Gustave Flaubert (1821-1880) gilt als „Überwinder der Romantik und Begründer des Realismus in Frankreich.“ Er „schrieb seine Werke mit geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit“ (MEL 9/33). Fragt man sich, was er mit ihnen sagen wollte, kommt nichts dabei heraus. Man kann autobiographische Momente feststellen, man kann überlegen, mit welchen Romanfiguren er sich identifizierte, doch eine dahinterstehende Botschaft kann ich nicht erkennen.
Jean-Paul Sartre charakterisierte Flaubert auf 3363 Seiten als Neurotiker unter Neurotikern, nämlich seinen Lesern. Doch ein Mensch ist mehr als seine Krankheit. Wer sich auf diese fokussiert, schreibt an jenem vorbei.
In seinen Reisetagebüchern erfahren wir etwas über Flauberts Verhältnis zur Wirklichkeit und deren Bewältigung durch das Schreiben:
„Es gibt nichts Ermüdenderes, als beständig über seine Reise zu berichten und jeden leisesten Eindruck aufzuzeichnen; dadurch, dass man alles von sich gibt und in Form bringt, bleibt nichts mehr im eigenen Innern; jedes Gefühl, das wir wiedergeben, erleidet eine Schwächung im Herzen, und während man so jedes Bild zum zweiten Male erstehen lässt, ändern sich die ursprünglichen Farben auf der Leinwand, die sie empfangen hat“ (I 55).
„Es ist bequem, nur ein halbes Wissen zu besitzen; dann ist alles klar und verständlich. Tiefere Kenntnisse würden mir lästig sein; ich weiss gerade genug, um mit dem besten Glauben von der Welt Dummheiten zu sagen. Für mich ist es in den dunkelsten Winkeln tageshell, alles wird verständlich und fügt sich in mein System. Kaltblütig und mit bewundernswürdiger Ruhe lege ich Daten und Charaktere fest. Ich werfe ohne Umschweife aufs Papier, was ich aufgespürt habe, und philosophiere über Kunst, ohne ihre Grundelemente zu kennen“ (I 65).
Flaubert fragte sich, was Menschen, die lebenslang Geschichtsphilosophie studierten, „heute unter dem Worte verstehen, und ob sie sich wirklich selbst etwas dabei denken“ (I 103). Theorien stand er ablehnend gegenüber. Nachdem er die Meinungen einiger Gelehrter über die „Steine von Carnac“ (I 371) referiert hat, gibt er seine eigene Ansicht darüber zum besten: „die Steine von Carnac sind dicke Steine“ (I 373). Legenden gibt er kommentarlos wieder, auch wenn darin ein Drache (I 553) und Wunder vorkommen (III 67f und 379f).
Von Jerusalem war er enttäuscht: „Nun sind wir schon drei Tage in Jerusalem, und keine der erwarteten Empfindungen hat sich bei mir eingestellt: weder religiöse Begeisterung, noch Erregung der Phantasie, noch Hass auf die Priester, was immerhin etwas wäre. Bei allem, was ich sehe, komme ich mir leerer vor als ein hohles Fass. Heute morgen am Heiligen Grabe wäre tatsächlich ein Hund mehr gerührt gewesen als ich. Wer ist schuld daran, barmherziger Gott? Sie, du oder ich? Sie, wie mir scheint, dann ich, und besonders du. Aber wie unecht das alles auch ist! Welche Lügen! Wie ist das übertüncht, verkleidet, überfirnisst; für die Ausbeutung, die Propaganda und den Handel berechnet! Jerusalem ist ein von Mauern eingefriedigtes Beinhaus“ (II 301).
Immerhin sehen wir aus der Passage, wie sensibel Flaubert war. An keiner Stelle der Tagebücher, soweit ich sie gelesen und nicht nur überblättert habe, kam ich übrigens auf den Gedanken, daß Flauberts Beziehung zur Wirklichkeit irgendwie durch eine Neurose gebrochen oder verstellt sei. Überblättert: Flauberts Tagebücher sind überwiegend langweilig und lohnen die Lektüre nicht (mit Ausnahme seines Reiseberichts über Ägypten).
Am ergiebigsten für jemand, der Flauberts Gedankenwelt kennenlernen will, sind seine Briefe. Hier finden wir seine Philosophie.
Ich beginne mit Flauberts Verhältnis zur Religion:
„… der Kern meines Glaubens ist, keinen zu haben. Ich glaube nicht einmal an mich; ich weiß nicht, ob ich dumm oder geistvoll bin, gut oder schlecht, geizig oder verschwenderisch. Ich treibe zwischen all dem umher wie jedermann. Mein Verdienst ist vielleicht, daß ich es merke, und mein Fehler, den Freimut zu haben, es auszusprechen“ (S. 88).
„Ich liebe das Leben durchaus nicht und habe auch keine Angst vor dem Tod. Die Hypothese vom absoluten Nichts hat nicht einmal etwas Erschreckendes für mich. Ich bin bereit, mich mit Gelassenheit in das große schwarze Loch zu stürzen.
Und doch zieht mich die Religion über alle Maßen an. Ich meine damit alle Religionen, nicht eine mehr als die andere. Jedes besondere Dogma stößt mich ab, aber ich betrachte das Gefühl, aus dem heraus sie geschaffen wurden, als das natürlichste und poetischste der Menschheit. Ich mag die Philosophen nicht im geringsten, die darin nur Gaukelei und Dummheit sehen. Ich entdecke darin Notwendigkeit und Instinkt“ (S. 371).
„Schreiben ist etwas Köstliches, nicht mehr man selbst zu sein, sondern in der ganzen Schöpfung kreisen, von der man spricht. Heute zum Beispiel bin ich als Mann und Frau zugleich, als Liebhaber und Geliebte an einem Herbstnachmittag unter den gelben Blättern durch einen Wald geritten, und ich war die Pferde, die Blätter, der Wind, die gesprochenen Worte und die rote Sonne, die sie ihre von Liebe getränkten Augenlider halb schließen ließ. Ist es Stolz oder Frömmigkeit, ist es das lächerliche Überströmen einer unmäßigen Selbstzufriedenheit? Oder ist es ein unbestimmter, edler, religiöser Instinkt? Aber wenn ich diese erfahrenen Freuden wiederkäue, bin ich versucht, ein Dankgebet an den lieben Gott zu richten, wenn ich wüßte, daß er mich hören kann“ (S. 303).
Über Reinkarnation: „Was ist das für eine Strafe, von der das bestrafte Wesen nichts weiß? Wenn wir uns an nichts aus den früheren Existenzen erinnern, warum uns dann dafür bestrafen? Was für eine Moral kann aus einer Strafe hervorgehen, deren Sinn wir nicht sehen?“ (S. 401) „Ich habe bestimmt zur Zeit Cäsars oder Neros in Rom gelebt“ (S. 68).
Über das Leid: „Es wird nicht an Sophisten fehlen, die uns beweisen, daß es nur besser sein wird und daß ‚das Unglück läutert‘. Nein, das Unglück macht egoistisch, bösartig und dumm“ (S. 586).
Über Politik und Gesellschaft: „Ich hasse jeden Despotismus. Ich bin ein besessener Liberaler. Deshalb erscheint mir der Sozialismus als eine pedantische Abscheulichkeit, die der Tod aller Künste und aller Moralität sein wird“ (S. 371). „Ich hasse alles, was obligatorisch ist, jedes Gesetz, jede Regierung, jede Regel. Wer bist du denn, O Gesellschaft, um mich zu irgend etwas zu zwingen? Welcher Gott hat dich zu meinem Herrn gemacht?“ (S. 379) „Der Neokatholizismus einerseits und der Sozialismus andererseits haben Frankreich verdummt. Alles geht zwischen der Unbefleckten Empfängnis und den Kochgeschirren zugrunde“ (S. 535f).
„Es ist der Haß, den man gegen den Beduinen hegt, gegen den Ketzer, gegen den Philosophen, gegen den Einsiedler, den Dichter, und in diesem Haß liegt Angst. Ich, der ich immer für die Minderheiten Partei ergreife, bin darüber erbittert. Allerdings erbittern mich sehr viele Dinge. An dem Tag, da ich nicht mehr entrüstet wäre, fiele ich zusammen wie eine Puppe, aus der man den Stab zieht“ (S. 520). „Axiome: / Ehren entehren. / Titel setzen herab. / Ein Amt verblödet“ (S. 680; vgl. S. 725).
Über die Freundschaft: „Sie sehen, daß ich Sie als Freund behandle, das heißt streng“ (S. 380). „Ich erlaube niemand, mir gegenüber von meinen Freunden mehr Schlechtes zu sagen, als ich ihnen selbst ins Gesicht sage. Und wenn ein Fremder das Maul aufmacht, um sie zu verleumden, so stopfe ich es ihm auf der Stelle. Das gegenteilige Verhalten ist sehr verbreitet, das weiß ich, aber zu meinen Gewohnheiten gehört es nicht“ (S. 389f).
„Denn es ist traurig, die Leute, die man liebt, sich verändern zu sehen. Dieses Auswechseln einer Seele durch eine andere in einem Körper, der mit dem, was er war, identisch bleibt, ist ein niederdrückendes Schauspiel. Man fühlt sich verraten! Ich habe das mehr als einmal durchgemacht“ (S. 535). Heute wird dieses Phänomen „MPS (Multiple Persönlichkeitsstörung)“ genannt (Huber 24).
„Nicht nach Opfern hungert das Herz, sondern nach Vertrauen. Ich möchte, daß man mich liebt, wie ich liebe, daß man weint, wie ich weine und um die gleichen Dinge, daß man fühlt, wie ich fühle, das ist alles. Es gibt nichts Nutzloseres als diese heroischen Freundschaften, die besondere Gelegenheiten brauchen, um sich zu beweisen. Das Schwierige ist, jemand zu finden, der einem nicht in allen Lebenslagen auf die Nerven fällt“ (S. 167).
Über Kunst: „Das Leben ist eine so häßliche Angelegenheit, daß das einzige Mittel, es zu ertragen, darin besteht, ihm aus dem Weg zu gehen. Und man geht ihm aus dem Weg, indem man in der Kunst lebt, in der unaufhörlichen Suche nach dem Wahren, das durch das Schöne wiedergegeben wird“ (S. 376f). „Kurz, das Leben geht mir herzlich auf die Nerven. Da hast Du mein Glaubensbekenntnis“ (S. 392). „Doch da ich überzeugt bin, daß man krank ist, sobald man über sich selbst nachdenkt, versuche ich, mich mit der Kunst trunken zu machen, wie es andere mit Branntwein tun“ (S. 383). „… der Künstler darf in seinem Werk nicht mehr sichtbar sein als Gott in der Natur“ (S. 645).
„Im übrigen dürfen Sie die innere Vision des Künstlers nicht mit der des wirklich halluzinierenden Menschen gleichsetzen. Ich kenne beide Zustände sehr genau. Zwischen ihnen liegt ein Abgrund. – In der eigentlichen Halluzination liegt immer Schrecken, man spürt, daß einem die eigene Persönlichkeit entgleitet, man glaubt, daß man sterben wird. In der dichterischen Vision dagegen liegt Freude. Es ist etwas, was in einen eintritt. – Trotzdem ist es wahr, daß man nicht mehr weiß, wo man sich befindet“ (S. 506).
Über Lektüre: „Du mußt Dir zur Gewohnheit machen, jeden Tag (wie ein Gebetbuch) etwas Gutes zu lesen. Mit der Zeit dringt das in uns ein“ (S. 259). „Nein, lesen Sie um zu leben. […] Und wenn Ihnen etwas schwerfällt, arbeiten Sie hartnäckig daran. Sie werden es bald begreifen. Das wird eine Befriedigung für Sie sein. Es geht darum, zu arbeiten, verstehen Sie?“ (S. 385) „Wenn man ein Buch begonnen hat, muß man es auf einmal verschlingen, das ist das einzige Mittel, das Ganze zu sehen und Gewinn daraus zu ziehen. Lerne, einen Gedanken zu verfolgen“ (S. 440).
Über Dichtung: „Der Dichter ist jetzt gehalten, Sympathie für alles und für alle zu empfinden, um sie zu begreifen und sie zu beschreiben. Es fehlt uns vor allem an Wissenschaft; wir plantschen in einer Barbarei von Wilden herum: die Philosophie, so wie sie betrieben wird, und die Religion, so wie sie fortbesteht, sind farbige Gläser, die verhindern, klar zu sehen, weil man 1. eine vorgefaßte Meinung hat; 2. sich über das Warum Gedanken macht, noch ehe man das Wie kennt, und 3. der Mensch alles auf sich bezieht“ (S. 402).
„Ich glaube nicht einmal, daß der Romancier seine Meinung über die Dinge dieser Welt ausdrücken soll. Er kann sie vermitteln, aber ich mag es nicht, wenn er sie sagt. (Das gehört zu meiner Poetik.) Ich beschränke mich also darauf, die Dinge so darzustellen, wie sie mir erscheinen, das auszudrücken, was ich für das Wahre halte. Die Folgen sind mir gleich“ (S. 533).
© Gunthard Rudolf Heller, 2017
Literaturverzeichnis
FLAUBERT, Gustave: Tagebücher – Gesamtausgabe in drei Bänden, besorgt von E. W. Fischer, Potsdam 1919/20
- Briefe, herausgegeben und übersetzt von Helmut Scheffel, Zürich 1977 (Auswahl)
HUBER, Michaela: Multiple Persönlichkeiten – Überlebende extremer Gewalt – Ein Handbuch, Frankfurt am Main 82002
MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81
SARTRE, Jean-Paul: Der Idiot der Familie – Gustave Flaubert 1821 bis 1857 (L’Idiot de la famille. Gustave Flaubert de 1821 à 1857, Paris 1972), Deutsch von Traugott König, 5 Bände, Reinbek bei Hamburg 1977-85