

Wenn der Nervenimpuls an einer bestimmten Stelle der Axonmembran eintrifft
(und er erfaßt an dieser Stelle die gesamte Axonmembran), springen in
der Nachbarschaft die geschlossenen Pforten der Natriumkanäle, die wie
spannungsabhängige elektrische Schalter funktionieren, kurzfristig auf,
so daß der Nervenimpuls ein Stück weiter gelangt. So wandert der
Nervenimpuls das Axon entlang.

Wenn sich die Membranspannung nur geringfügig verändert, so daß das Innere
ein bißchen positiver wird und über dem normalen negativen Wert des Ruhezustandes
liegt, werden die „Schalter“ der geschlossenen Natriumpforten ausgelöst, und
die Pforten springen auf. Sie werden also elektrisch gesteuert und haben einen
Schwellen- oder Auslösewert, der schon durch eine leichte Verminderung der negativen
Spannung des Ruhepotentials an der Innenseite der Membran erreicht wird. Wenn
an der Innenseite der Membran diese Schwellenspannung eintritt, werden die Natriumschalter
betätigt. Sie öffnen sich nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip und erzeugen das
Aktionspotential.

An der Stelle, wo der Nervenimpuls auftritt, strömem positiv geladene Natriumionen
ins Innere. Sie sammeln sich innerhalb der Axonenmembran, unterhalb der benachbarten,
noch geschlossenen Pforten, wodurch das Potential an dieser Stelle innerhalb
der Membran ein bißchen positiver wird. Und dies veranlaßt die geschlossenen
Natriumpforten, sich dort zu öffnen.

Unter normalen Bedingungen beginnt das Aktionspotential seinen Weg an der Stelle,
wo das Axon aus dem Zellkörper austritt, und pflanzt sich im Axon fort
bis zu dessen synoptischen Endungen. Aber wie fängt der Nervenimpuls an?

Die Dendriten empfangen über die Synapse von anderen Axonen chemische
Substanzen, die zu kleinen Veränderungen des elektrischen Potentials an
der Zellmembran führen. Der Zellkörper und die Dendriten besitzen
in der Regel keine spannungsgesteuerten Natriumkanäle wie das Axon. Wenn
also das Membranpotential des Zellkörpers um einen bestimmten positiven
Betrag vom Wert des Ruhezustandes abweicht, beginnen die nächstgelegenen
Natriumkanäle aufzuspringen, und das sind diejenigen, die sich am Axonansatz
befinden.

Sobald der Impuls die Endung erreicht, löst er den Prozeß der synaptischen
Übertragung aus. Wenn sich die Transmittermoleküle an den Rezeptormolekülen
festsetzen, rufen die aktivierten Rezeptormoleküle Veränderungen in der Zellmembran
hervor, die ihrerseits zu Erregung (Exzitation – die Synapse läßt das Membranpotential
im Inneren auf einen etwas positiveren Wert ansteigen) oder Hemmung (Inhibition
– die Spannung im Inneren der Zellmembran wird negativer, so daß der Schwellenwert
für die Auslösung des Nervenimpulses unerreichbar wird) führen.

Meist bewirken inhibitorische Synapsen dies durch kurzfristige Öffnung
von Chloridkanälen in der Zellmembran. Chloridionen befinden sich vor allem
im äußeren Milieu und haben negative Ladungen. Wenn sie durch die
Membran ins Innere gelangen, lassen sie die Membran im Inneren noch negativer
werden als im Ruhezustand. Diese beiden Prozesse sind die grundlegenden Wirkungen
der Synapsen auf den Nervenimpuls.

Sabrina Ulbrich