George Berkeleys Kampf gegen die Freidenker

Was George Berkeley (1685-1753) den Freidenkern anhing, ist nur zum Teil wahr. Er gab in seinem „Alciphron“ nicht nur tatsächliche Ansichten der Freidenker wieder, sondern unterschob ihnen auch allerlei. Um das irgendwie zu kaschieren, nannte er sie „Kleine Philosophen“.

1. Freidenker

Als „Freidenker“ (engl. freethinker) wurde Ende des 17. Jh.s jemand bezeichnet, „der sich gegen theologische und kirchliche Autorität auf die Selbständigkeit des Denkens in Glaubenssachen berief.“ Die Freidenker standen den Whigs nahe und setzten sich für Religionsfreiheit ein. Ihr Standpunkt galt als „Radikalisierung des Deismus“ (Jürgen Mittelstraß, in: EphW 1/674).

Thomas Hobbes (1588-1679), der aus politischen Gründen England 1640 verlassen mußte und nach Paris ins Exil ging, wurde nach der Veröffentlichung seines „Leviathan“ (1651) von König Karl I. aus der englischen Kolonie in Paris gewiesen. König Karl II. verweigerte seinem „Behemoth“ die Druckerlaubnis (vgl. meinen Aufsatz „Zur Entstehung der modernen Bibelkritik“).

Freidenker SpinozaBaruch Spinoza (1632-1677), der von der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wurde und die Bibel kritisierte, galt zu Unrecht als Atheist (vgl. meinen Aufsatz „Liebeserklärung an Spinoza – Einführung in seine Philosophie“).

1697 bezeichnete W. Molyneux John Toland (1670-1722) als „Freidenker“, der zehn Jahre zuvor vom Katholizismus zum Protestantismus übergetreten war. 1696 erschien sein Hauptwerk „Christentum ohne Geheimnis“(Christianity not Mysterious), in dem er die christliche Offenbarung in das naturwissenschaftliche Weltbild integrierte und als vernünftig hinstellte. Schon der Untertitel des Werks zeigt den Inhalt an: Or a Treatise Shewing, that there is nothing in the Gospel Contrary to Reason, nor Above it. And that no Christian Doctrine can be properly call’d a Mystery. 1720 veröffentlichte er sein „Pantheisticon“, in dem er für eine deistische Vernunftreligion eintrat. Seine späteren Werke tragen pantheistische Züge.

Anthony Ashley Cooper, 3. Earl of Shaftesbury (1671-1713) wurde von John Locke (1632-1704), der von B. Whichcote (1609-1683) begründeten platonistischen Schule von Cambridge und Pierre Bayle (1647-1706) beeinflußt. In seiner aufklärerischen Philosophie trennte er die Moral von der Religion ab. Er vertrat eine deistische Position und begann damit, den Begriff „Freidenker“ systematisch zu klären.

Anthony Collins (1676-1729), dessen A Discourse of Free-thinking. Occasion’d by the Rise and Growth of a Sect Call’d Free-Thinkers 1713 in London erschien, und die Wochenschrift The Freethinker (1718) trugen zur Verbreitung der Bezeichnung „Freidenker“ bei. Hinsichtlich der Erkenntnistheorie schloß sich Collins, selbst Deist und Freidenker, in seiner Erörterung über das freie Denken an Locke an, mit dem er befreundet war und 1703/04 Briefe gewechselt hatte.

1710 war Collins‘ Kirchenkritik unter dem Titel Priestcraft in Perfection anonym erschienen. 1724 veröffentlichte er ein bibelkritisches Werk: A discourse of the grounds and reasons of the Christian religion. In beiden Werken verwarf er die religiösen Dogmen und wollte den Glauben auf selbständigem Denken gründen.

In A Philosophical Inquiry concerning Human Liberty (1717) verteidigte Collins verschiedene Positionen des Determinismus.

Bernard de Mandeville (1670?-1733) zeichnete in The Fable of the Bees (1714) die Menschen als triebbestimmte, egoistische und auf Selbsterhaltung bedachte Wesen. „Der grundsätzliche Antagonismus zwischen Individuen und Klassen bleibt erhalten, verliert aber in einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft mit entwickeltem Bedürfnissystem insofern seine gesellschaftszerstörende Schärfe, als, in Analogie zur Lebensweise der Bienen, der Arme seinen Vorteil aus der Verschwendung des Reichen zieht, die ihm Arbeit und Brot sichert“ (Reiner Wimmer, in: EphW 2/755).

2. Berkeleys Bermuda-Projekt

Berkeley sah „die Gefahren für den Staat in mangelndem Arbeitseifer, der Förderung unproduktiver Tätigkeiten (des Spiels), im Luxus (vor allem der Kleidung) und in der antireligiösen Bewegung der Freidenker, durch die gerade die Denkfreiheit bedroht werde“ (Breidert 46).

Am 4. März 1723 schrieb er an den irischen Abgeordneten Sir John Percival (1683-1748), er wolle den Rest seines Lebens auf den Bermuda-Inseln verbringen, die damals eine der englischen Kolonien waren. Dort wollte er die Sitten der Engländer reformieren und die Indianer zum Christentum bekehren. Zu diesem Zweck wollte er für englische und indianische Jugendliche ein Priesterseminar gründen.

Eine Erbschaft bestärkte Berkeley in seinem Plan, der keine bloße Schwärmerei war. Er fand viele Anhänger und Geldgeber und durchdachte sein Vorhaben detailliert. Leider waren seine Informationen zum Teil falsch. „Das Unternehmen wurde öffentlich diskutiert. Der König gab seine Zustimmung zur Errichtung eines Colleges (‚St. Paul’s College“) auf den Bermudas, und BERKELEY sollte der erste Präsident desselben sein. Er hatte bereits einen Lageplan aller Gebäude auf dem zukünftigen Campus entworfen“ (Breidert 54).

1725 wurde klar, daß das Geld der privaten Spender nicht ausreichte. Berkeley bat um staatliche Unterstützung, die ihm vom Unterhaus auch zugesagt wurde. Auch die Schatzkammer stimmte zu, setzte aber keinen Auszahlungstermin fest.

Nachdem Berkeley zwei Jahre vergebens auf das Geld gewartet hatte, schiffte er sich 1728 mit seiner Frau Anne geb. Forster, einer kleinen Gruppe von Anhängern und 58 Kisten Gepäck ein, ohne daß das der Öffentlichkeit bekanntgegeben wurde. Statt zu den Bermuda-Inseln segelte er nach Newport auf Rhode Island. Denn 18 Monate nach dem Betreten der Bermudas würde er sein Dekanat in Londonderry verlieren. Drei Wochen nach seiner Ankunft zog er nach Middletown. Das Haus, in dem er wohnte, ist noch heute dort zu sehen. Er predigte, machte Ausflüge, arbeitete in der Landwirtschaft und schrieb.

1731 wurde ihm klar, daß er das Geld nicht bekommen würde. Dafür machte er die Freidenker verantwortlich. Am 2. März schrieb er an Percival:

„‚Was törichterweise ‚Freidenkertum‘ genannt wird, scheint mir die Hauptwurzel und Quelle nicht nur für die Opposition gegen unser College zu sein, sondern auch für die meisten Übel unserer Zeit. Und solange dieser Wahnsinn fortbesteht und sich ausbreitet, ist es vergeblich, auf irgendetwas Gutes im Mutterland oder den Kolonien, die immer den Moden des alten Englands folgen, zu hoffen. Es wurde mir glaubhaft berichtet, daß man eine große Menge jeder Art blasphemischer Bücher, die in London erschienen, nach Philadelphia, New York und andere Orte geschickt hat, wo sie Atheisten und Ungläubige in großer Zahl hervorbringen werden'“ (zit. n. Breidert 62f).

Im Oktober 1731 kehrte Berkeley nach England zurück. Im Gegensatz zur stürmischen Hinfahrt hatte er auf der Rückfahrt gutes Wetter. „Man hätte es als ein Zeichen des Himmels ansehen können“ (Breidert 64). Am 19. Mai 1734 wurde Berkeley zum Bischof von Cloyne (Südirland) geweiht.

3. Berkeleys „Alciphron“

In den sieben Dialogen des in Middletown auf Rhode Island verfaßten „Alciphron“ (1732) spielte Berkeley, der sich hinter Dion versteckt, auf verschiedene antike und zeitgenössische Persönlichkeiten an. Die Übersetzer entschlüsselten einige, wobei die Zuordnung aber nicht 1 : 1 aufgeht. Unter den Zeitgenossen waren Collins (Diagoras), Mandeville (Tryphon), Shaftesbury (ebenfalls Diagoras) und Toland. Wolfgang Breidert hält es „für bedauerlich, daß an manchen Stellen dieses Werkes immer noch sichere Quellenbelege und Deutungen der Anspielungen fehlen“ (Anm. 5, S. XII). Hobbes und Spinoza werden im „Alciphron“ namentlich genannt.

Der Untertitel zeigt die Stoßrichtung des Werks: „ALCIPHRON: oder der KLEINE PHILOSOPH. In SIEBEN DIALOGEN. Enthaltend eine APOLOGIE der CHRISTLICHEN RELIGION, gegen die sogenannten FREIDENKER“ (S. 1).

Die Namen der Dialogpartner:

  • Alciphron (v. griech. alkiphrōn = kriegsmutig, streitbar);
  • Lysikles (v. griech. lysis = Lösung, Auflösung, Trennung, Aufhebung, Beseitigung, Sturz, Ende, Widerlegung, Loskommen, Erlösung, Befreiung, Rettung);
  • Euphranor (v. griech. euphrainesthai = sich erfreuen, erheitern, ergötzen);
  • Crito (v. griech. krinein = (unter)scheiden, sichten, (aus)sondern, trennen, ordnen, auslesen, auswählen, aussuchen, (be)urteilen, richten, schlichten, anklagen, verhören, verurteilen, verdammen).

Erster Dialog. Die Freidenker werden von dem Protestanten Crito als „Sekte“ bezeichnet (S. 13). Alciphron, der sich vom Latitudinarier (Theologe mit weitherzigen Prinzipien, vgl. die „große Weite der Gedanken“ S. 61) und Deisten zum Atheisten entwickelt hat, sagt, die Freidenker würden von der Geistlichkeit wegen ihres selbständigen Denkens verfolgt. Er lehnt die religiöse Erziehung von Kindern ab, um sie nicht mit Vorurteilen zu belasten. Er findet, daß Politiker und Priester das Volk täuschen und die Religion dazu benutzen, um selbst geehrt zu werden. Der Atheismus sei kein Frauen- und Narrenschreck, sondern eine Geheimlehre. Nur Freidenker seien „wahrhaft frei“ (S. 29).

Euphranor nennt die Freidenker „‚Kleine Philosophen'“ (S. 31; vgl. den Untertitel des „Alciphron“). Der Ausdruck kommt bei Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) vor. Ein Beispiel aus „Cato der Ältere über das Alter“, der im Gegensatz zu den kleinen Philosophen an die Unsterblichkeit der Seele glaubt:

„… hört nun nach dem Tode – es gibt da einige unbedeutende Philosophen [minuti philosophi], die das glauben – mein Bewußtsein auf, dann brauche ich aber auch nicht zu befürchten, die toten Philosophen könnten diesen meinen Irrtum belächeln“ (§ 85). Max Faltner nennt als Beispiel für diese kleinen Philosophen die Epikureer.

Wieder zurück zu Berkeleys „Alciphron“: Crito ergänzt, daß manche die Freidenker bzw. Kleinen Philosophen als Deisten bezeichnen. Ein weiterer Ausdruck für sie ist laut Alciphron „‚Esprits forts‘, die Starkgeistigen, […] da sie große Kraft und Freiheit des Geistes bezeugen“ (S. 42). Wolfgang Breidert übersetzt „Alciphron“ mit „‚Starkgeist'“ (Breidert 66).

Mit der Freiheit anderer ist es bei Alciphron nicht weit her: „Aber es würde doch Genugtuung gewähren, wenn alle Menschen gleich dächten, da Meinungsverschiedenheiten Unsicherheit einschließen“ (S. 47). Dieser Satz läßt tief blicken: Alciphron will zwar selbst frei sein, aber am liebsten alle anderen versklaven.

Dagegen ist es Euphranor um die Wahrheit zu tun, nicht um den Sieg im Rededuell. Dieser Ansicht schließt sich Alciphron eilig an und räumt sogar einen Irrtum ein: Man dürfe nicht das Glück aller über das Glück eines einzelnen stellen. „Denn in der Tat macht die individuelle Glückseligkeit jedes Menschen allein sein eigenes vollständiges Gut aus“ (S. 51).

Wer nun versucht ist, ihm zuzustimmen, wird schnell eines Besseren belehrt: „Die Glückseligkeit anderer Menschen, die nicht ein Teil der meinigen ist, ist für mich kein Gut: Ich meine ein wahres, natürliches Gut“ (S. 51). Es sei natürlich, nur nach sich selbst zu schauen. So zeigt sich Alciphron als das, was er ist: ein egoistischer Tyrann. Keine Spur von Meinungsfreiheit und Wohlwollen für andere.

Zweiter Dialog. Lysikles teilt mit, daß die Freidenker Unsterblichkeit und Vorsehung leugnen. Er will beweisen, daß Laster wie Trunksucht zwar dem einzelnen, der ihnen erliegt, schaden, doch einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Wie viele verdienen nicht an der Herstellung von Bier, Wein und Schnaps! Dasselbe gilt für das Kartenspiel, das nicht nur die Verlegenheiten eines stockenden Gesprächs umgeht, auch noch das Geld in Umlauf bringt. Euphranor widerlegt das mit der Feststellung, daß Gesunde länger leben als Kranke und deshalb mehr Umsatz machen.

Crito bringt es auf den Punkt: „Aber zu betrügen, zu huren, Verrat zu üben, sich zu betrinken, all das in gewissen Formen zu tun, ist wahre Weisheit und Eleganz des Geschmacks“ (S. 79). Mit andern Worten: Die Laster werden nicht nur gerechtfertigt, sondern euphemistisch in Tugenden umbenannt.

Lysikles zeigt den Segen dieser Art von Sprachregelung: „Zum Beispiel heißt in unserer Redeweise ein lasterhafter Mann ein ‚Mann des Vergnügens‘; ein Gauner ist einer, der ‚das Spiel ganz spielt‘, von einer Dame sagt man, daß sie ‚eine Affäre habe‘, von einem Herrn, daß er ‚galant‘ sei, von einem Schelm in geschäftlichen Dingen, daß er einer sei, der ‚die Welt kennt‘. Dadurch haben wir nichts derart wie Trunkenbolde, Wüstlinge, Huren, Betrüger oder ähnliches in der feinen Welt, die ihre Laster, ohne unangenehmen Namen ausgesetzt zu sein, genießen kann“ (S. 59).

Er argumentiert mehrfach unredlich. Nachdem Euphranor gesagt hat, daß der Umsatz bei mäßigem Essen und Trinken auf Dauer höher ist als bei Schlemmerei und Trunksucht, da Gesunde länger leben, erwidert Lysikles: „Ich werde niemals zugeben, daß Mäßigkeit der Weg ist, das Trinken zu fördern“ (S. 62). Er verdreht also das Argument des Euphranor, der gesagt hatte, Mäßigkeit sei der Weg, den Umlauf des Gelds zu fördern. Als Lysikles nichts mehr zu sagen weiß, pocht er auf die Autorität eines Beweises, den er gar nicht erbracht hat: „Was ich bewiesen habe, habe ich klar bewiesen, und es bedarf keiner weiteren Worte darüber“ (S. 63).

Crito bringt ein krasses Beispiel eines volkswirtschaftlichen „Wohltäters“: Der Kleine Philosoph Magirus brachte einen Verwandten um, um ihn früher zu beerben und das Geld zu verschleudern. Doch Richter und Geschworene zeigten keine „Einsicht“ und ließen ihn aufhängen.

Lysikles und Crito streiten über die Reformation. Lysikles hält den Protestantismus für prüder und unangenehmer als den Katholizismus, Crito gesteht ihm zu, daß die Reformation böse „Menschen aus einer Dunkelheit, die sie in Schrecken hielt“, befreit hat. Das sei ihre „schlimmste Wirkung“ gewesen (S. 71).

Euphranor kippt die Verherrlichung des Lasters durch Lysikles mit der Frage, ob es ihm tatsächlich um das Allgemeinwohl gehe. Erst jetzt rückt Lysikles mit der Wahrheit heraus: Tatsächlich ist es ihm um seine privaten Interessen zu tun. Er verfolgt also unter dem Deckmantel des Allgemeinwohls egoistische Ziele. Doch auch das stellt er als etwas Gutes hin, obwohl es das nicht ist: „Wir bringen die Menschen zum Genuß der Welt, machen sie […] furchtlos und rücksichtslos gegen Gott und Menschen“ (S. 78).

Crito unterscheidet nasse und trockene Kleine Philosophen: Die Nassen sind die Hurenböcke, die Trockenen die Kuppler und Voyeure. Er hält sie allesamt für selbstmordgefährdet. Sein Pfarrer halte sie allesamt für „Narren oder Feiglinge“ (S. 89). Euphranor ergänzt mit Sokrates, daß die Ignoranz Wüstlinge produziert. Crito ergänzt: Fast alle Freidenker trinken, anstatt daß sie gute Bücher lesen. Nichts sei ihnen heilig. Die Freidenkerei sei wie eine Seuche, die die Gesellschaft bis zum Zerfall auszehre.

Die Prinzipien der Freidenker faßt er so zusammen:

  • Sie leugnen Gott und Vorsehung;
  • sie halten den Menschen für ein Tier und eine schuldunfähige Maschine, die nur ihren egoistischen Interessen frönt;
  • sie erklären Gewissensbisse zu Vorurteilen und Irrtümern bei der Erziehung;
  • sie diffamieren die Religion als Trick des Staats;
  • sie behaupten, Laster brächten der Allgemeinheit Segen;
  • sie erklären die Seele für körperlich und sterblich;
  • sie halten ihren Wahnsinn durch sophistische Gründe aufrecht;
  • sie geben vor, die Freiheit zu beschützen und kämpfen „ganz ernsthaft für das Freidenken“ (S. 108).

Lysicles ergänzt: Freidenker wechseln die Religion wie die Kleider, um ungestört von der Regierung ihrem Vergnügen nachgehen zu können.

Dritter Dialog. Alciphron sagt, daß die Freidenker sich nicht an Prinzipien halten und sich widersprechen. Dadurch seien sie „am schwersten zu widerlegen“ (S. 113). Er hätte sagen müssen: Dadurch sind sie unwiderlegbar. Und: Dadurch schließen sie sich aus der Gemeinschaft aller Vernünftigen aus.

Euphranor äfft Sokrates nach und erweist sich als arrogante, überhebliche Nervensäge, die sophistisch leeres Stroh drischt. Themen sind Ehre, Schönheit und Moral. Lysikles wäscht ihm den Kopf und sagt, die Gesprächspartner hätten nur „leeres Gerede und Geschwätz“ produziert (S. 137).

Interessanterweise stehen in diesem Dialog hinsichtlich der Gesprächsführung Alciphron und Lysikles besser da als Euphranor und Crito.

Der vierte Dialog handelt von Gott und der Seele. Alciphron lehnt den ontologischen und kosmologischen Gottesbeweis ab. Er verwirft auch Autoritäten und das utilitaristische Argument. Denn daß die Gottesvorstellung nützlich sei, beweise nicht, daß Gott existiere. Er hält die Religion insgesamt für ein Vorurteil, das man daran erkenne, daß jemand etwas grundlos glaube.

Trotzdem führt ihn Euphranor mit einer scheinheiligen Argumentation auf’s religiöse Glatteis. Sein Betrug ist offensichtlich: Er behauptet, daß er nicht Alciphron sehe, „sondern nur solche sichtbaren Anzeichen und Zeichen, die das Dasein jenes unsichtbaren, denkenden Prinzips oder jener Seele suggerieren und es schließen lassen. Geradeso scheint es mir, daß ich, obgleich ich mit meinen fleischlichen Augen den unsichtbaren Gott nicht schauen kann, doch in der gleichen Weise im strengsten Sinne solche Anzeichen und Zeichen, solches Wirken und Geschehen erblicke und wahrnehme, wie es den Glauben an einen unsichtbaren Gott erzeugt, auf ihn hinweist und ihn beweist – ebenso sicher und mit wenigstens der gleichen Evidenz wie irgendein anderes Zeichen, das durch die Sinne wahrgenommen wird, mir den Glauben an die Existenz einer Seele, eines Geistes oder eines denkenden Prinzips einflößt“ (S. 158).

Vordergründig sagt er: So wie er auf die Seele von Alciphron schließen kann, wenn er ihn sieht, so kann er auf Gott schließen, wenn er in die Welt blickt. Seine Lumperei besteht in der Suggestion, daß die Existenz Gottes so gewiß sei wie die Existenz von Alciphron, obwohl er Alciphron sehen kann, Gott aber nicht.

Genauso versteht es dieser, nachdem Euphranor noch darauf hingewiesen hat, wie Gott zu Menschen gesprochen habe: „Aber ich habe nie daran gedacht, daß behauptet werden könnte, wir sähen Gott mit unseren fleischlichen Augen geradeso deutlich wie irgend ein menschliches Wesen, und daß er täglich mit einer deutlichen und klaren Sprache zu unseren Sinnen spräche“ (S. 173).

Eigentlich findet Alciphron die ganze Diskussion langweilig, trocken und kleinlich und will Euphranors „Spitzfindigkeiten ein Ende […] machen“ (S. 170). Aber er erliegt seinen Schlüssen und stimmt ihm schließlich sogar zu, obwohl er spürt, daß etwas nicht stimmt. Lysicles ist entsetzt und meint, Alciphron sei „durch Worte genasführt und durch Sophistereien verwirrt worden“ (S. 177).

Crito schimpft auf das Kommunikationsverhalten der Freidenker: Beim Unterrichten locken sie die Schüler mit Denken und Logik, aber wenn sie „in anderer Gesellschaft“ sind und sich verhaspeln, lachen sie über die Logik und spielen den Spötter, „um die Trockenheit einer regelrechten und genauen Untersuchung zu vermeiden“ (S. 172).

Er hält Gott für den „einen Schöpfer“ und „weisen Lenker, der tatsächlich und nahe gegenwärtig ist, auf alle unsere Interessen und Regungen acht hat, unser Verhalten überwacht und sich unser ganzes Leben lang um unsere kleinsten Handlungen und Absichten kümmert, uns unaufhörlich auf die sichtbarste und wahrnehmbarste Weise belehrend, warnend, leitend“ (S. 173f).

Im fünften Dialog geht es um den Nutzen des Christentums. Crito meint, Platon, Cicero und Seneca seien keine Kleinen Philosophen gewesen, sondern hätten nach christlichen Prinzipien gehandelt. Er charakterisiert das Christentum als „Liebe zu Gott und den Menschen“ (S. 213). Die Kleinen Philosophen seien Feinde des Christentums.

Alciphron wiederholt, daß es unter den Freidenkern auch tugendhafte Menschen gebe. Crito denkt, die Deisten besäßen „wenig Religion“ (S. 234). Alciphron gibt zu, daß einige Freidenker die Duldung der Christen erlauben. Er verwirft die Aussagen des Crito nicht gänzlich.

Es entsteht bei diesem Gespräch der Gesamteindruck, daß sich die Gesprächspartner etwas besser miteinander vertragen. Dion hört nach wie vor nur zu.

Zu Beginn des sechsten Dialogs drückt Dion seine Hoffnung aus, daß die Streithähne sich vollends vertragen würden. Er faßt den bisherigen Gesprächsverlauf zusammen:

„Denn erstens […] sind die Prinzipien und Anschauungen derer, die Freidenker oder Kleine Philosophen genannt werden, ziemlich deutlich auseinandergesetzt worden. Es wurde auch dem zugestimmt, daß das Laster nicht den Segen für das Volk in sich schließt, den manche Menschen von ihm vermuten. Daß die Tugend für die Menschheit höchst nützlich sei; aber daß die Schönheit der Tugend allein nicht genüge, die Menschen zu ihrer Betätigung aufzufordern. Daß deshalb der Glaube an einen Gott und an eine Vorsehung im Staate gefördert und in guter Gesellschaft als eine nützliche Vorstellung geduldet werden sollte. Weiter ist bewiesen worden, daß es einen Gott gibt; daß es vernünftig sei, ihn anzubeten, und daß die Verehrung, der Glaube und die Prinzipien, die durch die christliche Religion vorgeschrieben sind, einen nützlichen Zweck haben“ (S. 256).

Im folgenden werden die Probleme der Offenbarung, der Überlieferung, des biblischen Kanons, der Übersetzungen, der göttlichen Inspiration, der christlichen Glaubensinhalte (z.B. Inkarnation, Wunder), der heidnischen Kritik am Christentum, der Ketzerei u.a. durchgesprochen.

Das Ergebnis: Das Christentum hält einer Überprüfung durch die Vernunft stand (Crito). Die Ansichten der Freidenker beruhen auf Vorurteilen (Euphranor). Alle Ungläubigen sind bigott. Bigotte Menschen sind herrschsüchtig, stellen grundlos Behauptungen auf, betonen Unwichtiges, beurteilen andere vorschnell, werden gegenüber Kritikern ungeduldig, sind mit der Wissenschaft verfeindet und stützen sich „auf schlechte Autoritäten“. Ob die Freidenker dazu gehören oder nicht, kann jeder selbständige Denker überprüfen (Crito, S. 336).

Im siebten Dialog versucht Berkeley zu zeigen, daß es keinen Widerspruch zwischen Christentum und Erkenntnistheorie bzw. Logik gibt. Euphranor richtet bei Alciphron allerdings nichts aus, der seine Zugeständnisse bereut. Er bleibt, wie er ist, spricht sich gegen „falsche Bescheidenheit“ aus (S. 386) und zieht sich schließlich darauf zurück, daß es keine sichere Erkenntnis, sondern nur verschiedene Meinungen gebe. Seine Ungreifbarkeit gibt er als Tiefsinn aus.

Crito definiert den Glauben als „eine wirksame Überzeugung, die stets eine rechte Handlung, Neigung oder Gefühl in denen hervorruft, die sie haben“ (S. 365). Ansonsten übt er harsche Kritik an den Freidenkern. Sie würden Schlüsse aus falschen Prämissen ziehen und „Sicherheit mit Notwendigkeit“ verwechseln (S. 384). Sie seien sonderbar und leichtgläubig.

Lysicles hält Critos Logik für Sophisterei, Crito wirft ihm vor, er halte seine „Sophismen für Beweise“ (S. 387).

Crito übt harte Kritik an Spinoza, den er als großen „Führer der modernen Ungläubigen“ bezeichnet. Er untergrabe die Religion „unter dem Vorwande, sie zu verteidigen und sie zu erklären“. Dion nimmt Spinoza demgegenüber in Schutz: Ihm sei er „als ein scharfer und folgerichtiger Denker dargestellt worden.“ Crito fährt fort: Spinozas Beweisführung sei unredlich, da er die Begriffe „auf eigene Weise“ definiere. Das ermögliche es ihm, zweideutige Schlüsse zu ziehen (S. 393).

Diesen Vorwurf will Crito mit einem konkreten Beispiel belegen: Spinoza brauche nur Macht zu Recht zu erklären, und schon sei aus der Willkür Recht geworden. Spinoza tut das nicht, und Crito behauptet das auch nicht, aber er suggeriert es. Außerdem zitiert er einen Satz aus Spinozas „Politischen Traktat“ (Kap. 2, § 4). Schlägt man die Stelle nach, sieht man, daß Crito Spinoza etwas unterstellt, indem er einen Satz aus dem Zusammenhang reißt und damit einen Beleg suggeriert, der keiner ist. Bei Spinoza steht lediglich, daß Bürger die Gesetze nicht auf eigene Faust interpretieren dürfen. Der Rest ist Crito pur.

Euphranor entbindet die Freidenker vom Vorwurf des Betrugs. Er stellt fest, daß er sich zwar amüsiert, aber nichts gelernt hat. Kein Wunder: Kleine Philosophen verwechseln alles mögliche. Abstraktlinge analysieren das Banalste „nach willkürlichen und dunklen Prinzipien“, leugnen das, was sie analysiert haben, und machen den Menschen zu einer Marionette. „Und das heißt dann Philosophie und Freidenken. Vielleicht ist es das auch. Aber es scheint durchaus keine richtige oder natürliche Art des Denkens zu sein.“ Stattdessen plädiert Euphranor für die Induktion und verwirft die Deduktion (S. 383).

Dion zieht das Resümee: Man kann Skeptiker und Ungläubige „heutzutage nicht durch die Vernunft […] heilen“ (S. 395).

4. Kritik und Würdigung

Berkeleys „Alciphron“ unterscheidet sich von seinen übrigen Werken dadurch, daß die Erkenntnistheorie darin nur eine kleine Rolle spielt. Im Vordergrund stehen Polemik und Missionierung. Man kann inhaltlich nichts mitnehmen. Es kommt nichts dabei heraus. Die Lektüre lohnt sich also nicht.

Christian Wannenmacher urteilt: „Es scheint, als habe Hume aus den gleichen Argumentationsgängen die spiegelverkehrten Schlußfolgerungen gezogen, während Wittgenstein besonders von der sprachphilosophischen Rechtfertigung der Religion fasziniert war“ (LphW 11).

Harald Landry schreibt: „Der Alciphron bringt […] philosophisch nichts Neues“, weil Berkeley ihn „rund zwei Jahrzehnte nach jenen Jugendwerken (Principles of Human Knowledge und Three Dialogues between Hylas and Philonous) verfaßt hat, „in denen er seine philosophische Doktrin bereits endgültig formuliert hatte“ (KNLL 2/569).

© Gunthard Rudolf Heller, 2017

Literaturverzeichnis

BERKELEY, George: Alciphron oder der Kleine Philosoph, übersetzt von Luise und Friedrich Raab, mit einer Einleitung versehen und herausgegeben von Wolfgang Breidert, Hamburg 21996

BREIDERT, Wolfgang: George Berkeley: 1685-1753, Basel/Boston/Berlin 1989

MARCUS TULLIUS CICERO: Cato maior de senectute – Cato der Ältere über das Alter, mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen herausgegeben von Max Faltner, München 1982

ENZYKLOPÄDIE PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFTSTHEORIE, hg. v. Jürgen Mittelstraß, 4 Bände, Stuttgart/Weimar 2004 (EPhW)

KINDLERS NEUES LITERATURLEXIKON, hg. v. Walter Jens, 21 Bände, München 1996 (KNLL)

LEXIKON DER PHILOSOPHISCHEN WERKE, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin, Stuttgart 1988 (LphW)

MENGE-GÜTHLING: Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch-Deutsch, Berlin/München/Wien/Zürich 261987

MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, 25 Bände, Mannheim/Wien/Zürich 91980/81

SPINOZA, Baruch: Politischer Traktat, aus dem Lateinischen übersetzt von Gerhard Güpner, Leipzig 1988

Gunthard Heller